Philosophiekolumne
Keine Theologie der Krise von Gunnar HindrichsKeine Theologie der Krise
I
In der enggeführten Krise melden sich viele Stimmen. Sie stacheln auf, sie beschwichtigen, sie eröffnen Möglichkeiten, sie verschließen sie. Die Theologie ist unter ihnen nicht zu vernehmen. Zwar redet sie mit, aber Akzente setzt sie keine. Offenbar hat sie nichts Belangvolles zu sagen.
Ihr Problem, könnten wir mit den Schultern zucken. Aber tatsächlich ist die Sache verzwickter. Denn der Begriff »Krise« besitzt einen theologischen Kern. Schauen wir in die Geschichtlichen Grundbegriffe. In diesem Lieblingswerk der bundesrepublikanischen Geisteswissenschaften hat einer ihrer Lieblingsautoren den Eintrag »Krise« verfasst. Er beginnt: »›Krisis‹ hatte in der griechischen Antike relativ klar abgegrenzte Bedeutungen im juristischen, theologischen und medizinischen Bereich.«1 Beim zweiten Adjektiv merken wir auf. Ihm zufolge zieht die Theologie den Bedeutungskreis des Krisenbegriffs mit. Und tatsächlich legt der Artikel dar, wie der juristische Krisenbegriff der Griechen von der Septuaginta übernommen wurde, um dort apokalyptische Dimensionen zu erhalten. Krínein heißt ja »unterscheiden«, »entscheiden«, »urteilen«; krísis ist der Vorgang dieses entscheidenden Urteils. So ist die juristische Sphäre eröffnet. Theologisch wiederum ist das alles entscheidende Urteil das Urteil des Jüngsten Gerichts. Es unterscheidet zum Weltende Sünder und Gerechte. In seiner Naherwartung lebte die urchristliche Gemeinde und führte das kosmische Ereignis mit dem einzelnen Gewissen eng. So verknüpfte sich die juristische mit der theologischen Bedeutung. Und beide ließen sich mit dem medizinischen Bedeutungskreis verknüpfen. Auch er stammt aus dem griechischen Denken: Eine medizinische krísis bedeutet die Entscheidung über Gesundung oder Tod. Heilung und Heil aber stehen nahe beieinander. Darum konnte sich auch die Frage nach Leben oder Tod mit dem Jüngsten Gericht zusammenschließen.
Auf diese Weise erhielt der Krisenbegriff eine dreifache Schichtung. Das Urteil über Richtig und Falsch, erstens, sowie die Entscheidung über Leben und Tod, zweitens, fanden, drittens, in der Apokalypse und deren Verinnerlichung ihren Letztzusammenhang. Entsprechend ist der Krisenbegriff bereits in seinem Kern theologisch eingefärbt. Kein Wunder, dass auch die, die nichttheologisch denken, immer wieder auf theologische Figuren stoßen, wenn sie sich mit der Krise beschäftigen: »durch die Wüste«, »Kairos«, »Gericht«. Und kein Wunder, dass sie sich fragen, was das Ursprungsdenken dieser Figuren, die Theologie selbst, zu ihren Problemen zu sagen hätte. Aber die Theologie sagt nichts. Was sie äußert, sind nur leere Worte. Denn eine Theologie der Krise, die gibt es heute nicht.
II
Das Nichtssagen der Theologie macht akut, was schon lange schwärt: Ihre Möglichkeiten reichen nicht mehr hin. Erst wurden sie zu Angeboten auf dem Markt der Meinungen; dann wurden sie zu Ramsch, der einem nachgeschmissen wurde; schließlich wurden sie zu Ladenhütern, die niemand mehr interessieren außer dem Interieur der religiösen Milieus.
Ein besonders häufiges Angebot war die Orientierung. Orientierung in unwegsamem Gelände: Das zu gewähren nahm – und nimmt – die Theologie gerne in Anspruch. So verkündete die Theologische Kammer der EKD vor sechzehn Jahren: »Christliche Theologie ist Arbeit am Orientierungswissen.« Und was ist Orientierungswissen? »Wissen, das Menschen auf der Basis ihrer handlungsorientierenden Gewissheiten Orientierung im persönlichen und sozialen Leben ermöglicht.«2 Auf der Basis handlungsorientierender Gewissheiten Orientierung im Leben ermöglichen: Das also macht die »Bedeutung der wissenschaftlichen Theologie in der Gesellschaft, Universität und Kirche« aus. Man kann es sich auf der Zunge zergehen lassen: Die Rede von Gott soll orientierendes Wissen auf der Basis orientierenden Wissens erzeugen. Wie diese Tautologie etwas Belangvolles in der Krise – oder überhaupt – beizutragen hätte, bleibt schleierhaft.
