Heft 909, Februar 2025

Sezession der Gemüter

von Helmut Müller-Sievers

Wir – eine Gruppe von mehrheitlich nichtakademischen Freunden in Boulder, Colorado – fragen uns, warum diesmal die Wahl Trumps uns nicht in ungläubige Wut versetzt hat wie 2016. Diesmal war es doch eigentlich überraschender, diesmal hatten wir doch eine unbelastete Kandidatin, hinter die sich alle, von AOC bis Dick Cheney, von Taylor Swift bis Bad Bunny, gestellt hatten. Diesmal wussten alle, wie eine Präsidentschaft von Trump aussehen würde, diesmal hatten alle die Drohungen gegen die Verfassung gehört, die einsetzende Debilität, die grusligen Charaktere gesehen, die er zu seiner Sportpalastveranstaltung aufgefahren hatte. Die Amerikaner würden doch sicher so viel Stil haben, dass sie jemanden, der nicht tanzen kann, der eingebildet und faul ist, der keine Beziehung zum Sport hat, den niemand je hat lachen sehen, der einfach nicht cool ist, nicht noch einmal zu ihrem Präsidenten wählen würden.

Und trotz dieser immens größeren Fallhöhe, trotz der ungleich höheren Gefahr, der dieses Land und die ganze Welt nun ausgesetzt sind, sprechen wir selten über das Thema. Viele Freunde haben, wie ich, die New York Times- und Washington Post-Apps gelöscht, hören nicht mehr Radio, bleiben den Plattformen fern. Wir sind alle ein wenig nachsichtiger gegeneinander und auch den Kindern gegenüber, die in der Schule das Entsetzen ihrer Lehrer gesehen, aber nicht verstanden haben. Reisen werden geplant mit etwas größerer Entschlossenheit und vielleicht mit größerem Budget. Wir sprechen viel über psychedelische Therapien, über Psilocybin, das hier seit ein paar Jahren legal ist. Durch die ersten schweren Nächte hat uns eine Schokolade mit dem Aufdruck THC gebracht.

Nun sind wir allerdings auch alle in gesetztem Alter, haben uns einigermaßen finanziell abgesichert, sind beruflich mit Projekten beschäftigt, die von der Tagespolitik erst einmal nicht berührt werden, hoffentlich. Wir leben in einem sehr schönen und schön blauen Staat, der in dieser Wahl unter anderem das Recht auf Abtreibung in seiner Verfassung verankert hat, und in einem Landkreis, der genauso viel für Umweltschutz wie für die Gehälter seiner Lehrerinnen und Lehrer ausgibt.

Es ist nicht nur die Erschöpfung nach dieser verhältnismäßig kurzen, doch hochdramatischen Wahl, die uns in diese Stille treibt. Es ist eher die sich langsam an die Oberfläche ringende Einsicht in eine Spaltung, in einen Bruch in unserem Leben, in diesem Land und, um es einmal sehr grob zu sagen, in der politischen Weltgeschichte. Vielleicht drängt sich diese Einsicht nur uns auf, die wir hier seit langem wohnen und arbeiten. Es handelt sich dabei nicht um die Erfahrung der überall beschworenen Polarisierung, über deren Geschichte und mediale Befeuerung man so viel zu wissen glaubt; Polarisierung definiert sich ja noch über die wechselweise Beziehung zum jeweils anderen Pol. Diese Beziehung ist aber gerade gerissen, auch wenn die Presse und die Experten noch im Schema dieser Wechselseitigkeit denken. An beiden Enden der MAGA-Bewegung, am Kandidaten und an seiner Wählerschaft, lässt sich das sehen, wenn man lange genug hat hinschauen müssen.

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