Platon in Therapie
von Jonas GrethleinPlaton ist »der größte Kunstfeind, den Europa bisher hervorgebracht hat«. Nietzsches Verdikt aus der Genealogie der Moral ist zu einer Formel für die ebenso vehemente wie allgemeine Ablehnung von Platons Dichterkritik in der Politeia geworden. Man hat Platon eines »empörenden Angriffs auf Dichtung«, einer »systematischen Vergewaltigung der Kunst« und des Versuchs bezichtigt, »Kunst in ein puritanisches Anhängsel einer autoritären Politik oder absolutistischen Metaphysik zu verwandeln». In seiner Ästhetischen Theorie attestierte Adorno ihm »eine banausische Blindheit gegenüber der Idee der Form, die zentral für Kunst ist«. Neben der Zensur, die Sokrates und seine Gesprächspartner der Literatur im Idealstaat verordnen, wirkt Stalins Kulturpolitik geradezu liberal. Fast die gesamte griechische Dichtung, neben dem Epos auch das Drama und große Teile der Lyrik, fällt der platonischen Kritik zum Opfer. Geduldet ist nur Literatur, die im Einklang mit einem metaphysischen Wahrheitsverständnis die Werte eines totalitären Staats propagiert. Die weitgehende Verbannung der Dichter aus dem Idealstaat ist ein wichtiger Grund für den prominenten Platz, den Popper Platon unter den Feinden der offenen Gesellschaft gab.
Die Ethik der Politeia wird für die meisten heutigen Leser inakzeptabel bleiben – nicht nur Liberale dürfte die Idee einer Standesgesellschaft mit eugenetischem Programm ebenso abschrecken wie die Unterdrückung von Emotionen, die von den Bürgern gefordert wird. Peter Sloterdijks Anleihen bei Platon in Regeln für den Menschenpark (1999) etwa lösten weitflächig Empörung im deutschsprachigen Feuilleton aus. Aber die Ästhetik der Politeia ist nicht nur differenzierter, als allgemein angenommen wird, sondern hat wider den Anschein auch heute noch einen systematischen Wert. Im Licht kognitionswissenschaftlicher Ansätze betrachtet, erweist sich Platons Theorie der Mimesis als reich an Einsichten, die in der Ästhetik und Literaturtheorie lange Zeit ignoriert wurden. Man hat versucht, Platon von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zu entlasten, indem man seinen Idealstaat als ein theoretisches Konstrukt betrachtete, das bewusst fernab von jeglicher Realität angesiedelt ist. Aber es ist gerade die Praxis, die auf verblüffende Weise Platons Verständnis ästhetischer Erfahrung bestätigt. Ein wichtiger Trend in der gegenwärtigen Psychotherapie beruht – ohne ein Bewusstsein dieser intellektuellen Genealogie – auf ganz ähnlichen Annahmen zur kognitiven Dynamik und ethischen Bedeutung ästhetischer Erfahrung. Die Ästhetik »des größten Kunstfeinds, den Europa bisher hervorgebracht hat«, hat sich, so könnte man sagen, in Therapie begeben und wird dort gerade rehabilitiert.
Werfen wir zuerst einen kurzen Blick auf die beiden Diskussionen über die Dichtung in der Politeia: Sokrates beginnt seinen Staatsentwurf mit der Erziehung der Wächter. Seine Erörterung der Dichtung als pädagogisches Instrument am Ende des zweiten und zu Beginn des dritten Buchs mündet in die Forderung nach einer allgemeinen Zensur: Dichter dürften Götter nur als gut und verantwortlich für Gutes darstellen, aber keinesfalls im Streit miteinander oder bei der Täuschung von Menschen. Die Unterwelt sei nicht als dunkler Ort zu beschreiben, da dies den Bürgern die Bereitschaft nähme, sich für den Staat zu opfern. Um die Selbstbeherrschung der Wächter zu stärken, müssten sowohl heroische als auch göttliche Figuren Trauer, Lust und Lachen kontrollieren. Auch wer die griechische Literatur vor Platon gut kennt, wird Schwierigkeiten haben, Texte zu finden, die diese Zensur überleben und ein Existenzrecht im Idealstaat genießen.
Nachdem der Entwurf des Idealstaats fertiggestellt ist, kehrt Sokrates am Ende des letzten Buchs noch einmal zur Dichtung zurück und mustert sie erneut vor dem Hintergrund der inzwischen entwickelten Ideenlehre und Einteilung der Seele. Die Geschichten der Dichter seien nur Abbilder der sinnlich wahrnehmbaren Welt, die selbst nur ein Abbild der Ideen sei. Zweifach entfernt von Sein und Wahrheit sei Literatur ontologisch und epistemologisch minderwertig. Außerdem richte sie sich an den niedrigsten, den begehrenden Seelenteil und stärke ihn gegenüber dem vernünftigen und dem muthaften Seelenteil. Wer sich im Theater seinen Gefühlen ergebe, drohe auch in seinem eigenen Leben von ihnen übermannt zu werden. Nicht nur Platons Verurteilung der Affekte, auch seine Angst vor den tiefgreifenden und nachhaltigen Wirkungen ästhetischer Erfahrung befremdet uns. Inwiefern können Theateraufführungen dauerhaft unsere Seelen beschädigen?
