Philosophiekolumne
Die enggeführte Krise von Gunnar HindrichsI
Die Krisenreihe der letzten Jahrzehnte wird manchmal als Ausdruck einer multiplen Krise begriffen. Diese Auffassung hat den Vorteil, den Gesamtzusammenhang nicht aus dem Auge zu verlieren: Das Ganze ist krisenhaft. Aber sie vermag den Eigensinn der jeweiligen Krise nicht angemessen zu erfassen: Die Einzelkrisen bilden nur das Gekräusel einer einzigen Welle. Vielleicht lässt sich die Situation daher auch anders begreifen.
Aus der Musik kennen wir die Engführung eines Themas. Hier setzt in einer Stimme das Thema ein, und bevor es dort zu Ende gebracht worden ist, erklingt es bereits in einer zweiten Stimme, einer dritten, vielleicht einer vierten usw. Auf diese Weise besitzt das Thema viele eigenständige Stimmen. Deren Eigensinn lässt sich nicht auf den Sinn des Ganzen reduzieren. Zugleich ballen sich die Stimmen zu einem Ganzen zusammen. Ihre Themeneintritte schieben sich ineinander, und zwar derart, dass mit der raschen Folge des Themeneintritts in den eigenständigen Stimmen das Gesamtgeschehen erstarrt. Denn indem das Thema enggeführt wird, erhöht sich die Dichte des musikalischen Raums, und der Zeitverlauf wird blockiert.
Etwas Ähnliches scheint unsere Lage zu prägen. Ihr Thema ist die Krise. Es erklingt in vielen Stimmen von irreduziblem Eigensinn, die es immer schneller bringen und sich ineinanderschieben. Entsprechend ist die Lage nicht eine einzige multiple Krise, sondern krisenhaft in ihrer Mehrstimmigkeit, deren Verschachtelung den Gesamtkomplex erstarren lässt. So könnte sich die Krisenreihe als enggeführte Krise erweisen.
II
Gedacht hatte man es sich anders. Vor dreißig Jahren war der Blick in die Zukunft optimistisch. Denn mit der Niederlage von Europas sozialistischen Staaten schienen Krisen zu bloßen Begleiterscheinungen eines grundsätzlich unangefochtenen Sozialgebildes zurechtgestutzt.
Dabei waren in den zwei Jahrzehnten zuvor – nach dem Ende des »Goldenen Zeitalters« von 1950 bis 1970 –1 die bürgerlichen Gesellschaften noch von Krisen heimgesucht worden, die ihr Prinzip selber in Frage stellten. In der Bundesrepublik erfasste man diese Krisen vornehmlich unter zwei Deutungen. Von gesellschaftskritischer Seite aus sprach man von den »Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus«,2 von konservativer Seite aus von der »Unregierbarkeit«.3 Hierbei begriff die erste Seite ihre Situation als eine die Sozialintegration beeinträchtigende Störung der Systemintegration. »Systemintegration« – das bezeichnet die funktionalen Steuerungsleistungen eines Gesellschaftssystems (Altersvorsorge, Bildungseinrichtungen usw.). »Sozialintegration« – das bezeichnet den an Geltungsansprüchen orientierten gesellschaftlichen Konsens. Nun werden laut der gesellschaftskritischen Seite faktisch fehllaufende Systemsteuerungen erst dann zu Krisen, wenn sie die auf kontrafaktischen Geltungsansprüchen beruhende Konsensbildung beschädigen. Und weil diese Konsensbildung die Legitimität des Sozialsystems betrifft, sind Krisen stets Legitimationskrisen.
