Politikkolumne
Der lange Abschied der SPD Kleine Parteienkunde I von Christoph MöllersDer lange Abschied der SPD Kleine Parteienkunde I
»But I’m never sure you can bribe the electorate financially. They are cleverer than that.«
Sasha Swire, Diary of an MP’s Wife
1. Am 23. September 2020, als die Partei nicht eben im Vordergrund des allgemeinen Interesses stand, titelte die FAZ in ihrer Hauptschlagzeile: »Das Ansehen der SPD auf neuem Tiefstand«. Als Anlass für diese Meldung genügte eine Umfrage. Wie beim von der Boulevardpresse vorgeblich fürsorglich begleiteten langen Sterben eines Prominenten kann bei der »ältesten Partei Deutschlands« immer noch jede kleine Verschlechterung der Lage als Neuigkeit zählen. Auch ist eine gewisse Lust am Siechtum selbst bei denen zu beobachten, die die Moribunde eigentlich mögen.
Daneben stehen die, die ihr wirklich helfen wollen. Der lange Abschied der SPD hat ein kleines Genre an Rettungs- und Beraterliteratur entstehen lassen, dessen Rezepte nicht recht anschlagen wollten, wenn sie denn von irgendwem zur Kenntnis genommen wurden.1 Das Bemerkenswerte an dieser Literatur ist ihre Gleichförmigkeit. Auf jede Wahlniederlage seit 2005 wurden von innen und außen die entsprechenden Rezepte empfohlen: Inhaltlich soll sie sich auf ihren sozialen Kern besinnen, auf »Gerechtigkeit«, organisatorisch unter Beteiligung der Mitgliederschaft modernisieren,2 gerne auch mit dem obligaten Hinweis auf die inhaltsvermeidende Strategie der »Digitalisierung«.
Vor Beantwortung der Frage, was die SPD in den letzten Jahren und Jahrzehnten falsch gemacht haben könnte, wäre freilich zu klären, ob das die richtige Frage ist. Ist der SPD ihr eigener Niedergang überhaupt zuzuschreiben? Alle Empirie spricht dagegen, dass diese Entwicklung das Ergebnis politischer Fehler wäre. Sozialdemokratische Parteien haben in ganz Europa Probleme. Die Wählerschichten, die traditionell SPD gewählt haben, schrumpfen, namentlich die Industriearbeiterschaft und die unteren und mittleren Ränge des öffentlichen Dienstes.3 Nachwachsende Generationen gehen andere politische Koalitionen ein, für die sich andere Parteien finden lassen.4 Die Selbstbeschreibung von Mittelschichten hat sich verändert. An diesem wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandel kann die SPD wenig ändern. Mit Marx macht auch die SPD ihre eigene Geschichte, aber nicht aus selbstgewählten Umständen.
Man ahnt freilich, warum sie von diesen Umständen wenig wissen will. Die Einsicht in gesamtgesellschaftliche Bedingungen hat einen entmächtigenden Effekt. Politische Parteien können schlecht die Arbeit mit dem Hinweis einstellen, ihnen ginge ohnehin ihre Wählerschaft verloren. Sie müssen »kämpfen«. Trotzdem hätte der offene Umgang mit dem unvermeidlichen Verlust des sozialdemokratischen Milieus andere Möglichkeiten eröffnen können und wenn nur dadurch, Erwartungen an Erfolg und Misserfolg zu definieren.
Davon aber sieht man in der Unterstützerliteratur wenig, die Ortsvereinsanekdotik oder Beratersprech liefert, dabei aber völliges Desinteresse an sozialwissenschaftlichen Analysen pflegt5 und in keinem Fall auf die Idee kommt, dass die eigenen politischen Interessen und der Erfolg der SPD in Widerspruch zueinander geraten könnten. Es ist unwahrscheinlich, dass eine solche Besinnung noch kommen wird – das wiederum hat Ursachen, die in der SPD selbst liegen könnten.
2. Solange die SPD eine Arbeiterpartei war, war sie auch eine Intellektuellenpartei. Zwischen Kopfarbeit und Handarbeit ließ sich wechselseitiger Respekt etablieren, und dieser Respekt verbesserte die Partei in der Sache. Einblicke in die gesellschaftliche Realität von Mehrheiten und Modelle ihrer modernisierenden Weiterentwicklung ließen sich austauschen. Eine Partei, die für Gewerkschafter und Schriftsteller erste Wahl war, konnte viel von sich selbst lernen. Nicht zufällig ging beides parallel verloren. Nicht nur ist das klassische Arbeitnehmermilieu der SPD geschrumpft, die SPD hat auch noch Anteile innerhalb des verbliebenen Milieus verloren – zugleich ist sie für Intellektuelle keine interessante Wahl mehr. Die Partei wirkt heute an geistigem Austausch außerhalb der Parteigrenzen weitgehend desinteressiert. Die Grundwertekommission ist ein überaltertes Gremium, die Debattenlage tendiert zur Selbstvergewisserung. Man versichert sich, es immer schon gut gemeint zu haben, und solche Feststellungen werden natürlich nicht dadurch interessanter, dass sie zutreffen.
Natürlich wäre es eine Professorenfantasie zu glauben, Parteien bedürften einer nennenswerten intellektuellen Entourage, um erfolgreich Politik zu machen. Die CDU beweist das Gegenteil. Für ihren politischen Erfolg war es nicht entscheidend, ob sie sich wie in der frühen Kohl-Zeit um die Intellektuellen bemühte oder gerade nicht, wie sonst fast immer. Aber vielleicht gilt für die SPD eben anderes, vielleicht war sie auf die Kombination von Hand- und Kopfarbeit besonders angewiesen. Diese versprach einen geerdeten Avantgardismus, der auch jenseits beider Milieus noch ein interessiertes Publikum mitnehmen konnte.
Die Partei war dadurch auch für die Art von Mittelschichten anziehend, die heute grün wählen und deren Anteil an der Wählerschaft mittlerweile größer sein dürfte als die Industriearbeiterschaft. Aber natürlich ist die Partei auch hier Opfer eines gesellschaftlichen Strukturwandels auf beiden Seiten: Dem Mangel an großen, politisch engagierten intellektuellen Figuren entspricht der Bedeutungsverlust der Gewerkschaften. Wenn man dieses Nebeneinander erkennt, dürfte daraus folgen, dass es auch unter erschwerten Bedingungen nicht weiterführt, die Anliegen der Intelligenz und die der Arbeitnehmerschaft als Gegensätze zu verstehen, wie es der SPD so gerne empfohlen wird.6
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.