Massenunterhaltung, nicht Kunst?
Mit einem ebenso genialen wie einfachen Perspektivwechsel verminderte der amerikanische Philosoph Alexander Nehamas den Anstoß, den Platons Betrachtung bei modernen Lesern erregt, verkannte aber zugleich einen Punkt, der grundlegend ist, um ihr vollständig Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Platon, so Nehamas, kritisiere gar nicht Kunst in unserem Sinn, sondern Massenunterhaltung. Epos und Tragödie, für uns Teil des literarischen Höhenkamms, seien in der Antike vor einem Massenpublikum rezitiert beziehungsweise aufgeführt worden. Ihr modernes Äquivalent sei das Unterhaltungsfernsehen. In der Tat ist das Fernsehen – um Nehamas’ Argumentation von 1980 medientheoretisch zu aktualisieren, müssten wir sie auf Computerspiele ausweiten – einer Kritik und Zensur ausgesetzt, die sich von den Urteilen in der Politeia eher quantitativ als qualitativ unterscheidet. So wie Sokrates und Adeimantos ihre Erörterung mit der Wirkung der Dichtung auf Kinder beginnen, schränken unsere Altersfreigaben den Zugang zu Filmen und Spielen für Kinder ein. Während Platon die verderbliche Dichtung ganz aus dem Idealstaat verbannt, führen Psychologen, Pädagogen und Politiker heute zumindest eine breite Diskussion über die Folgen gewaltverherrlichender Filme und Spiele.
Nach Nehamas sind wir ebenso wie Platon nicht bereit, in der Massenunterhaltung Inhalte zu tolerieren, die wir der Kunst zugestehen, da Kunst ihre Gemachtheit reflektiere, Massenunterhaltung hingegen »realistisch« sei. Auch Fernsehen, das sieht Nehamas natürlich, ist ein Medium, das aber, so meint er, als transparent wahrgenommen wird. Da seine Inhalte als Realität rezipiert würden, hätten sie eine unmittelbare Auswirkung auf die Zuschauer und müssten reguliert werden. In der Kunst dagegen stünde das Wie, die Darstellung, nicht das Was, das Dargestellte, im Vordergrund. Dieses Argument ist ebenso fragwürdig wie anregend. Dass Form eine wichtige Rolle für unser Verständnis von Kunst spielt, ist nicht von der Hand zu weisen. Bei Bildern in einer Ausstellung achten wir stärker auf ihre Gemachtheit als bei Straßenschildern oder Pornografie. Zugleich sind Nehamas’ Kategorien von Realismus und Transparenz hochproblematisch. Der Begriff des »Realismus« ist notorisch in seiner Unbestimmtheit, die Vorstellung von Transparenz unvereinbar mit einer Grundeinsicht der Phänomenologie: Auch wenn wir uns auf eine wie auch immer dargestellte Welt konzentrieren, behalten wir doch ein Bewusstsein für die Darstellung.
Nehamas gesteht ein, dass er nicht genau bestimmen könne, welche Elemente des Fernsehens »direkt auf die Welt projiziert« würden, aber die Tragödienrezeption richte sich für Platon ausschließlich auf das Dargestellte: »Für Platon ist Darstellung transparent. Alle relevanten Punkte, die Punkte, die sie zu der spezifischen Darstellung machen, die sie ist, stammen allein von dem Objekt, das sie darstellt und das wir direkt durch seine Darstellung sehen können.« Platon gehe davon aus, dass die Zuschauer nur den Inhalt, aber nicht seine Vermittlung, dass sie nur das Dargestellte, aber nicht die Darstellung wahrnähmen. Aufgrund dieser Unmittelbarkeit habe Fehlverhalten auf der Bühne eine so starke Wirkung und müsse zensiert werden. Die Tragödie sei in der Antike allgemein »als eine realistische Darstellung der Welt betrachtet worden. Wir wissen zum Beispiel, dass eine Gruppe von Frauen vom Auftritt der Furien in Aischylos’ Eumeniden so erschreckt wurde, dass sie Miss- oder Fehlgeburten hatte.«
Nicht nur die von Nehamas herangezogene Anekdote über die Wirkung der aischyleischen Furien – wir wissen nicht einmal, ob Frauen den antiken Theateraufführungen überhaupt beiwohnten –, auch die These zum Realismus der Tragödie ist höchst fragwürdig. Das Konzept des Realismus ist flexibel, aber wie weit wir es auch dehnen wollen, auf die griechische Tragödie ist es schwer anzuwenden: Die Schauspieler trugen Masken, das Bühnenbild war rudimentär, die Sprache metrisch und höchst artifiziell.