Heft 909, Februar 2025

Rechtskolumne

Definiere Antisemitismus von Marietta Auer

Definiere Antisemitismus

Am 7. November 2024, am Tag nach dem Scheitern der Berliner Ampelkoalition, gelang das schon fast nicht mehr für möglich Gehaltene: Unter der Überschrift »Nie wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken« verabschiedete der Deutsche Bundestag die seit über einem Jahr erwartete Resolution zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland.1 Es wäre peinlich gewesen, hätte Deutschland an dieser Stelle nichts, noch nicht einmal eine rechtlich unverbindliche Bundestagsresolution zustande gebracht; peinlich nicht nur mit Blick auf die galoppierende Zunahme antisemitischer Übergriffe seit dem 7. Oktober 2023, sondern peinlich auch deswegen, weil diese Zunahme nicht präzedenzlos war.

Spätestens der Antisemitismusskandal auf der documenta fifteen 2022 hatte das Dilemma der deutschen Kulturpolitik ins grelle Scheinwerferlicht gerückt: Wie weit darf der Staat in seinem legitimen Bestreben, Antisemitismus in der Gesellschaft, in Kunst, Kultur und Wissenschaft zu bekämpfen, in die Grundrechte von Bürgern, Künstlern, Wissenschaftlern und Kulturschaffenden eingreifen? Darf er eine eigene Einschätzung darüber treffen, wo der Rahmen legitimer Freiheitsausübung verlassen ist, weil unter deren Deckmantel antisemitische Propaganda betrieben wird? Darf er wenigstens davon absehen, solches Treiben auch noch mit öffentlichen Mitteln zu subventionieren?

So einfach sich die Frage formulieren lässt, so schwer ist sie zu beantworten. Nach reiner liberaler Grundrechtslehre gibt es innerhalb der durch das Strafrecht abgesteckten Grenzen grundsätzlich keinen Raum für staatliche Meinungspolitik. Der Staat ist nicht befugt, Meinungsäußerungen, Kunstwerke und wissenschaftliche Erkenntnisse danach zu beurteilen, ob ihre Ergebnisse zum herrschenden Wertekonsens des demokratischen Parteienspektrums passen. Auch antisemitische Kunst ist, so weh es tut, Kunst; auch grundgesetzfeindliche Meinungen sind innerhalb der Grenzen des Strafrechts schutzwürdige Meinungen.

Dabei geht es um mehr als bloße Grundrechtsdogmatik. Es geht, wenn man so will, um den Kern des Selbstverständnisses des liberalen Rechtsstaats, der sich hier in einer paradoxen Lage befindet: Dass »Antisemitismus keine Meinung« sei, wie in der Debatte im vergangenen Jahr verschiedentlich zu hören war, ist zwar moralisch richtig, aber rechtlich strenggenommen falsch. Wenn nun aber der Staat – wie es dem deutschen Staat angesichts seiner Geschichte gar nicht anders möglich ist – sich vorbehalten will, antisemitischen Umtrieben im deutschen Kulturbetrieb die Unterstützung durch öffentliche Mittel zu versagen, dann muss er sich auch einen Begriff von Antisemitismus bilden; er muss sich dazu bekennen, dass er meinungspolitisch eben doch nicht neutral agiert.

Dagegen lässt sich nicht gut einwenden, dass staatlicher Fördergeldentzug noch keine Zensur bedeutet und jeder auch weiterhin meinen und malen darf, was er will, nur eben nicht auf Staatskosten. Denn dann müsste man konsequenterweise das goldene Gängelband staatlicher Kunst- und Kulturförderung ganz abschneiden und dem Staat jegliche Befugnis zur Kulturpolitik mit öffentlichen Mitteln absprechen. Wie also kann der Staat in seinem Förderhandeln Antisemitismus entgegentreten, ohne die Grundrechte von Zuwendungsempfängern verfassungswidrig zu beschneiden?

