Heft 872, Januar 2022

Philosophiekolumne

Tragischer Liberalismus von Gunnar Hindrichs

Tragischer Liberalismus

I

1995 legte François Furet einen Kassensturz seines Jahrhunderts vor. Sein Titel: Le passé d’une illusion. Die Übersetzung des Piper-Verlags lautete: Das Ende der Illusion. Aber das Original spielt auf Freuds Klassiker Die Zukunft einer Illusion an. Wir übersetzen also besser: Die Vergangenheit einer Illusion.

In diesem Kassensturz geht es um die kommunistische Idee. Sie hat das 20. Jahrhundert entscheidend geprägt. Doch für Furet handelten die Menschen, die diese Idee verfolgten, illusionär. Solchen Illusionen des Handelns war er bereits in seinen Untersuchungen zur Französischen Revolution nachgegangen, auch damals schon mit der Pointe, die Revolution sei beendet.1 Die Ideen von 1789? Illusionen von Menschen, die nicht sahen, dass sie in Strukturen steckten, die – Tocqueville lässt grüßen – in Wahrheit das ancien régime und die bürgerliche Gesellschaft verbanden und die statt Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit die Zwänge neuer Organisationsformen bis zur Schreckensherrschaft errichteten. In gleicher Weise verstand Furet auch den Kommunismus nicht aus dem Selbstverständnis der Handelnden. Sie glaubten, den »Sozialismus in einem Land« aufzubauen, und vollzogen in Wahrheit den alten großrussischen Chauvinismus; sie meinten, für eine Klasse zu sprechen, und verfolgten in Wahrheit ein Gruppeninteresse; sie träumten von antifaschistischer Solidarität und brachten in Wahrheit die aktualisierte terreur in Gang. Wunschbilder panzerten sich mit gesellschaftlichem Zwang.

Aus dieser Perspektive ähnelt der Kommunismus der Religion – mithin jener Illusion, über deren Zukunft Freud einst nachgedacht hatte. Nach der psychoanalytischen Annahme entsteht die Religion aus dem Wunsch nach Schutz durch Liebe. Ihn hat die Erfahrung der kindlichen Hilflosigkeit und ihrer Abhilfe durch den Vater als Antwort auf die Fortdauer der Hilflosigkeit im menschlichen Leben erzeugt: mit dem Bild eines noch mächtigeren, nämlich allmächtigen Vaters. Entsprechend trägt die Religion auch die Spuren der Vaterbeziehung an sich, die auf Triebverdrängung durch Angstmotivation beruht, so dass sie, neben einem System von Wunschbildern, »die allgemeine menschliche Zwangsneurose« bildet.2 Und wie alle Neurosen kann sie im Prinzip überwunden werden: durch Erziehung zur Realität.

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