Heft 884, Januar 2023

Philosophiekolumne

Sozialneid und Melancholie von Gunnar Hindrichs

Sozialneid und Melancholie

I

Nach der Tugend leben wir schon lange nicht mehr. So lautete ja einmal die Diagnose, die Alasdair MacIntyre der liberalen Gesellschaft stellte: Sie sei eine Gesellschaft after virtue. Sachlich betrachtet reflektierte diese Einschätzung darauf, dass die liberale Gesellschaft Normen folgt, die vom Sein der Menschen absehen. In der liberalen Gesellschaft wird Gerechtigkeit zur Fairness, bei der alle die Plätze der anderen einnehmen können müssen: ungebunden durch ihr Sein; wird Volkssouveränität zum Verfahren, bei dem alle sich über ihre aufrichtigen Ansprüche verständigen können müssen: ungebunden durch ihr Sein; wird Wirtschaften zur Wertschöpfung, bei der alle im Äquivalententausch fungieren können müssen: ungebunden durch ihr Sein. Entsprechend befinden sich Recht, Politik, Wirtschaft dann in guter Verfassung, wenn sie fair, kommunikativ und akkumulierend vorgehen: ungebunden durch das menschliche Sein.

Tugend hingegen ist ein Seins-Begriff. Sie bezeichnet das Bestsein der Menschen. Statt um geforderte Normen geht es ihr um die Verwirklichung der Möglichkeiten, ein Mensch zu sein. Das heißt: Tugend beruht auf der Potentialität des Menschseins und bringt sie zur Entfaltung. Unter ihrem Gesichtspunkt befinden sich Recht, Politik, Wirtschaft daher nur dann in guter Verfassung, wenn sie das Bestsein der Menschen entfalten.

Ersichtlich müssen liberale Gesellschaften hier zögern. Denn wenn es um das Bestsein geht, dann kommt die – immer auch historisch-kulturell gebundene – Bestimmtheit menschlicher Seinsweisen ins Spiel. Und vor ihr schreckt der Liberalismus zurück. Ihn interessiert nicht so sehr das, was Menschen in ihren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten jeweils sind. Ihn interessiert das, was sie nach gewissen Regeln sollen. Darum scheinen liberale Gesellschaften »nach der Tugend« zu leben.

Hiergegen erklang vor vierzig Jahren MacIntyres Weckruf. Er war ein politischer Ruf. Weniger ging es um Moralbegründungen, etwa den nie verstummten Streit zwischen Pflichtenethik, Nutzenethik, Tugendethik. Vielmehr bestand sein sachlicher Gehalt in der Behebung einer Leerstelle im Politischen. Und diese Leerstelle lautete eben auf das politische Bestsein der Menschen. Um sie drehte sich in Wahrheit der Streit zwischen Kommunitarismus und Liberalismus, der sich damals entzündete. Zwar wurde die für einige Zeit heiß geführte Diskussion bald langweilig und verpuffte. Doch unter der Hand kehrte die Frage nach der Tugend ins Politische zurück – und lauert dort bis heute.

Das ist ein Grund, sie ernst zu nehmen. Sie ernst zu nehmen wiederum bedeutet, das Politische von der Potentialität des Menschseins her zu lesen. Und das heißt: Ihre Antwort verlangt ein Stück Ontologie des gesellschaftlichen Seins.

II

Wenn wir uns diesem Stück Ontologie nähern, ist es ratsam, nicht zu hoch zu greifen. Zu hoch, da liegt das Bestsein. Nun korrespondiert allem Bestsein ein Schlechtsein. Der Tugend steht das Laster gegenüber. So wie jene das Menschsein in seiner Potentialität entfaltet, so bedeutet dieses seine Verkümmerung.

Angesichts dessen hat es die Ontologie des gesellschaftlichen Seins mit Formen der Verwirklichung und Formen der Verkümmerung menschlicher Potentialität zu tun, mit Formen des Könnens und des Nichtkönnens. Wie gesagt, wollen wir nicht zu hoch greifen und die Frage nach der Tugend nur indirekt angehen: über ihr Gegenteil. Hierzu betrachten wir ein politisches Laster, das sich in der Gegenwart aufdrängt – den Sozialneid.