Ein erster Anlauf des Berliner Kultursenators zur Einführung einer Antidiskriminierungsklausel, die Förderungsempfänger auf ein Bekenntnis gegen Antisemitismus im Sinne der Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) verpflichten wollte, scheiterte im Januar 2024 an massiven Protesten aus der Kulturszene und wurde postwendend zurückgezogen.2 Geschickter präsentierte sich der Versuch des Schleswig-Holsteinischen Landtags, keine obligatorische Bekenntnispflicht, sondern vielmehr eine bloße Ermächtigungsgrundlage im Landeshaushaltsrecht zu verankern, um es Zuwendungsgebern zu ermöglichen, Mittelvergaben künftig an die Erfüllung rechtsstaatlicher Vorgaben zu knüpfen.3

Denselben Weg weist nunmehr die Antisemitismusresolution des Bundestags. Danach sollen Länder, Bund und Kommunen »rechtssichere, insbesondere haushälterische Regelungen erarbeiten, die sicherstellen sollen, dass keine Projekte und Vorhaben insbesondere mit antisemitischen Zielen und Inhalten gefördert werden«. Wie das gelingen soll, bleibt allerdings weiterhin im Unklaren. Die drei Gesetzentwürfe zur Änderung der Landeshaushaltsordnung, die dem Schleswig-Holsteinischen Landtag im Juli 2024 vorlagen, haben eines gemeinsam: Sie vermeiden geflissentlich eine Definition dessen, was Antisemitismus in diesem Zusammenhang bedeutet.

Anders dagegen die im November beschlossene Antisemitismusresolution des Bundestags, die sich erneut ausdrücklich zur Definition der IHRA bekennt und damit an die Beschlüsse des Bundeskabinetts vom 20. September 2017 sowie des Bundestags vom 17. Mai 2019 anknüpft. Bei letzterem handelt es sich um die sogenannte BDS-Resolution, die unter dem Titel »Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen« Boykotte gegen Israel sowie israelische Waren, Dienstleistungen und Personen verurteilt und solche Praktiken unter Zugrundelegung der IHRA-Definition als antisemitisch bezeichnet.4

Seitdem ist die Definitionsfrage zum Stellvertretergefecht in einem politischen Stellungskampf geworden, in dem sich schon lange vor dem 7. Oktober 2023 unversöhnliche Fronten gegenüberstanden: Auf der einen Seite die deutsche Politik mit ihrem Bekenntnis zur Sicherheit Israels und ihrer Unterstützung der IHRA-Arbeitsdefinition. Auf der anderen Seite die Kritiker, die auf der Unterscheidung von Antisemitismus, Antizionismus und legitimer Israel-Kritik beharren und sich durch die breite Definition der IHRA in ihrer Kunst-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit beschnitten sehen.

Vordergründig geht es darum, wer den richtigen Antisemitismusbegriff besitzt. Auf der einen Seite steht die »Arbeitsdefinition zum Antisemitismus« der IHRA,5 einer 1998 in Schweden gegründeten internationalen Organisation, zu deren 35 Mitgliedstaaten auch Deutschland zählt. Bereits kurz nach ihrer Verabschiedung im Jahr 2016 wurde die IHRA-Arbeitsdefinition von Staaten und nichtstaatlichen Organisationen auf der ganzen Welt als verbindlicher Leitfaden zur Antisemitismusbekämpfung anerkannt. So haben sich seit 2017 namentlich die Spitzeninstitutionen der Europäischen Union zur IHRA-Arbeitsdefinition bekannt – ein in der aktuellen Debatte erstaunlicherweise kaum gehörtes Argument.6

Im Kern besteht die IHRA-Arbeitsdefinition aus zwei Sätzen: »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und /oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.« Dieser Kerndefinition folgt eine Umschreibung des modernen israelbezogenen Antisemitismus: »Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.«7

Es folgt eine Aufzählung von elf Beispielsfällen zu aktuellen Erscheinungsformen von Antisemitismus, die vom »Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Jüdinnen und Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremistischen Religionsanschauung« über »falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Jüdinnen und Juden oder die Macht der Jüdinnen und Juden als Kollektiv« bis hin zum »Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen« reichen. Dem israelbezogenen Antisemitismus wird auch in den Beispielsfällen besonderes Gewicht eingeräumt. Zu diesen zählt die IHRA-Definition etwa die »Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird« sowie »Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten«.

Was an alledem ist falsch? Nichts, möchte man laut ausrufen. Insbesondere ist die von den Kritikern immer wieder reflexhaft wiederholte Unterstellung, nach der IHRA-Definition gelte jegliche Kritik an Israel und dem zionistischen Projekt als Antisemitismus, schon deren ausdrücklichem Wortlaut nach falsch. Aber das reicht den Kritikern nicht. Sie beharren darauf, dass die IHRA-Definition den Unterschied zwischen Antisemitismus und legitimen Formen der Israel-Kritik sowie des religiösen und säkularen Antizionismus einebne.

