Heft 902, Juli 2024

Philosophiekolumne

Zum ewigen Frieden von Gunnar Hindrichs

Zum ewigen Frieden

I

Vor dreihundert Jahren wurde Immanuel Kant geboren. Sein Werk ist mit Grundbegriffen der Moderne verbunden: Kritik, Autonomie, freies Spiel der Einbildungskraft. Bis heute fordert es zur Selbstverständigung heraus.

Aus Anlass des Geburtstages sollte der internationale Kongress der Kant-Gesellschaft in Königsberg stattfinden – in der Stadt, in der Kant sein ganzes Leben verbrachte. Seit 1945, nach einem Zweiten Weltkrieg, heißt sie Kaliningrad und gehört zu Russland. Auch zu Kants Lebzeiten befand sich Königsberg für mehrere Jahre unter russischer Regierung. Die Beamten legten den Eid auf die Zarin Elisabeth ab und versahen dann denselben Dienst für dasselbe Gehalt weiter. Der Umgangston aber änderte sich: Kants Freund Johann Georg Scheffner sprach von einer »Humanisierung« der städtischen Gesellschaft. Und offenbar waren die russischen Offiziere nicht zuletzt der Universität wohlgesonnen.

Kant hatte viele von ihnen in seinen Vorlesungen sitzen und gab manchen Privatissima: nicht schlecht vergütet. Nur seine Bewerbung um die Professur für Logik und Metaphysik scheiterte. »Ew: Kayserl: Majestät wollen allergnädigst geruhen diese erledigte professionem ordinariam mir huldreichst zu conferiren, wie ich denn vertraue Senatus academicus werde in Ansehung der dazu erforderlichen capacität mein unterthänigstes Ansuchen mit nicht ungünstigem Zeugniße begleitet haben. Ich ersterbe in tiefester devotion Ew. Kayserl Majestät allerunterthänigster Knecht«, schrieb er am 14. Dezember 1758 an die Zarin. Das Gesuch blieb erfolglos – wie schon zwei Jahre früher, als es noch an Friedrich II. gegangen war, den König »in« Preußen (»von« Preußen durfte er sich erst ab 1772 nennen: nach der Annexion Polnisch-Preußens). 1756 hatten die Worte nicht viel anders gelautet: »Die Begierde mich in einer von denen philosophischen Wißenschaften vorzüglich zu habilitiren, veranlaßet mich Ew: Königl. Majestät in tiefster Unterthänigkeit um die durch das Absterben des Seel. Prof. Knutzen erledigte außerordentliche Profeßion der logic und metaphysic auf der hiesigen academie anzuflehen.« 1770 versuchte Kant es dann erneut bei Friedrich II., unter dessen Herrschaft Königsberg inzwischen wieder gekommen war. »Mein 15jähriger ununterbrochener Fleis und Beyfall in Academischen Vorlesungen, imgleichen der gute Ruf den ich auch auswärtig durch Schriften erworben zu haben glaube, lassen mich hoffen: Ew: Königl: Maj: werden mich der hierunter zu bezeigenden Gnade, nicht gänzlich unwürdig finden.« Diesmal wurde er berufen. So lief das im aufgeklärten Absolutismus.

Nach seiner Berufung veröffentlichte Kant erst einmal zehn Jahre lang nichts. 1781 kam dann die Kritik der reinen Vernunft heraus, 1787 ihre veränderte Zweitauflage, 1788 die Kritik der praktischen Vernunft, 1790 die Kritik der Urteilskraft. Eine Reihe weiterer Schriften zur theoretischen und praktischen Philosophie formulierte die kritische Philosophie aus. Sie vollzog die kopernikanische Wende des Denkens: weg von in Sinnlichkeit oder Rationalität gegebenen Ausgangspunkten, hin zu erst in kritischer Reflexion erzeugten Grundsätzen. Diese Wende hat sich in die Anspruchsbestimmtheit der Moderne eingeschrieben.

Kein Wunder also, dass dreihundert Jahre Kant eine große Sache sind. Aber aus dem Kaliningrader Kongress wurde nichts. Nach Beginn des offenen Krieges in der Ukraine verlegte ihn der Vorstand der Kant-Gesellschaft. Ein Königsberg, das infolge des verlorenen deutschen Feldzugs zu einem Russland gehört, das heute selber im Felde steht, schien ihm unangemessen. Man entschied sich darum für – Bonn. Dort werden sich im September die Kant-Spezialisten versammeln: im westdeutschen Provinzialismus.

