Heft 883, Dezember 2022

Unsere Werte

von Christoph Möllers

»…, doch plötzlich war ein Wort in aller Munde, ›Werte‹ – auch wenn niemand explizit sagte, welche Werte gemeint waren –, ein Wort, das nach einer grundsätzlichen Missbilligung der Jugend, der Erziehung, der Pornographie, der Lebenspartnerschaft, des Cannabis und des Niedergangs der Rechtschreibung klang.«

Annie Ernaux

Überall Werte. Im Koalitionsvertrag der Ampel nimmt der Wertbegriff eine prominentere Rolle ein als im Vorgängerdokument der letzten großen Koalition. Die CDU hat auf ihrem letzten Parteitag eine »Charta« mit drei Grundwerten beschlossen, aus der sie ihr Parteiprogramm entwickeln will. Der Präsident des Europäischen Gerichtshofs sagt die Wertformel des Art. 2 des EU-Vertrags in verschiedenen Sprachen auswendig auf. Das Bundesverfassungsgericht hat den lange gemiedenen Begriff der grundgesetzlichen »Wertordung« wieder in seine Rechtsprechung übernommen. Unternehmer, Ministerinnen und Opernintendanten »bekennen« sich zu eigenen Werten, ebenso die FIFA und die Vereinten Nationen. In einer Stellenanzeige (»Geschäftsführung«) lautet die Erwartung »restrukturierungs- und sanierungserfahren, werteorientiert«. Zeitschriften veranstalten Podien zur Gefährdung demokratischer Werte oder stellen ein Heft unter das Thema »Welche Werte sind uns jetzt wichtig?«1 Die Theorie behandelt den lange ungeliebten Wertbegriff zunehmend mit Milde. Als »nützliche Fiktionen« könnten Werte die Funktion erfüllen, eine pluralisierte Gesellschaft mit Normen zu versorgen, die nicht zu viel von ihr verlangen2 und Kompromissbildung ermöglichen.3

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