Vor diesem Hintergrund entwarf eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern im Jahr 2021 die »Jerusalem Declaration on Antisemitism« (JDA) als Alternativdefinition.8 Diese setzt strukturell anders an als die IHRA-Definition. Sie geht axiomatisch davon aus, dass die Wurzel des Antisemitismus in einer Essentialisierung des Jüdischen liege, die im Kern rassistisch sei. Für die Bekämpfung des Antisemitismus gelte damit nichts anderes als für die Bekämpfung von Rassismus im Allgemeinen. Antizionismus sei hingegen kategorisch von Antisemitismus zu trennen. Zionismus sei als jüdischer Nationalismus ebenso wie jeder andere Nationalismus legitimer Gegenstand von Kritik, während rassistische Diskriminierung weder gegen Juden noch gegen Angehörige jeder anderen Bevölkerungsgruppe legitim sei.

Strukturell liegt dieser Ansatz also diametral über Kreuz mit dem der IHRA-Definition: Während letztere in Anknüpfung an das singuläre Verbrechen des Holocaust tendenziell die Singularität antisemitischer Praktiken betont und damit etwa Doppelstandards in Bezug auf Israel ohne Weiteres als antisemitisch erkennt, geht erstere den gegenteiligen Weg, indem sie den Antisemitismusbegriff im allgemeinen Projekt des Antirassismus auflöst, von dem aus plötzlich das zionistische Projekt Israel im Kreuzfeuer der antirassistischen und postkolonialen Kritik steht.

Wie wirkt sich dieser theoretische Unterschied auf die Sprachfassung der Jerusalem Declaration aus? Grundsätzlich unterscheidet sich ihre Struktur nur wenig von derjenigen der IHRA-Definition. Auch die JDA besteht aus einer Kerndefinition, der hier zusätzlich eine Präambel vorangestellt ist, sowie einem Katalog von fünfzehn konkretisierenden Leitlinien. Nach der Kerndefinition ist Antisemitismus – nicht viel anders als nach der Kerndefinition der IHRA – »Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische)«.

Die Differenzen zeigen sich bei der Ausgestaltung der Leitlinien. Schon der schiere Umfang zeigt den Unterschied. Das, wofür die IHRA-Definition in der deutschen Version exakt 500 Wörter benötigt, nimmt in der JDA 783 Wörter in Anspruch. Der nächste Unterschied: der Wille zu Abstraktion, Systematisierung und akademischer Aussage. Die fünfzehn Leitlinien der JDA sind in drei Gruppen zu je fünf unterteilt: »A. Allgemein«, »B. Israel und Palästina: Beispiele, die als solche antisemitisch sind« und »C. Israel und Palästina: Beispiele, die nicht per se antisemitisch sind«.

Anders als nach der IHRA-Definition gibt es hier also explizite Bereichsausnahmen, die bestimmte Äußerungen von vornherein aus dem Antisemitismusbegriff herausdefinieren wollen. Betrachtet man die einzelnen Leitlinien, so formulieren sie zunächst das erwähnte Credo, dass Antisemitismus ein Sonderfall des Rassismus sei, fahren danach mit der Beschreibung klassischer antisemitischer Vorurteile und Handlungen fort und ordnen schließlich etwas unvermittelt die Leugnung des Holocaust als antisemitisch ein. Sodann folgen fünf Regelbeispiele für israelbezogenen Antisemitismus, die allerdings nicht die tatsächlichen Streitfälle der aktuellen Debatte abbilden.

Weitaus gewichtiger sind dagegen die nur optisch gleichrangigen letzten fünf Regelbeispiele, die nach Auffassung der Verfasser nicht per se als antisemitisch zu qualifizieren sind. Hier findet sich einerseits Selbstverständliches und Tautologisches wie die Aussage, dass »im Allgemeinen« für Israel und Palästina »dieselben Diskussionsnormen« gelten, »die auch für andere Staaten und andere Konflikte um nationale Selbstbestimmung gelten«.9 Andererseits wird im Gestus der Behauptungsrhetorik mit Aussagen operiert, die keineswegs selbstverständlich sind: »Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch.«10

