Heft 914, Juli 2025

Philosophiekolumne

Eine Sache des Volkes von Gunnar Hindrichs

Eine Sache des Volkes

I

Populismus ist das Andere der bürgerlichen Gesellschaft. Von ihm sieht sie sich heimgesucht, vor ihm gerät sie in Panik, gegen ihn beschwört sie ihre Wehrhaftigkeit, über ihn zieht sie vom Leder, an ihm vergewissert sie sich ihrer geistig-moralischen Überlegenheit. Populismus ist eben das Andere der bürgerlichen Gesellschaft.

Jedenfalls der Gesellschaft, wie sie sich nach einem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat. Ihre Kultur zeugt von Offenheit, Lebensart, liberalem Geschmack. Ihre Politik besitzt Legitimität durch Verfahren, zeigt Sachverstand und Augenmaß. Ihre Protestformen sind Aufstände der Anständigen. Zwar drohten sie einmal in Formen der Massenmilitanz zu münden: vor Brokdorf, in Kreuzberg, an der Startbahn West. Aber auf sie reagierte Innere Sicherheit. Und die machte klar, dass der Protest, ja sogar der Widerstand ein gehegter Widerstand zu sein habe. »Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht mehr länger geschieht«, lautete Ulrike Meinhofs Merksatz. Man betete ihn auch weiterhin nach. Aber er wurde um das Nötige angepasst, und Protest und Widerstand erfolgten von nun an in der Zivilgesellschaft: mit dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments, im agonalen Handeln eines gehegten Wettstreits. Das wurde akzeptiert. Seither ist es so geblieben.

Zumindest was die Linke betrifft. Aktionen von rechts hingegen nahmen schon in den Achtzigern sehr andere Formen an – ohne dass auf sie mit Innerer Sicherheit reagiert worden wäre. Offenbar fühlte man sich nicht wirklich bedroht. Im neuen großen Deutschland, und nicht nur dort, verstärkten sich diese Formen dann. Aber zunächst kam es noch einmal zum Aufbäumen linken Massenprotests: in der Antiglobalisierungsbewegung. Er feierte Erfolge in Seattle 1999, rief den polizeilichen Bauchschusswaffengebrauch in Göteborg 2001 hervor, wurde im selben Jahr in Genua mit der staatlichen Erlegung eines Demonstranten bedacht. Das gab für eine Weile dem Konzept eines linken Populismus Futter. Ihm gemäß kämpft die Menge gegen die Herrschenden, ein »von unten« gegen ein »von oben«. Von Klassen und ihren Verhältnissen, wie in der älteren Linken, war hier eher am Rande zu hören. Stattdessen formierte sich ein umfassenderes, vielfältigeres Spektrum, das sich durch eine existenzielle, nicht mehr klassentheoretische Freund-Feind-Unterscheidung »von unten« gegen die »von oben« bestimmte, durchaus dezisionistisch. Noch 2017 hallte dieser linke Populismus beim G20-Treffen in Hamburg nach.

Indessen wusste sich die Mehrzahl der Protestierenden selbst »von unten« weiterhin als ordentliche Mitglieder der Zivilgesellschaft. In Hamburg jedenfalls wurde sichtbar: Militant war vor allem die Staatsmacht und nur zu Teilen der Protest. So ist das bis heute geblieben – wie gesagt: auf der Linken. In einem diffusen Feld indessen, das mal skeptisch, mal querfrontlerisch, meist aber offen rechts auftritt, hat sich der Populismus eines anderen Handelns »von unten« gegen »von oben« entfaltet. Das ist der Populismus, von dem seit Jahren alle sprechen. Nicht nur in den europäischen Ländern beherrscht er die Straße, sitzt in den Parlamenten und bisweilen sogar in der Regierung. Die Zeitschriften widmen ihm Sonderhefte, die Soziologie rückt ihm mit Befragungen auf den Leib, die Anständigen schenken ihm Mahnwachen. Auf ihn schaut das »Etablierte« oder »Eliten« geschimpfte Lager herab: um dann dennoch mit ihm Bündnisse einzugehen. Denn inhaltlich lassen sich oft gar nicht so große Unterschiede erkennen. Immigrationseinschränkung, autoritären Liberalismus, Aufrüstung wollen die meisten. (Nur die Kriegsziele variieren.) Offenbar geht es Etablierten und Populisten programmatisch um eher graduelle Unterschiede.

