Gunnar Hindrichs im Merkur

Gunnar Hindrichs, geb. 1971, Professor für Philosophie an der Universität Basel. 2017 erschien Philosophie der Revolution; 2020 Zur kritischen Theorie.
9 Artikel von Gunnar Hindrichs

Philosophiekolumne

Glauben und Wissen I Seit etwa einem Vierteljahrhundert hat sich das Verhältnis der liberalen Gesellschaften zum religiösen Glauben verändert. Eine neue Variante dessen macht sich geltend, was Richard Rorty einen »Posty« nannte:1 Nach der »posthistorischen«, der »postindustriellen«, der »postmaterialistischen«, der »postmodernen«, der »postdemokratischen«, der »postnationalen« und der »postpolitischen« Gesellschaft ist die »postsäkulare« Gesellschaft ans Licht getreten. »Postsäkular« besagt: Die Herrschaft

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Philosophiekolumne

Der Weltbegriff der Philosophie I Vor zweihundertfünfzig Jahren wurde Hegel geboren. Die Auseinandersetzung mit seinem Denken war nie nur eine Angelegenheit der Philosophiegeschichtsschreibung. Stets führte sie auf die Frage, wie Vernunft verfasst sei und in welchem Verhältnis sie zur Wirklichkeit stehe. Hegels Satz »Das Vernünftige ist das Wirkliche, und das Wirkliche ist das Vernünftige« erhebt den Anspruch, dass Vernunft ohne Wirklichkeit keine Vernunft und dass Wirklichkeit ohne Vernunft keine

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Philosophiekolumne

Die enggeführte Krise I Die Krisenreihe der letzten Jahrzehnte wird manchmal als Ausdruck einer multiplen Krise begriffen. Diese Auffassung hat den Vorteil, den Gesamtzusammenhang nicht aus dem Auge zu verlieren: Das Ganze ist krisenhaft. Aber sie vermag den Eigensinn der jeweiligen Krise nicht angemessen zu erfassen: Die Einzelkrisen bilden nur das Gekräusel einer einzigen Welle. Vielleicht lässt sich die Situation daher auch anders begreifen. Aus der Musik kennen wir die Engführung eines Themas. Hier setzt

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Philosophiekolumne

Eindeutigkeit I In unseren Tagen sei Eindeutigkeit eingetreten. So lautet die zufriedene Feststellung – oder die Klage. Denn so sehr Eindeutigkeit für Klarheit, Haltung, Entschiedenheit steht, so sehr droht sie mit Blickverengung, erzwungener Reinheit, Einseitigkeit einherzugehen. Ja, weil Eindeutigkeit das Mehrdeutige ausräumt, scheint sie eine Präzision vorzunehmen, die der Mannigfaltigkeit dessen, was ist, die Luft abschnürt. Bleiben wir für einen Moment bei dem Begriff der Präzision. Seine Wurzel ist

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Philosophiekolumne

Tragischer Liberalismus I 1995 legte François Furet einen Kassensturz seines Jahrhunderts vor. Sein Titel: Le passé d’une illusion. Die Übersetzung des Piper-Verlags lautete: Das Ende der Illusion. Aber das Original spielt auf Freuds Klassiker Die Zukunft einer Illusion an. Wir übersetzen also besser: Die Vergangenheit einer Illusion. In diesem Kassensturz geht es um die kommunistische Idee. Sie hat das 20. Jahrhundert entscheidend geprägt. Doch für Furet handelten die Menschen, die diese Idee

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Philosophiekolumne

Kriegszivilgesellschaft I Eigentlich sind das Zivile und der Krieg Gegensätze. Der Zivilist ist kein Soldat. Jene Formel, die nach zwei Weltkriegen den deutschen Militarismus überwinden wollte, die Formel vom Bürger in Uniform, zielte auf die Zivilisierung des Militärs, auf dessen Bindung an Gesetz und Grundrechte. Nicht hingegen zielte sie auf die Militarisierung des Bürgers. Das hieß: Das Militär sollte vom Zweck des Krieges weggerissen und unter den Zweck des bürgerlichen Friedens gestellt werden. Wie auch

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Philosophiekolumne

Sozialneid und Melancholie I Nach der Tugend leben wir schon lange nicht mehr. So lautete ja einmal die Diagnose, die Alasdair MacIntyre der liberalen Gesellschaft stellte: Sie sei eine Gesellschaft after virtue.1 Sachlich betrachtet reflektierte diese Einschätzung darauf, dass die liberale Gesellschaft Normen folgt, die vom Sein der Menschen absehen. In der liberalen Gesellschaft wird Gerechtigkeit zur Fairness, bei der alle die Plätze der anderen einnehmen können müssen: ungebunden durch ihr Sein; wird

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Philosophiekolumne

Bedingungen für Krieg I Mit dem Unheil der Ukraine hat die »Siegkrise des Westens«1 einen neuen Stand erreicht. Zwar ist der dortige Krieg nicht der erste, der Europa nach der Niederlage der sozialistischen Staaten heimsucht. Aber anders als dem Jugoslawienkrieg verleiht man ihm Weltgeltung: Eine Zeitenwende sei mit ihm eingetreten.2 Hiervor zucken im Globalen Süden die meisten mit den Achseln. Was sie betrifft, haben sie Recht. Seit jeher hat Europa sich und die Welt mit Kriegen überzogen, und es muss sich

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