Hier soll es nicht darum gehen, welche Definition im Ergebnis richtig ist. Es soll auch nicht darum gehen, ob sich Antisemitismus in Kunst, Kultur und Wissenschaft durch Bekenntnisklauseln bekämpfen lässt, ohne größeren Flurschaden in diesen Institutionen anzurichten – sicher nicht. Worum es vielmehr gehen soll, ist die Gestalt der aktuellen Debatte über den Rechtsbegriff des Antisemitismus. Es geht, genauer gesagt, um die bemerkenswerte Gestalt einer Debatte mit einer politischen Agenda, die sich äußerlich in das Gewand einer juristischen Debatte um die Definition eines Rechtsbegriffs kleidet. Der Rechtsbegriff: Antisemitismus. Die herrschende Definition: die der IHRA. Die Agenda: die IHRA-Definition strategisch zu diskreditieren und durch Verweis auf die alternative Definition der JDA Kritik am Staat Israel, seiner Existenz und seiner Politik möglichst weitgehend gegen den Antisemitismusvorwurf zu immunisieren.

Dies insbesondere dann, wenn der Raum »from the river to the sea« für einen palästinensischen Staat in Anspruch genommen werden soll: »Es ist nicht per se antisemitisch, Regelungen zu unterstützen, die allen Bewohner:innen ›zwischen dem Fluss und dem Meer‹ volle Gleichberechtigung zugestehen, ob in zwei Staaten, einem binationalen Staat, einem einheitlichen demokratischen Staat, einem föderalen Staat oder in welcher Form auch immer.«11 In welcher Form auch immer.

Was tun Juristen, wenn sie über Definitionen von Rechtsbegriffen streiten? Die folgende Aussage mag überraschen: Juristen streiten sich meist nicht über Definitionen von Rechtsbegriffen. Einem Klischee zufolge soll es im späten 19. Jahrhundert einmal anders zugegangen sein. Doch diese verpönte Zeit der sogenannten Begriffsjurisprudenz ist – abgesehen davon, dass es sie nie gegeben hat – in jedem Fall längst Geschichte. Wenn Juristen darüber streiten, was etwa »Eigentum«, »die guten Sitten«, »Nötigung« oder »gefährliches Werkzeug« bedeuten, verfolgen sie in aller Regel nicht den Anspruch, diese Begriffe durch logisch deckungsgleiche Aussagesätze trennscharf zu definieren. Strenggenommen geht es Juristen bei der Auslegung und Konkretisierung von Rechtsbegriffen auch gar nicht um deren Definition, sondern vielmehr um deren Explikation, also die hermeneutische Konkretisierung von vagen Begriffen der Umgangssprache zwecks Überführung in die wissenschaftliche Rechtssprache.

Solche auslegende Konkretisierung ist ohne Betrachtung konkreter Anwendungsfälle und ohne Berücksichtigung des konkreten Normzwecks nicht möglich. Wenn Juristen über die Bedeutung von Rechtsbegriffen streiten, verharren sie also nie auf einer rein begrifflichen oder theoretischen Ebene. Sie spielen auch keine Definitionen gegeneinander aus, sondern konzentrieren sich auf die Lösung konkreter Fälle und bilden ihre Begriffe danach. Dabei kann es vorkommen, dass ein Rechtsbegriff wie etwa »Eigentum« in verschiedenen Normzusammenhängen verschiedene Bedeutungen besitzt. Es kann auch vorkommen, dass Generalklauseln wie »die guten Sitten« durch andere Generalklauseln wie »Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden« konkretisiert werden, ohne dass irgendjemand von einer solchen »Definition« erwarten würde, dass sie hinreichend präzise ist, um konkrete Fälle zu lösen. Vielmehr ist Juristenarbeit genau das: unbestimmte Rechtsbegriffe fallweise zu konkretisieren, ohne dass es dabei auf abstrakte Definitionen oder Theorien ankäme.

Geht man mit diesem Rüstzeug an die aktuelle Debatte über juristische Antisemitismusbegriffe heran, sticht schon ins Auge, dass die Auseinandersetzung um die »umstrittene« IHRA-Definition und die konkurrierende JDA weitgehend an den konkreten Fällen vorbei geführt wird, die sich in der Kulturförderung, an den Universitäten und auf den Straßen jeden Tag ereignen. Man kritisiert die IHRA-Definition als zu unbestimmt, um Fälle von Antisemitismus richtig zu identifizieren, vermeidet aber gleichzeitig eine konkrete Auseinandersetzung über ebendiese Fälle. Stattdessen argumentiert man vom Ergebnis her und weiß schon von vornherein, dass sich die IHRA-Definition zu deren rechtssicherer Behandlung angeblich nicht eignet.

