Heft 854, Juli 2020

Philosophiekolumne

Der Weltbegriff der Philosophie von Gunnar Hindrichs

Der Weltbegriff der Philosophie

I

Vor zweihundertfünfzig Jahren wurde Hegel geboren. Die Auseinandersetzung mit seinem Denken war nie nur eine Angelegenheit der Philosophiegeschichtsschreibung. Stets führte sie auf die Frage, wie Vernunft verfasst sei und in welchem Verhältnis sie zur Wirklichkeit stehe. Hegels Satz »Das Vernünftige ist das Wirkliche, und das Wirkliche ist das Vernünftige« erhebt den Anspruch, dass Vernunft ohne Wirklichkeit keine Vernunft und dass Wirklichkeit ohne Vernunft keine Wirklichkeit sei. Der Satz sagt: Es mag in der Welt viel Unvernünftiges geben, wirklich ist es darum noch nicht; und es mag in unseren Köpfen viel Unverwirklichtes entworfen werden, vernünftig ist es darum noch nicht.

An diesem Anspruch hat sich das moderne Denken lange Zeit gerieben: von Feuerbach und Marx über Kierkegaard und Nietzsche über den Neukantianismus und die Phänomenologie bis zum Existentialismus und der Kritischen Theorie. Selbst die analytische Philosophie ist ohne Hegel nicht denkbar. Denn Russell und Moore, von denen die philosophische Analysis wesentliche Anstöße erhielt, bildeten ihr Denken im Abstoß vom British Hegelianism aus. So lässt sich sagen, die Moderne habe sich insgesamt an Hegel abgearbeitet.

Heute sieht es anders aus. Wo Hegels Denken zum Thema wird, da bleibt es in den Händen der Fachphilosophinnen und Philosophiehistoriker. Fast sehnt man sich nach den erbitterten Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Kantianismen und Hegelianismen, zwischen den Rechtshegelianern und Linkshegelianern, zwischen der Dialektik und dem Positivismus, zwischen Spekulation und Begriffsanalyse zurück. In ihnen war immerhin klar, dass Hegels Denken ein Skandal ist. Der Skandal aber besteht in dem Weltbegriff der Philosophie.

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