Die zweite, konservative Seite verwendete ein anderes Vokabular. Sie begriff ihre Situation als eine besondere Machtlage mannigfacher Entzweiungen. Innerhalb dieser Machtlage besitzen die einen zwar mehr Macht als die anderen. Aber keine der entzweiten Kräfte hat die Macht über die Machtlage selber inne, so dass alle dem insgesamt unbeherrschbaren – »unregierbaren« – Gefüge unterliegen. Wie der allmächtige Diktator Caesar ohnmächtig war, weil er keine Macht über die Krise der römischen Republik besaß, sondern nur innerhalb ihrer, so vermag auch der moderne Parteien- und Verwaltungsstaat bei all seiner Macht die entzweite Gesellschaft nicht mehr zu regieren.4
Für beide Diagnosen trafen die Krisen die bundesdeutsche Gesellschaft ins Herz. Sie drohten es unmöglich zu machen, dass Menschen sich in ihrem Gesellschaftssystem wiedererkennen oder in den Machtlagen ein gelingendes öffentliches Handeln vollziehen konnten. Und neben dieser Anerkennung der Krisen teilten die beiden Ansätze noch etwas anderes. Sie trafen sich, trotz ihrer ungleichen Vokabulare, letztlich im gleichen Therapievorschlag. Er lautete auf die Zivilgesellschaft. Zwar verstand man diese unter verschiedenen Gesichtspunkten: einmal als die bunte Lebenswelt eines Verständigungshandelns, das die Legitimationsprobleme der fehllaufenden Systemintegration überwindet; das andere Mal als den Raum einer durch Tradition, Autorität und Topoi ermöglichten Kontingenzbewältigung, die innerhalb der unbeherrschbaren Machtlage zu handeln erlaubt.
Aber der Unterschied der Gesichtspunkte war eben nur der Unterschied der Gesichtspunkte. In doppelter Beleuchtung – gesellschaftskritisch und konservativ – sollte die Zivilgesellschaft, die sich jenseits der Kapitalakkumulation und diesseits des Verwaltungs- und Parteienstaates entfaltet, die Krise therapieren. Doch die Therapie griff nicht. Eher diente sie zur Selbstbeglaubigung einer von der Arbeiterbewegung enttäuschten Neuen Linken einerseits, eines vom starken Staat desillusionierten juste milieu andererseits.
In Frankreich wiederum brachte man die Lage auf poststrukturalistische Begriffe. In ihren Konsequenzen aber sah deren wichtigste Theorie recht ähnlich aus. Michel Foucault begriff seine Gegenwart als einen subjektlosen Machtkomplex, der die Einzelnen bis ins Mark bestimmt. Ein solcher Komplex lässt sich als Ganzes nicht mehr verändern. Entsprechend hat man seinen Weg im Innern des Wals zu finden. Hierfür griff Foucault auf Modelle der Lebensführung zurück, die die Spätantike entworfen hatte.5 Ihn faszinierte die von Epikureern, Stoikern, Skeptikern konzipierte Idee einer Sorge um sich selbst. Auch in hellenistischer Zeit schien es ja außerhalb des Imperium Romanum keine wirkliche Alternative zu geben, trotz seiner ständigen Krisen.
Jene Konzepte der Selbstsorge boten daher einen Ansatz für die ähnlich gelagerte Gegenwart. Foucault griff ihn auf und weitete ihn – gemäß Tacitus’ Wort vom »Bild seines Lebens«, das Seneca seiner Mitwelt hinterlassen habe (imago vitae suae) – zu einer Ästhetik der Existenz aus. Das hieß: Die Sorge um sich selbst und seine Erscheinung, wie auch immer sie von den Machtverhältnissen dezentriert sein mag, bildete nunmehr die Perspektive.
Ersichtlich handelt es sich abermals um eine Perspektive jenseits der Ökonomie und diesseits des Staates. Beides wird, so gut es geht, hingenommen und vorausgesetzt, während man sich der Sorge um die eigene Identität und deren Bild hingibt. Entsprechend entfaltet sich die Selbstsorge in der zivilen Gesellschaft. Auch hier also machten sich die Diagnose unaufhebbarer Machtgeflechte und die Therapie zivilgesellschaftlichen Lebens geltend. Doch auch hier konnten sie die Krisen nicht bewältigen. »Zitadellenkultur« nannte ein Beobachter das.6
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