Dabei geht es immer wieder um dieselben Argumente: Die IHRA-Definition sei »zu vage«, »zu unklar« oder »zu unpräzise«; sie sei ausdrücklich als »nicht rechtsverbindliche Arbeitsdefinition« gedacht;12 sie sei ihrer Zwecksetzung nach auf »Entgrenzung« statt »Eingrenzung« angelegt und damit übermäßig breit;13 sie verenge den Antisemitismusbegriff und ersticke die Meinungsvielfalt in Bezug auf Israel und Palästina;14 schließlich – die schweren Geschütze zum Schluss – essentialisiere sie eine bestimmte Form von jüdischer Identität, negiere den Pluralismus jüdischen Lebens in Deutschland, beschneide die religiöse Freiheit antizionistischer jüdischer Strömungen, mische sich in den innerjüdischen Diskurs über legitime Staatlichkeit ein und habe damit »jurispathische« Wirkung.15

Was ist von alledem zu halten? Fangen wir von vorne an: Selbst wenn die IHRA-Definition »vage«, »unklar« oder »unpräzise« wäre, folgt daraus noch kein juristisch schlagendes Argument gegen ihre Brauchbarkeit. Juristen, die so argumentieren, sollten eigentlich wissen, dass alle Rechtsbegriffe unbestimmt sind und die Hauptlast der Konkretisierung immer am konkreten Fall und nicht an der abstrakten Definition hängt. Der Rechtsbegriff des Antisemitismus bildet insoweit keine Ausnahme. Außerdem ist mindestens ein Fragezeichen angebracht, ob die IHRA-Definition tatsächlich so unbestimmt ist, wie ihre Kritiker behaupten. Wichtige Fallgruppen des modernen Antisemitismus werden von der IHRA-Definition adressiert und auch von der JDA nicht präziser gefasst, so dass sich der Verdacht aufdrängt, dass das Argument von der angeblichen Unklarheit strategisch so lange gebetsmühlenhaft wiederholt wird, bis sich der IHRA-Definition das Etikett »umstritten« anheften lässt.

Zweitens: Auch das Argument, dass es sich bei der IHRA-Definition um eine »nicht rechtsverbindliche Arbeitsdefinition« handele, die für die Anwendung in juristischen Kontexten schon ihrem eigenen Anspruch nach nicht geeignet sei, entpuppt sich bei näherem Zusehen als Scheinriese. Tatsächlich grenzt es an juristische Desinformation, zu behaupten, es sei einem Gesetzgeber verwehrt, einen nicht rechtsverbindlichen Text wie die IHRA-Definition in geltendes Recht zu überführen, nur weil dieser Text selbst so nicht verstanden werden will.

»What the Queen in Parliament enacts is law«, schreibt der englische Rechtstheoretiker H. L. A. Hart und meint damit, dass Rechtssetzer selbst entscheiden können, was sie zu Recht machen und was nicht.16 Falls der Deutsche Bundestag beschlösse, die IHRA-Definition in geltendes Recht umzusetzen, wäre er daran also jedenfalls nicht durch deren eigenes Dementi gehindert. Ob das auch klug wäre, ist eine andere Frage. Daher hat der Bundestag im vergangenen November wohlweislich kein Gesetz, sondern eine bloße Resolution verabschiedet, die sich den nicht rechtsverbindlichen Charakter der IHRA-Arbeitsdefinition ausdrücklich zu eigen macht.

Ist Letzteres nun aber, kann man weiter fragen, logisch überhaupt möglich oder nicht vielmehr in sich widersprüchlich? Kann eine Resolution des Deutschen Bundestags, also ein hoheitlicher und damit zumindest als Soft Law im Zweifel doch rechtsrelevanter Akt, über sich selbst erklären, auf einer nicht rechtsverbindlichen Grundlage zu beruhen? »Ceci n’est pas une pipe«? Man könnte hier in tiefe philosophische Spekulationen geraten, wenn es nicht wiederum in der Praxis recht einfach wäre: Das Recht verweist an vielen Stellen – siehe »die guten Sitten« – auf außerrechtliche, nicht rechtsverbindliche Sinnzusammenhänge. Es gibt also keinen Grund, warum es nicht auch auf eine Arbeitsdefinition verweisen und diese als solche ernst nehmen sollte. Im Übrigen gilt dasselbe für die JDA, denn auch diese ist nach der erklärten Absicht ihrer Verfasser »keinesfalls als rechtliches oder quasi-rechtliches Instrument gedacht«. Gesetzgeber, die sich mit der Sanktionierung von Antisemitismus in rechtlich relevanten Zusammenhängen befassen, haben also letztlich gar keine andere Wahl, als sich aus dem Arsenal der verschiedenen verfügbaren nicht rechtsverbindlichen Arbeitsdefinitionen zu bedienen.