Immer wieder wird er diskutiert. Spätestens seit Nietzsche die Idee der Gleichheit mit dem Neid in Verbindung brachte und vom Ressentiment geprägt sah, dem Giftauge der Schwachen gegen die Starken, ist der Sozialneid in die Diagnose der Moderne eingegangen. Nietzsche: »Wo die Gleichheit wirklich durchgedrungen und dauernd begründet ist, entsteht jener, im Ganzen als unmoralisch geltende Hang, der im Naturzustande kaum begreiflich wäre: der Neid« (Menschliches, Allzumenschliches). Hier haben wir den Neid statt als Individualeinfärbung als soziale Größe: in einer Gesellschaft der (formal) Gleichen.

Noch vor kurzem hat ihn Martha Nussbaum, unter dem Eindruck der Regierung Trumps, als Herrscher über ein ganzes, zerstörerisches Reich in der Politik unserer Tage gekennzeichnet. Andere hingegen verteidigen den gesellschaftlichen Neid. Er bilde ein Gefühl, das erstens normal, zweitens angesichts von Ungerechtigkeit nicht irrational und, drittens, ein notwendiger Faktor im Kampf der Niedrigen gegen die Herrschaft sei. Man müsse den sozialen Neid daher übersetzen »in eine Sprache, die wirklich hilft«. Allein in welche?

Der dritte Punkt – Neid als notwendiger Faktor im Kampf der Niedrigen gegen die Herrschaft – verdient etwas Aufmerksamkeit. Er schließt an ein Konzept an, das der nordamerikanische Politikwissenschaftler Jeffrey Edward Green vor einigen Jahren vorgelegt hat: die plebejische Demokratie. Diesem Konzept geht es darum, dass die Bürgerinnen zweiter Klasse – Plebejerinnen – durch Empörung, unzivilisierte Rede, Krawall und eben auch Neid es schafften, ihre Gleichbehandlung gegenüber den Bürgerinnen erster Klasse – Patrizierinnen – voranzutreiben. Hierfür müssten sie endlich »lernen, wie man nicht gut sei« (»learning how not to be good«). Denn gute Staatsbürger, das sind die Patrizier. Nicht gut zu sein wäre entsprechend die Auflehnung der Plebejer gegen ihre Zweitklassigkeit. Ein vernünftiger Neid – das ist ein Neid, der Gründe für sich anzuführen vermag – könnte das anspornen. Entsprechend bildet er das Herz eines »plebejischen Progressivismus«. Das wurde kurz vor Trumps Regierungsantritt geschrieben.

Wie der Name sagt, steht im Hintergrund des Konzepts der Streit zwischen den Plebejern und Patriziern der römischen Republik. Seit Sallust und Livius wird die frühe Republik von den Kämpfen der beiden Stände her verstanden. In der Neuzeit deutete Machiavelli sie als den Grund für Roms Freiheit. Damit entstand das Modell eines Republikanismus im Widerstreit. In unseren Tagen hat es zumal Greens Chicagoer Kollege John McCormick aufgegriffen, um ebenfalls die plebejischen Elemente hervorzuheben. Bei ihm allerdings nehmen sie, nach dem Vorbild des römischen Volkstribunats, die Form von Institutionen an. Stimmungen und schlechtes Benehmen besitzen noch keine Bedeutung. Hier setzt Greens Konzept der plebejischen Demokratie an. Anschließend an McCormicks Akzent auf der plebs sollen nicht nur deren Institutionen, sondern auch ihre negativen Gefühle und Handlungsformen zu den Freiheitsgründen gezählt werden.

Das macht stutzen. Lautete nicht ein Kerntheorem des römischen Republikanismus auf den Ausgleich der Parteien durch eine Mischverfassung, die Polybios und andere Rom zuschrieben? Zur Erinnerung: In der antiken Theorie eines Verfassungskreislaufs schlagen Monarchie, Aristokratie, Demokratie dann, wenn die jeweilig Herrschenden aus Eigennutz regieren, in die Verfallsformen Tyrannis, Oligarchie, Ochlokratie um. Solange die Formen rein bleiben, hängt ihr Gelingen daher vom Charakter des Einen, der Wenigen, der Vielen ab, die in ihnen regieren. Gegen diese Zufälligkeit gilt es das Gemeinwesen abzufedern. Hierzu dient eine Mischverfassung aus sowohl monarchischen als auch aristokratischen als auch demokratischen Elementen. Zumal Montesquieu hat dieses Modell in die Moderne übersetzt. Noch für das Verständnis der Bundesrepublik wurde es geltend gemacht.

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