Heft 866, Juli 2021

Philosophiekolumne

Eindeutigkeit von Gunnar Hindrichs

Eindeutigkeit

I

In unseren Tagen sei Eindeutigkeit eingetreten. So lautet die zufriedene Feststellung – oder die Klage. Denn so sehr Eindeutigkeit für Klarheit, Haltung, Entschiedenheit steht, so sehr droht sie mit Blickverengung, erzwungener Reinheit, Einseitigkeit einherzugehen. Ja, weil Eindeutigkeit das Mehrdeutige ausräumt, scheint sie eine Präzision vorzunehmen, die der Mannigfaltigkeit dessen, was ist, die Luft abschnürt.

Bleiben wir für einen Moment bei dem Begriff der Präzision. Seine Wurzel ist das lateinische praecidere. Alicui linguam praecidere heißt: jemandem das Wort abschneiden; manum praecidere: die Hand abschneiden. Das passt gut zur Eindeutigkeit. Ihre Präzision schneidet das Mehrdeutige ab. Entsprechend ähnelt sie dem, was Wolfgang Janke die praecisio mundi nannte: die »Abschneidung der Welt«.1 Im Hintergrund von Jankes Formel steht Heideggers Mythos von der Seinsvergessenheit der Neuzeit. Der Mythos erzählt: Neuzeitlich bedeutet das Sein des Seienden dessen Vorgestelltsein und Gemachtsein. Vorgestelltsein und Gemachtsein heißt: Die Welt wird in das »Gestell« und »Gemächte« des Subjekts gepresst, das sich das Seiende vorstellt und macht und darum dessen Zugrundeliegendes (subiectum) bildet. Vollzogen wird die Einpressung von der Technik, in deren Zusammenhang das Subjekt erst seinen Rang erhält. Sie stellt das Sein als Vorgestellt- und Gemachtsein sicher und vergisst es darüber.2 Eben diese Sicherstellung des Seins formuliert Janke als präzisierte Welt aus. Die Abschneidung der Welt ist der konkrete Vollzug, das Sein zu vergessen: Vielfältige Möglichkeiten zu sein werden von ihr ausgeschlossen.

Für uns ist der Heidegger-Hintergrund unwichtig, ebenso wie Jankes eigener Traum einer Wiederverzauberung der Welt, der seiner Kritik ihrer Präzision folgt. Sie sind letztlich Gestalten des unglücklichen Bewusstseins. Aber die Formel von der präzisierten Welt trifft gut, was mit der Eindeutigkeit einherzugehen scheint: die Abschneidung des Mehrdeutigen unserer Welt. So könnte auch die neue Eindeutigkeit zur praecisio mundi gehören. Und darum nehmen mit ihrer Diagnose auch Beschwörungen der Mehrdeutigkeit zu.

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