Damit gibt es aber drittens folgerichtig auch keinen Grund, warum nicht auch der »entgrenzende« Antisemitismusbegriff der IHRA-Definition in rechtlichen Zusammenhängen handlungsleitend sein sollte, solange dieser Definitionshintergrund bei der Auslegung berücksichtigt wird. Richtigerweise gibt es weder einen logischen noch einen juristischen Grund, warum Definitionen immer »eingrenzend« und nicht »entgrenzend« sein müssten – es gibt schlicht keine juristische oder logische Kategorie, die dies fordert.

Damit trifft auch der Vorwurf nicht zu, die IHRA-Definition »verenge« den Antisemitismusbegriff – es finde also gewissermaßen eine »Verengung« durch »Entgrenzung« statt. Denn es steht auch nirgendwo geschrieben, dass es nicht möglich wäre, mehrere Definitionen in Kombination miteinander anzuwenden, sie dabei wechselseitig kritisch zu hinterfragen und auf dieser Grundlage etwa in Förderfragen im Zweifel für den Antragsteller zu entscheiden. Die JDA legt ihren Anwendern sogar ausdrücklich die Möglichkeit nahe, sie zu »nutzen, um die Unzulänglichkeiten der IHRA-Definition zu korrigieren«.

Es wäre aber ein Missverständnis, wenn solche Korrekturmöglichkeiten als Einbahnstraße verstanden würden. Für die JDA gilt nämlich insoweit nichts anderes als für jede andere wissenschaftliche Dienstleistung auf dem Gebiet der Antisemitismusforschung: Sie ist, auch wenn sie sich selbst anders präsentiert, keineswegs über jeden Zweifel erhaben oder immun gegen Kritik. Sie behauptet, dass es einen kategorischen Unterschied zwischen Antisemitismus und Antizionismus gebe. Sie begründet es nicht. Sie verlangt vielmehr ihrerseits eine Umkehrung der Begründungslast: Antizionismus und Israel-Kritik sollen nicht mehr im Regelfall, sondern nur noch im Ausnahmefall antisemitische Rede darstellen. So entsteht durch schlichte Neusortierung der Argumente eine strategische Neuausrichtung des Argumentationsfelds.

Zieht man die Schraube nun noch eine Umdrehung weiter an, gelangt man schließlich zur vierten oben genannten Argumentationsgruppe: Essentialisiert die deutsche Politik durch die Annahme der IHRA-Definition eine bestimmte Form von jüdischer Identität? Negiert sie den Pluralismus jüdischen Lebens? Mischt sie sich ungebührlich in den innerjüdischen Diskurs ein? So zu argumentieren heißt, dem deutschen Staat die Befugnis schlechthin abzusprechen, auf rechtlicher Grundlage zu entscheiden, ob und wann Antisemitismus vorliegt. Zu Ende gedacht läuft der strategische Angriff der Gegner der IHRA-Definition auf Folgendes hinaus: Sie wollen nicht nur, dass der deutsche Staat die richtige Antisemitismusdefinition verwendet. Sie wollen vielmehr, dass der deutsche Staat gar keine Antisemitismusdefinition verwendet. Sie fordern im Zweifel Freiheit für antisemitische Kunst, Wissenschaft und Rede. Zugleich fordern sie jedoch Freiheit von der Beurteilung solcher Kunst, Wissenschaft und Rede als antisemitisch.

Dahinter scheint eine schwer auszuhaltende kognitive Dissonanz zu stecken, die sich nur so auflösen lässt, dass man das antisemitische Böse per Bereichsausnahme aus dem Kampf für das Gute – die freie Rede, die freie Wissenschaft, die freie Kunst und ihre auskömmliche Förderung – hinausdefiniert, um nicht an der Komplexität der liberalen Gesellschaft zu verzweifeln. Es ist fast so, als würden die Helden des freien Meinungskampfs in der Mitte ihres Feldzugs einknicken und gern schon vor der Schlacht mit dem Siegerkranz vom Feld getragen werden. Haltet durch, möchte man ihnen zurufen. Der Kampf um die Grundwerte der liberalen Gesellschaft hat gerade erst begonnen.

