Unsere Werte
von Christoph Möllers»…, doch plötzlich war ein Wort in aller Munde, ›Werte‹ – auch wenn niemand explizit sagte, welche Werte gemeint waren –, ein Wort, das nach einer grundsätzlichen Missbilligung der Jugend, der Erziehung, der Pornographie, der Lebenspartnerschaft, des Cannabis und des Niedergangs der Rechtschreibung klang.«
Annie Ernaux
Überall Werte. Im Koalitionsvertrag der Ampel nimmt der Wertbegriff eine prominentere Rolle ein als im Vorgängerdokument der letzten großen Koalition. Die CDU hat auf ihrem letzten Parteitag eine »Charta« mit drei Grundwerten beschlossen, aus der sie ihr Parteiprogramm entwickeln will. Der Präsident des Europäischen Gerichtshofs sagt die Wertformel des Art. 2 des EU-Vertrags in verschiedenen Sprachen auswendig auf. Das Bundesverfassungsgericht hat den lange gemiedenen Begriff der grundgesetzlichen »Wertordung« wieder in seine Rechtsprechung übernommen. Unternehmer, Ministerinnen und Opernintendanten »bekennen« sich zu eigenen Werten, ebenso die FIFA und die Vereinten Nationen. In einer Stellenanzeige (»Geschäftsführung«) lautet die Erwartung »restrukturierungs- und sanierungserfahren, werteorientiert«. Zeitschriften veranstalten Podien zur Gefährdung demokratischer Werte oder stellen ein Heft unter das Thema »Welche Werte sind uns jetzt wichtig?« Die Theorie behandelt den lange ungeliebten Wertbegriff zunehmend mit Milde. Als »nützliche Fiktionen« könnten Werte die Funktion erfüllen, eine pluralisierte Gesellschaft mit Normen zu versorgen, die nicht zu viel von ihr verlangen und Kompromissbildung ermöglichen.
Diese Renaissance versteht sich nicht von selbst. Der Wertbegriff ist nicht zeitlos, sondern ein Kind der neukantianischen Schulphilosophie, um 1860 eingeführt und schon um 1920 außer Mode gekommen. Zugleich wurde er zu einer Figur konservativ-bürgerlicher Selbstbeschreibung des späten 19. Jahrhunderts und seiner langen Nachgeschichte. Nietzsche hat den Begriff popularisiert, massiv beschädigt, aber eben nicht erledigt. Seine Formel von der »Umwertung aller Werte« machte klar, dass Werte nicht einfach gelten, sondern unter bestimmten Bedingungen entstehen und vergehen. Heute lebt sie entdramatisiert als Figur des »Wertewandels« fort und nährt als vermeintlich messbare Größe demoskopische Institute. Wie Werten trotz ihrer flagranten Abhängigkeit von den jeweiligen politischen Umständen ein normativer Gehalt zuzusprechen ist, bleibt seit Nietzsche die Frage. Kein Fach hat diese bis heute so umgetrieben wie eine protestantische Theologie, die beides zugleich sein wollte, modern und normativ.
Die Kritik am Wertbegriff ist ihrerseits nicht neu, sie muss nur ab und zu der nächsten Abbiegung des Begriffs folgen. Die linke Kritik bemerkte, wie nahtlos sich der Wertbegriff an die kapitalistische Kommodifizierung anpasst. Erweist sich das, was Wert hat, nicht gerade darin als käuflich? Die rechte Kritik konnte sich nie recht entscheiden, ob ihr Werte zu viel oder zu wenig Normativität produzierten: Ist der Begriff beliebig, also letztlich lasch? Oder dient er als Vehikel einer aggressiven Hypermoralisierung, einer bedrohlichen »Tyrannei der Werte«?
Wenn der Wertbegriff heute verwendet wird, so die Quintessenz der folgenden Beobachtungen, dann weil er moralischen Anspruch mit dessen Folgenlosigkeit verbindet – oder mit Folgen, die niemand verantworten muss. Aus diesem Grund tritt der Hinweis auf Werte »als solche« gegenüber bestimmen Werten in den Vordergrund. Man könnte sich ja zu Solidarität, Nachhaltigkeit oder Patriotismus auch bekennen, ohne überhaupt den Begriff »Wert« zu gebrauchen. Im heutigen Wertediskurs ist es umgekehrt: Wichtig ist das »Wertfundament«. Was damit gemeint ist, kann erst einmal offenbleiben. Weil aber die Frage, wo die in Anspruch genommenen Werte eigentlich herkommen, nicht ohne weiteres beantwortet werden kann, gerät der Wertbegriff zur Selbstbeschreibung. Auf die Frage »Welche Werte?« lautet die Antwort: »Unsere Werte«. So kann mit dem Wertbegriff ein Anspruch erhoben werden, dessen Inhalt im Dunkeln bleibt, der als bloße Selbstbeschreibung bescheiden wirkt, der normative Erwartungen andeutet und zugleich die eigene Motiv- und Interessenlage verdeckt. Hier droht weniger die Tyrannei der Werte als eine inkonsequente Normativierung, für die niemand zuständig sein will. Noch einmal anders gefasst: Die Berufung auf Werte erlaubt es mit Zwecken Mittel zu heiligen; genauso erlaubt sie es aber auch, unkenntlich zu machen, dass gar keine Mittel ergriffen werden.
Normative Promiskuität
Dem Wertdenken kann alles zum Wert werden. Dies ermöglicht es, verschiedenste Gesichtspunkte zugleich zu unterscheiden und auf eine gemeinsame Ebene zu stellen, vergleichbar zu machen und aneinander zu relativieren. So entsteht das große Nebeneinander von Frieden, Sicherheit, Freiheit, Gesundheit, Geschlechtergerechtigkeit, Wettbewerbsfähigkeit, Nachhaltigkeit, Heimat und Lebensfreude. Subjektiv oder objektiv, universell oder partikular, normativ oder faktisch, gleichberechtigt oder in eine Rangfolge gebracht, unbestimmt in Herleitung und Konsequenz: Wenn der Begriff überhaupt einen Eigenstand hat, dann in seiner Distanz zum rein Subjektiven. Werte scheinen mehr zu sein als bloße Rechte oder Interessen, die alle einfach fordern oder sich zu eigen machen können. Wenn freilich von »unseren« Werten die Rede ist, wird auch das fraglich.
Diese Anschmiegsamkeit des Wertbegriffs ist für normative Doktrinen, für die praktische Philosophie, die Theologie und die Juristerei nicht einfach zu verdauen. In der Philosophie müssten Werte hergeleitet werden. Solche Herleitungen erschweren die Annahme, dass Werte von sozialen Gegebenheiten abhängig oder historisch wandelbar seien, die sich für andere Disziplinen quasi von selbst versteht. Umgekehrt nimmt die These von ihrer Abhängigkeit Werten Entscheidendes von ihrem normativen Anspruch. Der Begriff dient nur noch als Kürzel für geteilte Überzeugungen, er beschreibt, was »wir« gerade meinen. So kann eine Praxis, die alles als Wert anerkennt, nicht zwischen Wert und Wertbehauptung unterscheiden. Wer behauptet, »Frieden« oder »Sicherheit« seien Werte, ist nicht darauf vorbereitet, das zu begründen. Es soll bei solchen Behauptungen auch gar nicht um Begründungen gehen, sondern um eine abgekürzte Unterstellung von geteilten Präferenzen, die auf den ersten Blick einleuchten.
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