Philosophiekolumne
Der Weltbegriff der Philosophie von Gunnar HindrichsDer Weltbegriff der Philosophie
I
Vor zweihundertfünfzig Jahren wurde Hegel geboren. Die Auseinandersetzung mit seinem Denken war nie nur eine Angelegenheit der Philosophiegeschichtsschreibung. Stets führte sie auf die Frage, wie Vernunft verfasst sei und in welchem Verhältnis sie zur Wirklichkeit stehe. Hegels Satz »Das Vernünftige ist das Wirkliche, und das Wirkliche ist das Vernünftige« erhebt den Anspruch, dass Vernunft ohne Wirklichkeit keine Vernunft und dass Wirklichkeit ohne Vernunft keine Wirklichkeit sei. Der Satz sagt: Es mag in der Welt viel Unvernünftiges geben, wirklich ist es darum noch nicht; und es mag in unseren Köpfen viel Unverwirklichtes entworfen werden, vernünftig ist es darum noch nicht.
An diesem Anspruch hat sich das moderne Denken lange Zeit gerieben: von Feuerbach und Marx über Kierkegaard und Nietzsche über den Neukantianismus und die Phänomenologie bis zum Existentialismus und der Kritischen Theorie. Selbst die analytische Philosophie ist ohne Hegel nicht denkbar. Denn Russell und Moore, von denen die philosophische Analysis wesentliche Anstöße erhielt, bildeten ihr Denken im Abstoß vom British Hegelianism aus. So lässt sich sagen, die Moderne habe sich insgesamt an Hegel abgearbeitet.
Heute sieht es anders aus. Wo Hegels Denken zum Thema wird, da bleibt es in den Händen der Fachphilosophinnen und Philosophiehistoriker. Fast sehnt man sich nach den erbitterten Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Kantianismen und Hegelianismen, zwischen den Rechtshegelianern und Linkshegelianern, zwischen der Dialektik und dem Positivismus, zwischen Spekulation und Begriffsanalyse zurück. In ihnen war immerhin klar, dass Hegels Denken ein Skandal ist. Der Skandal aber besteht in dem Weltbegriff der Philosophie.
II
Das Konzept »Weltbegriff der Philosophie« stammt von Kant. Hegel ist als Kantianer zu begreifen, oder man begreift ihn überhaupt nicht. Auch seine Engführung von Vernunft und Wirklichkeit bildet nichts anderes als den Versuch, Kants Gedanken eines Weltbegriffs der Philosophie auszuformulieren.
Der Gedanke findet sich ganz am Ende der Kritik der reinen Vernunft, in der nur wenig gelesenen Transzendentalen Methodenlehre und ihrem Abschnitt über die Architektonik der reinen Vernunft. Hier unterscheidet Kant zwei Philosophiebegriffe: den Schulbegriff der Philosophie und ihren Weltbegriff.1 Der Schulbegriff der Philosophie ist der Begriff »von einem System der Erkenntnis, die nur als Wissenschaft gesucht wird, ohne etwas mehr als die systematische Einheit […] zum Zweck zu haben«. Der Weltbegriff der Philosophie hingegen begreift sie als »die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft«.
Demnach zielt der Weltbegriff der Philosophie auf eine umfassendere Einheit als ihr Schulbegriff. Dessen Einheit ist die Einheit der Wissenschaft. Sie besteht in der methodischen Ordnung unserer Erkenntnis und deren Bedingungen. Eine solche Einheit darf nicht aufgegeben oder gar verachtet werden. Aber sie reicht nicht aus. Denn sie bleibt intern: in der Ordnung des wissenschaftlichen Systems. Entsprechend stellt ihre vollständige Systematik das menschliche Wissen nur unvollständig dar. Sie vermag kein Wissen über die Beziehung der Wissenschaft zu den »wesentlichen Zwecken der menschlichen Vernunft« zu formulieren. Anders gesagt: Sie vermag kein Wissen über das Wissen zu formulieren. Um es zu verfassen, ist ein anderer Begriff nötig als der Begriff der wissenschaftlichen Einheit von Philosophie.
Dieser Begriff ist der Weltbegriff der Philosophie. Er bezieht deren wissenschaftliche Einheit auf die Verfassung der menschlichen Vernunft insgesamt. Die Beziehung erfolgt weiterhin wissenschaftlich, das heißt in methodischer Ordnung, ausweisbar und nachprüfbar. Indem jedoch die Einheit der Wissenschaft auch insofern auf die menschliche Vernunft bezogen wird, als diese sich nicht der Wissenschaft widmet, überschreitet die Philosophie den Bezirk der Wissenschaft. Sie betrifft nun das, »was jedermann notwendig interessiert« (Kant). Erst unter diesem Gesichtspunkt wird der Anspruch auf Vollständigkeit des Wissens erfasst. Man weiß das, was die wissenschaftliche Einheit des Wissens zu formulieren vermag, und man weiß zugleich deren Bezug auf das außerwissenschaftliche vernünftige Menschsein, und zwar ebenfalls auf wissenschaftlich nachvollziehbare Weise. So wird – wenn’s gelingt – die Schulphilosophie zur Weltweisheit.
Was jedermann notwendig interessiert – das heißt nicht: was jedermann faktisch interessiert. Die meisten Menschen bleiben faktisch gegenüber der Philosophie uninteressiert, und umgekehrt ist das meiste, was uns faktisch interessiert, für die Philosophie bedeutungslos. Der Weltbegriff der Philosophie bezeichnet nicht deren Indienstnahme für die Schemata und Abrichtungen unserer Lebenswelt. Vielmehr bezeichnet er die Artikulation eines notwendigen Interesses aller Menschen als das Ziel des philosophischen Denkens. Was aber ist das Interesse, das alle Menschen notwendig haben?
Wenn wir von sämtlichen kontingenten Gegebenheiten absehen, offenbar das: ihre Selbstbestimmung. Menschen bestimmen sich in ihrem Leben selbst, ob sie es wissen oder nicht. So kontingent die Gegebenheiten dieses Lebens auch sind, so notwendig bleibt die menschliche Selbstbestimmung in ihnen. Philosophie, die die Grenzen der (Hoch)Schulwissenschaft überschreitet, verbindet die methodische Einheit ihrer Wissenschaft mit diesem Interesse des Menschseins an seiner Selbstbestimmung und artikuliert es. Entsprechend hat der Weltbegriff der Philosophie »die ganze Bestimmung des Menschen« (Kant) zu seinem Ziel.
In der Wendung »Bestimmung des Menschen« erhebt Kant eine Formel, mit der der spätere Konsistorialrat Johann Joachim Spalding zur Mitte des 18. Jahrhunderts die deutsche Aufklärung geprägt hatte, zum Begriff der Philosophie selbst. Dieser Begriff lautet jetzt auf den Selbstüberstieg der Schulphilosophie in die Selbstbestimmung des Menschen. Und weil die Selbstbestimmung des Menschen dessen Freiheit bedeutet, lautet er auf den Selbstüberstieg der Schulphilosophie in die menschliche Freiheit.
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