1

Deutscher Bundestag, Drucksache 20/13627 vom 5. November 2024 (dserver.bundestag.de/btd/20/136/2013627.pdf). Eine weitere Resolution gegen Antisemitismus an Hochschulen befand sich Ende November 2024 noch im Entwurfsstadium. Zur Kritik vgl. Ralf Michaels u.a., Konsens statt Kompromiss. In FAZ (online) vom 23. Oktober 2024 (www.faz.net/einspruch/exklusiv/antisemitismus-in-deutschland-debatte-um-bundestagsresolution-110063856.html?share=Email&gift&premium=0x05695151a6c949fa1e712de1b7e1e6772eb32beca378ef329ab411948110be9b); zum Ganzen vgl. Thomas Thiel, Vernetzte Indifferenz. In FAZ (online) vom 26. November 2024.

2

Pressemitteilung der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt vom 22. Januar 2024, Antidiskriminierungsklausel kommt ab sofort nicht mehr zur Anwendung (www.berlin.de/sen/kultgz/aktuelles/pressemitteilungen/2024/pressemitteilung.1407434.php).

3

Schleswig-Holsteinischer Landtag, Drucksache 20/2321 vom 4. Juli 2024; Drucksache 20/2347 vom 12. Juli 2024; Drucksache 20/2362 vom 16. Juli 2024 (www.landtag.ltsh.de/nachrichten/24_07_17_foerderung-antidiskriminierung/).

4

Deutscher Bundestag, Drucksache 19/10191 vom 15. Mai 2019 (dserver.bundestag.de/btd/19/101/1910191.pdf).

5

holocaustremembrance.com/resources/arbeitsdefinition-antisemitismus

6

European Commission, EU handbook for the practical use of the IHRA working definition of antisemitism, 2020 (holocaustremembrance.com/resources/eu-handbook-ihra-working-definition-antisemitism).

7

Diese Erweiterung machte sich das Bundeskabinett in seinem Beschluss vom 20. September 2017 ausdrücklich zu eigen (www.antisemitismusbeauftragter.de/Webs/BAS/DE/bekaempfung-antisemitismus/ihra-definition/ihra-definition-node.html).

8

jerusalemdeclaration.org/; deutsche Fassung: jerusalemdeclaration.org/wp-content/uploads/2021/03/JDA-deutsch-final.ok_.pdf

9

JDA, Leitlinie 13.

10

JDA, Leitlinie 14.

11

JDA, Leitlinie 12.

12

Repräsentativ Kai Ambos u.a., Die Implementation der IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus ins deutsche Recht – eine rechtliche Beurteilung. In: Verfassungsblog vom 18. Dezember 2023 (verfassungsblog.de/die-implementation-der-ihra-arbeitsdefinition-antisemitismus-ins-deutsche-recht-eine-rechtliche-beurteilung/).

13

Mark Siemons, Ausweichen als Prinzip. Ein Kommentar. In FAZ (online) vom 8. November 2024 (www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/warum-die-antisemitismus-resolution-des-bundestags-zu-vage-ist-110098492.html).

14

»Repression ist nicht der richtige Weg«. Interview von Frederik Eikmanns mit Paula-Irene Villa Braslavsky. In: taz vom 7. November 2024 (taz.de/Soziologin-ueber-Antisemitismusresolution/!6046643/).

15

Itamar Mann /Lihi Yona, Wer darf jüdische Identität in Deutschland definieren? In: Verfassungsblog vom 7. November 2024 (verfassungsblog.de/antisemitismus-resolution-bundestag-ihra/). Ausführlicher dies., Defending Jews From The Definition of Antisemitism. In: UCLA Law Review, Nr. 71, 2024, i. E. (papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4904008). Eine eingehende Würdigung dieser Argumentation hätte ihre Verankerung in der »Establishment Clause« des ersten Zusatzartikels zur Verfassung der Vereinigten Staaten zu berücksichtigen, die im deutschen Verfassungsrecht kein Pendant besitzt. Zur »jurispathischen« Wirkung des staatlichen Rechts grundlegend Robert M. Cover, The Supreme Court, 1982 Term. Foreword: Nomos and Narrative. In: Harvard Law Review, Nr. 97/1, November 1983.

16

L. A. Hart, The Concept of Law [1961]. Oxford University Press 2012.