Heft 915, August 2025

Rechtskolumne

Die Kosten zweckwidrigen Rechts am Beispiel des WissZeitVG von Marietta Auer

Die Kosten zweckwidrigen Rechts am Beispiel des WissZeitVG

Die Rechtsidee, lehrt Gustav Radbruch, Rechtsphilosoph, sozialdemokratischer Justizminister und unbestechliches Rechtsgewissen der Weimarer Republik, umfasst drei Elemente: Rechtssicherheit, Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit. Recht soll nicht nur berechenbar und gerecht sein, sondern auch nachvollziehbaren Zwecken dienen und diese wiederum in einer nachvollziehbaren Weise umsetzen. Unzweckmäßiges Recht, so kann man Radbruch lesen, ist dem Gedanken der Rechtsstaatlichkeit mindestens genauso abträglich wie ungerechtes oder rechtsunsicheres Recht. Ein an Rechtsbefolgung statt Rechtsumgehung interessierter Gesetzgeber sollte zweckwidriges Recht daher tunlichst vermeiden. Wo aber gibt es denn so etwas? Hier soll es nicht um die krassen Fälle aus der Vergangenheit gehen, bei denen zweckwidriges Recht teilweise sogar absichtlich eingesetzt wurde, um Rechtsgestaltungen zu unterbinden und gesellschaftliche Anliegen zu behindern. Ein Beispiel wäre etwa die heute längst erledigte, bewusst zweckwidrige Verweisung des nichtrechtsfähigen Vereins durch das BGB von 1900 auf das Recht der Personengesellschaft. Durch diese Verweisung auf ein für Vereine sachlich nicht passendes Recht sollten politisch unliebsame Vereine wie namentlich Gewerkschaften bestraft werden, die sich nicht dem repressiven Vereinsrecht des Kaiserreichs unterwerfen wollten.

Unterstellen wir also, dass diese Zeiten vorbei sind und der gegenwärtige Gesetzgeber jedenfalls nicht mehr bewusst und absichtlich zweckwidriges Recht setzen will. Selbst dann ist aber, und davon soll diese Kolumne handeln, das Problem zweckwidrigen Rechts mitnichten obsolet, und wer nun denkt »besser ein zweckwidriges als gar kein Recht«, liegt falsch. Denn auch unabsichtlich, ja sogar mit den besten Absichten in die Welt gesetztes zweckwidriges Recht ist zweckwidriges Recht und verursacht Kosten in Form von vereitelten Gestaltungsmöglichkeiten und Lebensentwürfen, von teuren und sozial selektiven Umgehungsmodellen, von jahrzehntelang nicht zur Ruhe kommenden Reformdiskussionen, in denen sich immer wieder neue Kohorten von Juristen am einmal eingetretenen und dann kaum noch zu beseitigenden Rechtsverwirrungsschaden abarbeiten. Von all diesen, von den Betroffenen meist stillschweigend getragenen und in keiner Statistik auftauchenden Kosten soll hier die Rede sein. Wenn es in Gesetzesbegründungen wie üblich am Ende heißt: »Sonstige Kosten: Keine«, sind es diese Kosten, die nicht mitberücksichtigt sind – und zugleich sind es diese nirgendwo aufgeführten Kosten, die zweckwidriges Recht gesamtgesellschaftlich teuer machen.

Um die Kosten zweckwidrigen Rechts soll es im Folgenden gehen, und zwar – auch in dieser Kolumne nicht zum ersten Mal – am Beispiel der Dauerbaustelle Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Für alle, die die zäh-lebhafte Diskussion der vergangenen Jahre nicht mitverfolgt haben, seien kurz die Eckpunkte referiert: Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, kurz WissZeitVG, in Kraft getreten am 18. April 2007, seitdem mehrfach geändert, gewährleistet ein Sonderbefristungsrecht für das wissenschaftliche und künstlerische Personal an Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Danach ist es zulässig, Arbeitsverträge mit den betreffenden Personen grundsätzlich bis zu sechs Jahre vor der Promotion und weitere sechs Jahre nach der Promotion sachgrundlos zu befristen, wenn – so heißt es in § 2 Abs. 1 WissZeitVG – »die befristete Beschäftigung zur Förderung der eigenen wissenschaftlichen oder künstlerischen Qualifizierung erfolgt«.

