Heft 878, Juli 2022

Philosophiekolumne

Kriegszivilgesellschaft von Gunnar Hindrichs

Kriegszivilgesellschaft

I

Eigentlich sind das Zivile und der Krieg Gegensätze. Der Zivilist ist kein Soldat. Jene Formel, die nach zwei Weltkriegen den deutschen Militarismus überwinden wollte, die Formel vom Bürger in Uniform, zielte auf die Zivilisierung des Militärs, auf dessen Bindung an Gesetz und Grundrechte. Nicht hingegen zielte sie auf die Militarisierung des Bürgers. Das hieß: Das Militär sollte vom Zweck des Krieges weggerissen und unter den Zweck des bürgerlichen Friedens gestellt werden. Wie auch immer die Wirklichkeit dieses Ideals aussah, so lautete der Gedanke. Er beruhte auf nichts anderem als dem Sachverhalt, dass der Bürger – und sei er in Uniform – eben kein Krieger ist.

Nun scheint das alles Ideologie. »Das Geschäft gedeiht auf Trümmern«, schrieb Rosa Luxemburg. »Städte werden zu Schutthaufen, Dörfer zu Friedhöfen, Länder zu Wüsteneien, Bevölkerungen zu Bettlerhaufen, Kirchen zu Pferdeställen; Völkerrecht, Staatsverträge, Bündnisse, heiligste Worte, höchste Autoritäten in Fetzen zerrissen; jeder Souverän von Gottes Gnaden den Vetter von der Gegenseite als Trottel und wortbrüchigen Wicht, jeder Diplomat den Kollegen von der anderen Partei als abgefeimten Schurken, jede Regierung die andere als Verhängnis des eigenen Volkes der allgemeinen Verachtung preisgebend […] Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit –, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.« Die Junius-Broschüre erschien 1916.

Dennoch hat sich der Grundgedanke einer Entgegensetzung des Zivilen und des Krieges gehalten. Und das mit Recht. Denn auch wenn die bürgerliche Gesellschaft im Krieg statt in ihrer Kultur ihre wahre Gestalt zeigen sollte – ihre zwei Gestalten bleiben zwei Gestalten, mag auch die eine wahr und die andere falsch sein. Hierbei tritt inzwischen, nach zwei Weltkriegen und einigem mehr, die aus Kultur, Frieden, Rechtsstaat bestehende Gestalt wieder als die wahre Gestalt auf. Ja, in ihr hat sich ein Ferment geltend gemacht, das den Gegensatz zum Krieg bereits in seinem Namen trägt: die Zivilgesellschaft. Kommunikativ statt instrumentell, anerkennend statt selbstbehauptend, divers statt uniform will sie dessen Anderes sein. Sie kennt keinen Krieg, nur Diskurs.

Umso auffallender, dass in unseren Tagen – einen Vorläufer gab es während des Jugoslawienkrieges – der Gegensatz »Krieg /Zivil« in der Zivilgesellschaft selbst zergeht. Unter Zivilgesellschaft sei zunächst ganz grob die soziale Welt oberhalb der Ökonomie und unterhalb des Staates verstanden. Und deren Sphären schlagen angesichts des russisch-ukrainischen Krieges andere Töne an. In der öffentlichen Meinung: Zeitungen verkünden Jahre der Entscheidung, Kundgebungen proklamieren den Ruhm einer Nation, soziale Medien bringen Frontberichte. In der Kunst: Engagements werden gekündigt, Häuser kleiden sich in Nationalfarben, Ausstellungen zeigen Heldenbilder. In der Wissenschaft: Zusammenarbeit wird beendet, Austauschprogramme werden gestrichen, internationale Kongresse abgesagt. Hinzu kommt eine Identifikation mit dem Angegriffen. Es gehe in der Ukraine auch um den Kampf autoritärer Herrschaft gegen die Zivilgesellschaft. Man ist also – strukturell – selber das Angriffsziel. Entsprechend nimmt die Zivilgesellschaft Partei in diesem Krieg, ohne Orchestrierung und zugleich in großem Einklang.

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