Hauptstädtischer kam der Festakt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am dreihundertsten Geburtstag selbst daher. Hier sprach, unter professoraler Begleitmusik, der Bundeskanzler. Auch Olaf Scholz verknüpfte das Jubiläum mit dem Krieg. Besonders empörte ihn, dass der russische Präsident in den letzten Jahrzehnten immer wieder mitgeteilt hatte, dass Kant zu seinen Lieblingsphilosophen gehöre. Hier waren Besitzverhältnisse zu klären. Wenn es eine Politik gebe, die sich auf Kant beziehen dürfe, dann die deutsche. Für diese Klärung zog man Kants Spätschrift Zum ewigen Frieden heran. Der Kanzler stellte fest: »Kants große Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit dauerhaften Friedens in kriegerischer Zeit gehört heute wieder ganz oben auf die Tagesordnung.« Und fuhr fort: »Deshalb ist es eine gute Idee, Kants großartige Schrift Zum ewigen Frieden gerade jetzt aufs Neue zur Hand zu nehmen.« In dieser großartigen Schrift mit der großen Frage geht es nicht zuletzt um Friedensstiftung. Der Bundeskanzler schloss daraus: »Der Friede, den die meisten von uns so lange als selbstverständliche Normalität und natürlichen Zustand erlebt haben – er ist genau dies nicht. Er ist eben nicht ›natürlich‹. Er muss auch heute noch – und heute wieder – ›gestiftet‹ werden.« Solche Stiftung ist das Anliegen des Bundeskanzlers.

Hier wird es unheimlich. Welcher Friede wurde von uns so lange als selbstverständliche Normalität und natürlicher Zustand erlebt? Bleiben wir einmal nur im Europa seit 1945. Nach dem Zerfall der Alliierten herrschte dort bis zum Ende der sozialistischen Staaten ein Kalter Krieg: mit Feinderklärung, Hochrüstung, Vernichtungsangst. Auch der heutige Bundeskanzler forderte damals als junger Mensch »Abrüstung jetzt!« Mit dem Ende des Kalten Krieges setzten dann die nicht mehr nur kalten Jugoslawienkriege ein. Und nach einer Pause von gerade einmal dreizehn Jahren begannen offene Kriegshandlungen in der Ukraine. Von selbstverständlicher Normalität und natürlichem Zustand des Friedens keine Spur. Es rückwirkend so zu verklären, hat nur einen Sinn: das Unternehmen einer Friedenstiftung »heute« zu propagieren. Und was darunter zu verstehen sei, macht die vom Kanzler vertretene Zeitenwende – auch sie wird in der Rede bemüht – deutlich: Weltordnungskrieg, Freund-Feind-Verhältnisse, Erhöhung der Militärausgaben, Absage an wissenschaftliche Zusammenarbeit. Sie sollen jetzt Faktoren der Friedensstiftung sein. Denn: »Wir alle wünschen uns Frieden für unsere Zeit. Aber ein Frieden um jeden Preis – das wäre keiner.« Darum muss weiter Krieg geführt werden: bis der Friede zum rechten Preis eingerichtet sein wird.

Diese Volte ist beachtlich. Bei Kant diente das Konzept der Friedensstiftung zur Beendigung des Krieges. Beim Bundeskanzler gerät es zum Argument dafür, dass man sich vom Normalzustand verabschieden solle, um den Frieden im militärischen Ausnahmezustand einzurichten. Unter der Hand wird so der Friede zur Suspension des Normalerlebens – und der Krieg zur Fortsetzung der Friedenspolitik mit anderen Mitteln. Es liegt auf der Hand, dass auch der Feind seinen Krieg zur Fortsetzung seiner Friedenspolitik mit anderen Mitteln erklären wird. Ob solche Schachzüge tatsächlich von dem Gedanken einer Friedensstiftung getragen werden? Eher scheinen sie den Krieg zu verstetigen. Denn wenn der wahre Friede nur durch den Zeitenwendekrieg eingerichtet werden kann, während der Feind seinerseits ihn nur durch seinen Krieg einrichten zu können meint, dann verbeißen sich die kriegerischen Friedensstiftungen ineinander.

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