Rechtskolumne
Definiere Antisemitismus von Marietta AuerDefiniere Antisemitismus
Am 7. November 2024, am Tag nach dem Scheitern der Berliner Ampelkoalition, gelang das schon fast nicht mehr für möglich Gehaltene: Unter der Überschrift »Nie wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken« verabschiedete der Deutsche Bundestag die seit über einem Jahr erwartete Resolution zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland. Es wäre peinlich gewesen, hätte Deutschland an dieser Stelle nichts, noch nicht einmal eine rechtlich unverbindliche Bundestagsresolution zustande gebracht; peinlich nicht nur mit Blick auf die galoppierende Zunahme antisemitischer Übergriffe seit dem 7. Oktober 2023, sondern peinlich auch deswegen, weil diese Zunahme nicht präzedenzlos war.
Spätestens der Antisemitismusskandal auf der documenta fifteen 2022 hatte das Dilemma der deutschen Kulturpolitik ins grelle Scheinwerferlicht gerückt: Wie weit darf der Staat in seinem legitimen Bestreben, Antisemitismus in der Gesellschaft, in Kunst, Kultur und Wissenschaft zu bekämpfen, in die Grundrechte von Bürgern, Künstlern, Wissenschaftlern und Kulturschaffenden eingreifen? Darf er eine eigene Einschätzung darüber treffen, wo der Rahmen legitimer Freiheitsausübung verlassen ist, weil unter deren Deckmantel antisemitische Propaganda betrieben wird? Darf er wenigstens davon absehen, solches Treiben auch noch mit öffentlichen Mitteln zu subventionieren?
So einfach sich die Frage formulieren lässt, so schwer ist sie zu beantworten. Nach reiner liberaler Grundrechtslehre gibt es innerhalb der durch das Strafrecht abgesteckten Grenzen grundsätzlich keinen Raum für staatliche Meinungspolitik. Der Staat ist nicht befugt, Meinungsäußerungen, Kunstwerke und wissenschaftliche Erkenntnisse danach zu beurteilen, ob ihre Ergebnisse zum herrschenden Wertekonsens des demokratischen Parteienspektrums passen. Auch antisemitische Kunst ist, so weh es tut, Kunst; auch grundgesetzfeindliche Meinungen sind innerhalb der Grenzen des Strafrechts schutzwürdige Meinungen.
Dabei geht es um mehr als bloße Grundrechtsdogmatik. Es geht, wenn man so will, um den Kern des Selbstverständnisses des liberalen Rechtsstaats, der sich hier in einer paradoxen Lage befindet: Dass »Antisemitismus keine Meinung« sei, wie in der Debatte im vergangenen Jahr verschiedentlich zu hören war, ist zwar moralisch richtig, aber rechtlich strenggenommen falsch. Wenn nun aber der Staat – wie es dem deutschen Staat angesichts seiner Geschichte gar nicht anders möglich ist – sich vorbehalten will, antisemitischen Umtrieben im deutschen Kulturbetrieb die Unterstützung durch öffentliche Mittel zu versagen, dann muss er sich auch einen Begriff von Antisemitismus bilden; er muss sich dazu bekennen, dass er meinungspolitisch eben doch nicht neutral agiert.
Dagegen lässt sich nicht gut einwenden, dass staatlicher Fördergeldentzug noch keine Zensur bedeutet und jeder auch weiterhin meinen und malen darf, was er will, nur eben nicht auf Staatskosten. Denn dann müsste man konsequenterweise das goldene Gängelband staatlicher Kunst- und Kulturförderung ganz abschneiden und dem Staat jegliche Befugnis zur Kulturpolitik mit öffentlichen Mitteln absprechen. Wie also kann der Staat in seinem Förderhandeln Antisemitismus entgegentreten, ohne die Grundrechte von Zuwendungsempfängern verfassungswidrig zu beschneiden?
Ein erster Anlauf des Berliner Kultursenators zur Einführung einer Antidiskriminierungsklausel, die Förderungsempfänger auf ein Bekenntnis gegen Antisemitismus im Sinne der Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) verpflichten wollte, scheiterte im Januar 2024 an massiven Protesten aus der Kulturszene und wurde postwendend zurückgezogen. Geschickter präsentierte sich der Versuch des Schleswig-Holsteinischen Landtags, keine obligatorische Bekenntnispflicht, sondern vielmehr eine bloße Ermächtigungsgrundlage im Landeshaushaltsrecht zu verankern, um es Zuwendungsgebern zu ermöglichen, Mittelvergaben künftig an die Erfüllung rechtsstaatlicher Vorgaben zu knüpfen.
Denselben Weg weist nunmehr die Antisemitismusresolution des Bundestags. Danach sollen Länder, Bund und Kommunen »rechtssichere, insbesondere haushälterische Regelungen erarbeiten, die sicherstellen sollen, dass keine Projekte und Vorhaben insbesondere mit antisemitischen Zielen und Inhalten gefördert werden«. Wie das gelingen soll, bleibt allerdings weiterhin im Unklaren. Die drei Gesetzentwürfe zur Änderung der Landeshaushaltsordnung, die dem Schleswig-Holsteinischen Landtag im Juli 2024 vorlagen, haben eines gemeinsam: Sie vermeiden geflissentlich eine Definition dessen, was Antisemitismus in diesem Zusammenhang bedeutet.
Anders dagegen die im November beschlossene Antisemitismusresolution des Bundestags, die sich erneut ausdrücklich zur Definition der IHRA bekennt und damit an die Beschlüsse des Bundeskabinetts vom 20. September 2017 sowie des Bundestags vom 17. Mai 2019 anknüpft. Bei letzterem handelt es sich um die sogenannte BDS-Resolution, die unter dem Titel »Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen« Boykotte gegen Israel sowie israelische Waren, Dienstleistungen und Personen verurteilt und solche Praktiken unter Zugrundelegung der IHRA-Definition als antisemitisch bezeichnet.