Heft 905, Oktober 2024

Politikkolumne

Das Politische, das Soziale – und das Deutsche von Christoph Möllers

Das Politische, das Soziale – und das Deutsche

»Woran sich halten.

Aneinander nun ja; wenig genug sind wir. Sogar dieser Plural eine Hypothese.«

Barbara Köhler

Unpolitische Theorie

Es ist nicht leicht zu verstehen, wozu es Politik eigentlich gibt. Keine ausdifferenzierte Sphäre der modernen Welt steht unter solchem Legitimationsdruck, ja, Begriffe wie Legitimität und Legitimation wurden eigens für sie erfunden. Politik muss ihre Existenz rechtfertigen, und das bedeutet, dass man sich eine Welt ohne Politik zumindest vorstellen kann. Einen solchen Rechtfertigungsbedarf würde für Wirtschaft, Kunst, Religion oder Sport, kurzum dem, was im Folgenden in hilfreicher Unschärfe als das Soziale bezeichnet werden soll, niemand anmelden. Deren Existenzrecht darf getrost unterstellt werden. In der (un)politischen Theorie werden folgerichtig nicht nur Konzepte ohne alle politische Herrschaft erträumt, namentlich im Anarchismus, auch die dominante liberale Philosophie versucht, politische Herrschaft durch Rationalisierung zum Verschwinden zu bringen. Herrschaft soll es nur geben, soweit die Gründe tragen. Herrschaft ist die rechtfertigungsbedürftige Ausnahme von Herrschaftslosigkeit.

Plausibel ist das nicht. Auch wenn sich niemand illegitime Herrschaft wünscht, zeigt sich Herrschaftslosigkeit in neuerer Zeit doch allenfalls in Form des Bürgerkriegs. Wenn das zentrale Legitimationsproblem politischer Herrschaft in ungleich verteilter Macht besteht, dann findet sich dieses auch außerhalb von Politik. Ungleiche Machtverteilung in Wissenschaft, Wirtschaft oder Kunst kann nicht einfach funktional als Herrschaft der Kompetenteren und Kreativeren gerechtfertigt werden. Politik kann sich umgekehrt nicht dadurch legitimieren, dass sie schwach ist. Autoritäre Systeme zeichnet nicht selten aus, dass in ihnen die Politik Beute sozialer Mächte ist.

Trotzdem hat das Misstrauen in die Politik selbst in den Gesellschaften demokratischer Gemeinwesen etwas Selbstverständliches. Daneben pflegt es nationale Eigenheiten. In Deutschland, um das es im Folgenden allein gehen soll, zeigt es sich nicht zuletzt darin, mit welcher Selbstverständlichkeit Politisches und Soziales mit zweierlei Maß gemessen werden. Bürgerinnen und Bürger werden im Namen des »Wirtschaftsstandorts« aufgefordert, mehr zu arbeiten, aber bei Verbot der Lächerlichkeit nicht aus Patriotismus oder Gemeinsinn. Wer über Bürokratie klagt, meint damit natürlich die öffentliche Verwaltung. An die vielstöckigen sklerotischen Organisationsformate deutscher Banken und Automobilkonzerne würde niemand denken. Wie überhaupt erfolgloses Wirtschaften zumeist als politisches Problem ausgewiesen wird.

Hinter alldem steckt, so die hier vorzustellende Vermutung, der Glaube an die bloße Abgeleitetheit politischer Vergemeinschaftung aus dem Sozialen. Letztlich geht die wirtschaftliche oder kulturelle Vergemeinschaftung der politischen vor. Während politische Einheiten wie Nationen bloß imaginiert sind, sind soziale Strukturen gewachsen und aus eigenem Recht legitim. In ihren härteren Varianten wird das Soziale so zur Wurzel eines kulturalistischen, möglicherweise rassistischen Volksbegriffs; aber das soll hier weniger interessieren als die keineswegs totalitär, aber eben fundamental apolitische Konzeption von Politik als uneigentlichem Produkt des Sozialen. Dabei soll es ausdrücklich nicht darum gehen, verschüttete Fantasien staatlicher Souveränität wiederauferstehen zu lassen. Es geht um den normativen Anspruch demokratischer Politik, darum, dass die künstliche und umständliche Form der Vergemeinschaftung in politischer Freiheit und Gleichheit nur dort funktioniert, wo sie ihre Eigenheiten bewahren kann.

»Staat und Gesellschaft«

Einer viel erzählten Geschichte zufolge ist die Annahme, Staat und Gesellschaft seien voneinander getrennte Einheiten, Ausdruck eines unzureichenden, typisch deutschen Politikverständnisses. Man habe sich den Staat in Deutschland als von der Gesellschaft abgehobenes Gebilde vorgestellt, als neutrale Bürokratie, die sich mit dem Sozialen nicht gemein mache, und damit von vornherein in obrigkeitsstaatlichen Kategorien gedacht. Richtig sei es dagegen, in der Demokratie Politik als Selbstorganisation des Sozialen zu denken.

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