Popkolumne
Illusorischer Realismus von Jens-Christian RabeBei entwickelten Pop-Kunstformen ist die Identität zwischen ihren bemerkenswertesten und ihren erfolgreichsten Variationen die Ausnahme. Wenn man sich in diesem Sinn in den vergangenen Monaten Gedanken über Pop machte, war es unmöglich, dabei nicht sofort auch an die Möglichkeiten zu denken, die hochentwickelte, mit riesigen Datenmengen trainierte Computeranwendungen nun also auch bei der Produktion von Popmusik bieten.
Die Frage der Stunde stellte Ben Beaumont-Thomas im Guardian: »We soon won’t tell the difference between AI and human music – so can pop survive?« Ist Pop in Lebensgefahr, weil KI-Anwendungen am Ende bessere Popmusik machen als die Künstlerinnen, die sie imitieren? Was war passiert? Der mithilfe von schöpferischer KI – so genannter »generative artificial intelligence« – produzierte und am 4. April 2023 von einem »Ghostwriter977« auf Streaming-Plattformen wie Apple Music, Youtube und Spotify veröffentlichte Fake-Song Heart On My Sleeve der beiden Superstars Drake und The Weeknd war viral gegangen. Komponiert wurde er ohne Hilfe von KI, nur was Drake rappt und was The Weeknd singt, hat Drake nie gerappt und The Weeknd nie gesungen.
Der Song entstand mithilfe von KI-Anwendungen, die in der Lage sind, beliebige Texte mit der Stimme eines bekannten Künstlers zum Besten zu geben, wenn sie nur mit genug Originalmaterial trainiert worden sind. Man kann mit den Anwendungen natürlich auch allerlei andere Späße probieren, also zum Beispiel auf dem eigenen Computer Kurt Cobain den Baby-Shark-Song singen lassen oder vermeintlich neue, unveröffentlichte Frank-Ocean-Songs für sechsstellige Summen an gutgläubige Hardcore-Fans verkaufen oder als unbekannte Band unter dem Namen »AIsis« ein – gar nicht übles – Album mit Oasis-Kopf Liam Gallagher als Leadsänger aufnehmen. Man glaubt mitunter kaum, wie akkurat die KI-Imitationen klingen.
Als Heart On My Sleeve auf Drängen von Universal Music, wo der kanadische Rapper und der amerikanische Sänger unter Vertrag stehen, nach einigen Tagen wieder verschwand, war es bereits 600 000 Mal bei Spotify, 275 000 Mal bei Youtube und 15 Millionen Mal bei TikTok gestreamt worden. Ein inoffizieller Twitter-Upload brachte es sogar auf knapp sieben Millionen Views. Künstlerisch gesehen ist der Fake-Song alles andere als ein Meisterwerk, anders als die eher mäßig inspirierten echten Drake- und TheWeeknd-Singles der jüngsten Zeit klingt er aber eben auch nicht.
Wer nicht Bescheid weiß, der würde den Song in seiner Playlist wohl nicht als Fake erkennen. Sogar richtig gut ist das Fake-Feature auf dem Track Savages der französischen Old-School-Hip-Hop-Gruppe AllttA. Kyle Chayka nannte es im New Yorker »illusorischen Realismus«: »Der von Menschen geschriebene Song ist für sich schon sehr gut, aber die vertraute Stimme von Jay-Z fügt ihm etwas irritierend Bezwingendes hinzu, er klingt wie eine unveröffentlichte B-Seite aus den Neunzigern.«
Universal, der größte Musikkonzern der Welt, nutzte die Angelegenheit geschickt für ein paar Pathosformeln: Die Sache werfe die dringende Frage auf, »auf welcher Seite der Geschichte alle Beteiligten im Ökosystem Musik stehen wollen: auf der Seite der Künstler, der Fans und der menschlichen Kreativität – oder auf der Seite der Fakes, des Betrugs und der Weigerung, den Künstlern zu zahlen, was ihnen zusteht«. Wenig später wurde bekannt, dass Google und Universal schon an einem Tool arbeiten, mit dem künftig KI-Songs identifiziert und monetarisiert werden können. Die Sängerin Grimes erklärte mit untrüglichem Gespür für den Geist der Zeit umgehend, dass ihre Stimme gerne von jedem für KI-Experimente genutzt werden könne – gegen 50 Prozent der Einnahmen.