Warum spricht man so: statt in Zungen im Leerlauf? Ersichtlich ging es darum, auf einen Zug aufzuspringen, der längst abgefahren war. Das Konzept »Orientierung« stammt aus den Geisteswissenschaften der achtziger Jahre und ihren Folgen.3 Es war das Schrumpfkonzept von Wissensformen, die sich darüber klar waren, dass sie – anders als die naturwissenschaftliche Forschung – keine umfassenden Wahrheitsansprüche mehr zu stellen vermögen. Entsprechend wichen sie auf Orientierungsansprüche aus. Ihre Selbstlegitimation lautete: In einer komplexen Welt brauche es neben der Erkenntnis der Fakten auch einen Weg durch deren Vielschichtigkeit. Und im nachmetaphysischen Zeitalter könne dieser Weg von keinem Ersten mehr ausgehen und zu keinem Letzten mehr hinführen. Stattdessen müsse er sich an Orientierungspunkten ohne letztbegründeten Anspruch ausrichten. Sie zu vermitteln sei die Aufgabe der Geisteswissenschaften.
In vielen Ohren klang das plausibel. Die literarischen Topoi und Narrative, die historischen Begriffsgeschichten und Erinnerungskulturen, die philosophischen Arbeiten am Mythos und am Zufälligen – all diese geisteswissenschaftlichen Geschäfte schienen ja solche Orientierungspunkte zu bieten: durchaus diesseits der Metaphysik. Und weil die seltenen Versuche, eine zeitgenössische Metaphysik jenseits der Schulphilosophie zu entwerfen, sich ebenfalls auf »Fluchtlinien« eines »bewußten Lebens« beschränkten,4 schrumpften auch sie – unwillentlich, unwissentlich – auf Orientierungsphilosophie zusammen.
In diesem Fahrwasser schwamm die Theologie mit. Sie wollte ebenfalls helfen, sich im unübersichtlichen Gelände von Moderne, Postmoderne, Zweite Moderne einzunorden: Sie wollte ein Kompass sein. Mehr nicht. Noch heute besitzt dieses theologische Selbstverständnis Wirkung. Indessen war es schon seltsam, als es in den Achtzigern aufkam.5 Schauen wir einmal ins Johannesevangelium. Dort lesen wir, wie Jesus aus Nazareth sich als »Weg« bezeichnet. Das klingt nach einem Orientierungsangebot in einer komplexen, unübersichtlichen Welt. Aber es dient nicht der Orientierung. Jesus will ja zugleich »die Wahrheit und das Leben« sein.6 Ein Kompass hingegen ist weder die Wahrheit noch das Leben. Er ist einfach ein Instrument, sich zurechtzufinden.
Genau daran zeigt sich der Kern des Orientierungsdenkens: Das Konzept »Orientierung« gehört zur instrumentellen Vernunft. Das hat Folgen. Denn die instrumentelle Vernunft steht unter dem Prinzip der Selbsterhaltung. Entsprechend ist das Orientierungswissen ein Mittel, sich in der komplexen Welt zu erhalten. Aber wenn die Theologie sich unter das Prinzip der Selbsterhaltung stellt, dann gibt sie sich auf. Denn sie sollte sich doch – so möchten wenigstens wir Nichttheologinnen meinen – auf das Kreuz ausrichten. Und das Kreuz setzt das Prinzip der Selbsterhaltung geradewegs außer Kraft. Aus diesem Grund kann es mit der Orientierung nicht verknüpft werden, die ja der Selbsterhaltung in einer komplexen Welt dient.
So verliert eine Theologie, die Orientierung zu gewähren stolz ist, ihre Ausrichtung, die das Wort vom Kreuz ihr gibt. Wohl nicht zuletzt wegen dieser Ausrichtungslosigkeit gerinnen die Formeln der heutigen Theologie zu den Floskeln, die sie vielleicht immer schon waren. Weder die handgezimmerten Schuldogmatiken noch die kulturwissenschaftlichen Wenden, noch die Selbstbestätigungen der Gemeindemilieus entgehen dem theologischen Floskelwesen. Der Sachgrund: Sie alle drücken sich um eine Lage, die statt Orientierung ein entscheidendes Urteil verlangt – sie alle drücken sich um die Krise, deren Begriff ins Theologische verweist, ohne sich mit Orientierungswissen auffangen zu lassen. Das wird mit der Belanglosigkeit theologischer Sprache in der Krise deutlich.
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