Das allgemeine Befristungsrecht des § 14 Abs. 2 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG) lässt dagegen die sachgrundlose Befristung eines Arbeitsverhältnisses grundsätzlich nur bis zur Dauer von zwei Jahren zu. Auf den ersten Blick sieht es also so aus, als hätte das WissZeitVG für Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft einen zusätzlichen Spielraum geschaffen, der den Besonderheiten wissenschaftlicher Qualifikationswege Rechnung trägt. Man promoviert und habilitiert eben typischerweise nur für eine begrenzte Zeit und sollte danach ohnehin die Universität wechseln. Seit es Wissenschaft gibt, gibt es auch Strukturen, die das verhängnisvolle Im-eigenen-Saft-Schmoren der immergleichen Lehrer- und Schülergemeinschaften an derselben Universität verhindern sollen. Dazu gehören Hausberufungsverbote ebenso wie überörtliche Ausschreibungen und Bestenauslesen. Florierende Universitäten beziehen ihre Innovationskraft eben typischerweise nicht aus lokal rekrutiertem und dann nie wieder verjüngtem Personal, sondern daraus, immer wieder neue Talente mit neuen Ideen anzuziehen – eigentlich also eine sinnvolle Idee.

Auf der aktuellen Homepage des Bundesministeriums für Forschung, Technologie und Raumfahrt wird diese Idee indessen unter dem Symbol einer Rakete zu einem »Rotationsprinzip« verkürzt und als eine Art akademischer Generationenvertrag verkauft: Es gelte, mittels des WissZeitVG »die Chancen junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jeder Generation zu wahren, für eine begrenzte Zeit im Hochschul- oder Forschungsbereich tätig zu sein (Rotationsprinzip)«. Spöttische Kommentare in den sozialen Medien ließen nicht lange auf sich warten. Zu frisch die Erinnerung an den ganz ähnlichen Anlass, an dem sich 2021 unter dem Hashtag #IchbinHanna die Empörung zahlreicher Nachwuchswissenschaftler entzündet hatte. Damals ging es um ein Imagevideo desselben Ministeriums, in dem anhand einer fiktiven Nachwuchswissenschaftlerin namens Hanna die Wirkweise des WissZeitVG erläutert wurde. Das originale Video ist längst von der Homepage des Ministeriums verschwunden, aber das Internet vergisst ja nichts. Ab Minute 1:00 des 2:23 Minuten langen Werbefilmchens heißt es dort: »Damit auch nachrückende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Chance auf den Erwerb dieser Qualifizierungen haben und nicht eine Generation alle Stellen verstopft, dürfen Hochschulen und Forschungseinrichtungen befristete Verträge nach den besonderen Regeln des WissZeitVG abschließen. So kommt es zu Fluktuation, und die fördert die Innovationskraft.« Das von den Akteuren von #IchbinHanna zu Recht als respektlos, ja menschenverachtend empfundene Wort »verstopft« fällt bei Minute 1:09. Dass an dem problematischen Diskurs der »Rotation«, der »Fluktuation« in der ministerialen Wissenschaftskommunikation bis heute ostentativ festgehalten wird, ist wohl nur dadurch zu erklären, dass dieser tatsächlich den Segen des Bundesverfassungsgerichts trägt.

Aber was ist denn nun dran an der Kritik von #IchbinHanna? Die Autorin dieser Kolumne hat das Problem aus ihrer Sicht schon einmal beschrieben, daraus allerdings durchaus gegenteilige Folgerungen gezogen: Die vom WissZeitVG aufgestellten Höchstfristen sind nicht zu lang, sondern zu kurz, um sich wissenschaftlich zu entfalten, und sie bestrafen ausgerechnet diejenigen Nachwuchswissenschaftler, die mehr wollen und können als Malen nach Zahlen. Wo bleibt der Raum für das, was Wissenschaft als Beruf, als Lebensprojekt erst motivierend, spannend, lebenserfüllend macht, nämlich für die Expeditionen in fremde Wissenschaftswelten, die ungeplanten Umwege, die wahrhaft originellen Entdeckungen, die sich in keiner Zielvereinbarung ansteuern lassen und die vor allem eines brauchen: Zeit, Zeit und nochmal Zeit? Prekär war die Qualifikationszeit dieser Autorin nicht aufgrund befristeter Beschäftigungsverhältnisse, sondern nur aus einem einzigen Grund: Wegen des Damoklesschwerts der zwölfjährigen Höchstfrist nach dem WissZeitVG, nach deren Ablauf man sang- und klanglos aus der Universität hinausgeworfen wird, egal was man bis dahin in der Wissenschaft geleistet hat, es sei denn, es fällt plötzlich eine Dauerstelle vom Himmel oder man rettet sich auf eine weitere befristete Stelle, diesmal aber aus Drittmitteln, und versucht auf diese Weise, das Fallen des Schwerts noch ein wenig hinauszuzögern (wobei man immerhin noch seine Antragsexzellenz aufpolieren kann).