Heft 890, Juli 2023

Philosophiekolumne

Bedingungen für Krieg von Gunnar Hindrichs

Bedingungen für Krieg

I

Mit dem Unheil der Ukraine hat die »Siegkrise des Westens«1 einen neuen Stand erreicht. Zwar ist der dortige Krieg nicht der erste, der Europa nach der Niederlage der sozialistischen Staaten heimsucht. Aber anders als dem Jugoslawienkrieg verleiht man ihm Weltgeltung: Eine Zeitenwende sei mit ihm eingetreten.2 Hiervor zucken im Globalen Süden die meisten mit den Achseln. Was sie betrifft, haben sie Recht. Seit jeher hat Europa sich und die Welt mit Kriegen überzogen, und es muss sich nicht wundern, dass die außereuropäische Teilnahme an den Parteiungen verhalten ist. Doch innerhalb Europas gilt es darüber nachzudenken, ob die Zeitenwende eine Zeitenwende ist, ob die Bruchlinien immer öfter militärische Gewalt hervorrufen, ob die westliche Siegkrise sich verschärft hat. Wie also unsere Zeit erfassen?

II

Eins ist klar: Der Krieg in der Ukraine ist kein Krieg zweier Staaten. In ihm verknoten sich größere Komplexe.

Auf den ersten Blick scheint hier das Recht gegen die Macht zu stehen. Das Recht auf Selbstbestimmung eines Staates wird von einem anderen Staat gebrochen. Um es zu schützen, kommen jenem Staat weitere Staaten zur Hilfe. So wird der Knoten geschürzt. Auf den zweiten Blick scheint hier Macht gegen Macht zu stehen. Denn besagte Selbstbestimmung bestand auch darin, Teil eines Bündnisses werden zu wollen, das gegen die Macht handelt, die dann zum Angriff überging. Und weil der angegriffene Staat sich zwar aus eigener Absicht verteidigt, das aber mit den Mitteln und auf die Kosten der Staaten jenes Bündnisses tut, erfüllt er auch deren Absichten. Sie gehen statt auf Selbstbestimmung auf Machtausweitung. So wird der Knoten noch einmal anders geschürzt. Das Ergebnis: Recht gegen Macht und Macht gegen Macht in Gemengelage.

Wir kennen diese Sicht zur Genüge. Sie ist einerseits dem Glauben an die liberale Hegemonie des Rechts, anderseits dem Blick auf die Großen Mächte mit ihren Bündnissen, Feindschaften, Interessensphären verpflichtet. Seit dem 19. Jahrhundert prägt sie in ihrer Spannung das politische Denken, bei heute verschärften Nebenfolgen durch die Kernwaffen. Seit langem aber auch hat man den Eindruck, dass sie nur die Selbstverständnisse der Beteiligten wiederholt, die da gegen- und miteinander Krieg führen. Und so sehr sie wichtige Faktoren der Außenpolitik erfasst, so wenig nimmt sie den Rahmen in den Blick, der jenen Faktoren erst ihren Sinn zuweist. Könnte die Welt nicht inzwischen anders strukturiert sein?

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors