Heft 910, März 2025

Rückkehr zu Bahr?

von Ian Klinke

Mit dem Vorwurf konfrontiert, durch Phlegma und Naivität einen Angriffskrieg begünstigt zu haben, machte man sich in Deutschland zerknirscht auf die Suche nach den Schuldigen. Die Vorwürfe konzentrierten sich zunächst auf Angela Merkel. Im nächsten Schritt geriet dann ihr Vorgänger, der bekennende Putin-Männerfreund Gerhard Schröder, ins Visier. Bald darauf jedoch wurde mit dem 2015 verstorbenen Egon Bahr ein dritter Kandidat ausgemacht: Lag die Wurzel des Problems nicht womöglich in der von ihm maßgeblich gestalteten russlandfreundlichen Ostpolitik der 1970er Jahre? War es nicht Bahr gewesen, mit dem Gerhard Schröder 1989 in die ölreiche Region Tjumen gereist war? War es nicht Bahr gewesen, dessen Rat Schröder während seiner Amtszeit immer wieder eingeholt hatte? Und war es nicht auch Bahr gewesen, der stets für niedrige Verteidigungsausgaben, aber auch für Nachsicht mit Autokraten plädiert hatte? Selbst sozialdemokratische Intellektuelle fanden nun, es sei höchste Zeit, den vermeintlichen Friedenspolitiker zu entmystifizieren.1

Wer in den letzten Jahren das Willy-Brandt-Haus betreten hat, weiß, wie heiß gerade dort die angemessene Haltung gegenüber dem ehemaligen Bundesgeschäftsführer der Partei diskutiert wird. Viele versuchen fieberhaft zu retten, was zu retten ist, indem sie eine geglückte von einer missratenen Ostpolitik zu unterscheiden suchen. Der Bruch wird dabei wahlweise im Jahr 2014, 2007, 1999, mitunter aber auch um 1990 oder gar um 1980 verortet. Andere verweisen auf die grundlegende Differenz zwischen dem moralisch denkenden Visionär Brandt und dem rücksichtslosen Realpolitiker Bahr. Tatsächlich attestieren sogar Weggefährten wie Wolfgang Thierse Bahr »eine geradezu brutale Nüchternheit«. Der Mitbegründer der Ost-SPD Markus Meckel spricht ganz offen von »Egons imperialem Denken«.2 Die Frage, wie mit dem Vermächtnis der Ostpolitik – und vor allem ihrer faktischen Fortführung nach 1990 – umzugehen sei, ist für die SPD ungelöst. Tatsächlich stellt sie sich aber keineswegs der SPD allein.

Atlantiker versuchen manchmal, die Er-rungenschaften der Ostpolitik, für die Brandt 1971 immerhin den Friedensnobelpreis erhielt, kleinzureden: den Gewaltverzicht, die Normalisierung und die Anerkennung der Oder-Neiße Line. In aller Regel übergehen sie dabei stillschweigend, dass auch nachfolgende Regierungen, ob mit oder ohne sozialdemokratische Beteiligung, damit nicht brechen wollten. So überstand die Ostpolitik nicht nur den Spionageskandal von 1974, sondern auch die konservative Regierungsübernahme 1982 und in gewisser Weise sogar den Zusammenbruch der DDR. (Bahr wurde im Übrigen schnell vergeben, dass er um die Wendezeit als Wiedervereinigungsskeptiker hervorgetreten war.)

Der Begriff »Ostpolitik« war irgendwann aus der Tagespolitik verschwunden, bis er in den Merkel-Jahren von Sozialdemokraten wie Frank-Walter Steinmeier und Matthias Platzeck wiederbelebt wurde. In den späten 1990er Jahren war daraus allerdings eine pragmatische und oft krude »Russland zuerst«-Strategie geworden, die die eigenen wirtschaftlichen Interessen über die Sicherheitsbedenken kleinerer mittel- und osteuropäischer Staaten stellte. Führende Politiker wiederholten das Mantra, dass Sicherheit nur »mit und nicht gegen Russland« aufzubauen sei – ein Grundsatz, den Bahr in den 1990ern geprägt hatte und der nicht nur von Schröder, Steinmeier und Gabriel übernommen wurde, sondern auch von Angela Merkel und, selbst noch in den schicksalhaften Tagen vor der Invasion, von Olaf Scholz.3

Die wesentlichen Konturen der späteren Ostpolitik unter Willy Brandt hatte Bahr bereits im Juli 1963 bei einer Tagung in Tutzing öffentlich vorgestellt, bei der unter anderem die Frage nach den Chancen auf eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten diskutiert wurde. Brandt war damals noch Regierender Bürgermeister von West-Berlin, Bahr sein Presseamtschef. Unter dem Titel »Wandel durch Annäherung« kritisierte Bahr die Politik der Regierung Adenauer, die, der Hallstein-Doktrin folgend, auf der Nichtanerkennung der DDR beruhte und auf einen baldigen Regimewechsel setzte, als unrealistisch.

Bahr stellte einen anderen Ansatz vor: eine »Politik der kleinen Schritte«, die darauf abzielte, Veränderungen auf lange Sicht herbeizuführen, wobei der erste Schritt zur Änderung des Status quo darin lag, diesen als solchen überhaupt zu akzeptieren. Bahr erkannte auch schon früh, dass in Moskau der Schlüssel zu jener Strategie lag, die auf eine teilweise Anerkennung der DDR abzielte. Dabei waren wirtschaftliche Anreize von entscheidender Bedeutung. Obwohl Bahr die Losung »Wandel durch Handel« erst später verwendete, ist deren Logik in der Rede von 1963 bereits enthalten. Es war die Zusammenarbeit im Energiesektor nach dem Erdgas-Röhren-Vertrag von 1970, die das nachhaltigste Erbe der Ostpolitik darstellte. Unternehmen wie Thyssen oder Mannesmann lieferten der Sowjetunion neue Infrastruktur, die Moskau mit der Lieferung billiger Energie zurückzahlte. Schon in den späten 1980er Jahren lag die Abhängigkeit von sowjetischem Gas bei 50 Prozent. Bahr zierte seine Bücher in den Neunzigern kommentarlos mit Karten, die russische und zentralasiatische Gas- und Ölreserven zeigten.

Ohne die Unterstützung Henry Kissingers hätte Bahr mit seinen Bemühungen, eine neue Ostpolitik zu installieren, vermutlich wenig Erfolg gehabt. Die Arbeitsbeziehung der beiden begann, bevor sie an die Regierung kamen. Sie standen seit 1962 in Kontakt, ab 1964 tauschte sich Kissinger mit seinem deutschen Amtskollegen aus, um mehr über die Außenpolitik der SPD zu erfahren. In den frühen 1970er Jahren kultivierten sie ihre berühmte Praxis der Back-Channel-Diplomatie, als deren Höhepunkt die Unterzeichnung der Ostverträge gilt.4 Ihre Partnerschaft und auch ihr gemeinsamer jüdischer Hintergrund erregten mediale Aufmerksamkeit. So nannte die New York Post Bahr 1973 »Brandts Kissinger« und die Zusammenarbeit der beiden eine »Rache an Hitler«.5 Unter den Teppich gekehrt wurde dabei, dass sich die persönliche Geschichte der beiden Männer in einem entscheidenden Aspekt unterschied: Während Kissinger gegen das »Dritte Reich« gekämpft hatte, hatte Bahr in der Wehrmacht gedient.

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