Aber mindestens einen Grundunterschied gibt es. Er liegt eben in dem Gegensatz »von unten« vs. »von oben« – allerdings in nun verschobener Lesart. Das Handeln »von unten«, das der gegenwärtige Populismus verfolgt, besteht nicht mehr im Aufstand gegen »die Herrschenden«. Vielmehr besteht es im Aufstand gegen »die Eliten«, die statt durch Sozialstruktur durch einen Habitus gekennzeichnet sind: dass sie nur ihre eigene Suppe kochen, vom Leben der Menschen keine Ahnung haben, ihnen mit Verordnungen über Sitten, Sprache, Sexualität auf den Leib rücken und überhaupt den Willen des Volkes mit Füßen treten.

Im Ausdruck des wahren Volkswillens hingegen gründet die Legitimität des Populismus. Über diesen Willen gibt es nicht viel zu debattieren – genauso wenig wie über die Frage, was denn das eigentlich sei, das Volk. Beides bildet vielmehr die Ausgangsbestimmtheit, von der das populistische Handeln sich getragen weiß. Gewiss gibt es Unterschiede im populistischen Lager, auch aus dessen Innensicht, und viel Streit herrscht dort ohnehin, gehässig wie in der Familie oder in der Nachbarschaft. Aber die Sachverhalte, dass es einen Willen des Volkes gibt und dass jede Absonderung diesen Willen missachtet, werden nicht infrage gestellt. Sie verleihen dem »von unten« vs. »von oben« eine neue, eigentümliche Wucht.

Eben diese neue Wucht mischt die Karten insgesamt neu. Jetzt gilt: Die populistischen Protestformen sind keine Aufstände der Anständigen mehr. Sie sind pöbelnd, kultur- und geschmacklos. Jetzt gilt: Die populistische Politik kommt ohne Augenmaß und Sachlichkeit aus. Mit unsinnigen Forderungen über die Stränge schlagen ist geradezu eines ihrer Markenzeichen, und auf Legitimität durch Verfahren verzichtet sie gerne. Sie geht andere Wege, hat sogar hämische Freude daran, die Verfahren von innen auszuhöhlen oder direkt gegen die Wand fahren zu lassen. Und jetzt gilt: So sehr ihre Anführer gutbürgerliche Personen sind, so sehr überschreiten sie Sitte und Lebensart. Sie sind offen beleidigend und geschmacklos. Denn Sitte, Lebensart, Sachlichkeit, Verfahren, Augenmaß, Kultur und Geschmack haben sich als Herrschaftsmittel der Eliten, die den Volkswillen mit Füßen treten, selbst desavouiert. Und so wurde der Populismus zur Heimsuchung der bürgerlichen Gesellschaft. Er ist eben ihr Anderes.

So scheint es. Auf den zweiten Blick aber wird deutlich: Der Anschein ermöglicht eine bequeme Verteilung. Er kennt hie die gute Gesellschaft, da die Wutbürger und Meinungssager. Und das ist für beide Seiten praktisch. Jene muss sich nicht infrage stellen, diese müssen sich nicht beweisen. So stützen sie sich und ihre Politikräume gegenseitig. Wir dürfen daher vermuten, dass in der enggeführten Krise die Sozialintegration – auch – durch ein Äquilibrium gewährleitet wird. Es besteht im Gleichgewicht aus vertrauter politischer Welt und Populismus. Die »Brandmauer«, von der in Deutschland gerne gesprochen wird, ist seine Achse. Offenbar braucht die bürgerliche Gesellschaft zur Zeit die Kräfte um diese Achse. Entsprechend wäre der Populismus nicht ihr Anderes, sondern ihr zweites Gesicht.

Zu übertrieben? Dann schauen wir einmal auf die politische Form der bürgerlichen Gesellschaft: die Republik. Sie macht einiges klarer.

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