Sezession der Gemüter: Korrekturen I
von Helmut Müller-SieversVor ein paar Wochen habe ich hier öffentlich geglaubt,1 die heranziehende Katastrophe der USA in kollektiver mentaler Sezession in meinem blauen Städtchen zumindest anfänglich durchstehen zu können. Life comes at you fast. Nicht nur ist es unmöglich, einen Informationswall so um sich aufzubauen, dass man nicht ganz verdummt, zugleich aber den Kontakt zu lieben Freunden nicht verliert, auch das Dauerfeuer der Erlasse hat mittlerweile fast jeden in meiner Freundesgruppe erreicht.
Eine Familie, die kurz vor der Adoption ihres Kindes stand, kann keine Agentur finden, die ihre Eignung überprüft, da dem Familienministerium die Mitarbeiter und Mittel gestrichen wurden; einer Unternehmensberaterin brechen die Aufträge weg, da durch die Zollverwirrung kein Budget für Zweitrangiges bereitsteht und sie auch nicht willens ist, jeden Verweis auf soziale Gerechtigkeit in ihrer Praxis zu streichen; ein anderer Freund sorgt sich, da sein Onkologe schon zweimal einen Termin verschieben musste, weil er mit Kollegen in Washington Forschungsgelder loszueisen versucht. Einem Kollegen an der Uni, der im Winter mit einem brillanten und gänzlich unpolitischen Antrag eines der seltenen NEH-Jahresstipendien bekommen hatte, wurde dieses ohne Begründung in der letzten Woche gestrichen. Hinter all dem Chaos zeigen sich täglich klarer die schwelenden Ruinen eines Staats, dessen jahrhundertealte Institutionen und Praktiken binnen Wochen zu zerschmelzen scheinen.
Dies ist sicher keine Zeit für Fatalismus, und dennoch kann man sich der Einsicht in die geschickhafte Verfugung von Angreifer und Angegriffenen kaum entziehen. Was am höchsten ist, wird am tiefsten getroffen, die schärfsten Waffen treffen auf die schwächste Verteidigung. Beispielhaft für diese ochlokratische Logik ist der Angriff auf die »Elite«-Universitäten, der sich in den letzten Wochen dramatisch zugespitzt hat. Erst wurde Harvard angedroht, 9 Milliarden Dollar an zugesagten Projektgeldern einzufrieren, dann traf es zwei Universitäten, die mir besonders am Herzen liegen – Cornell, eine alles andere als snobistische Land-grant University, deren Kernmission Landwirtschaft, Ingenieurswesen und eine berühmte Hotelfachschule ist, sowie die Northwestern University (mein Arbeitgeber während neunzehn fast immer guten Jahren), die sich vor allem durch ihre Business School, ihre Medical School und durch frühzeitige Investitionen in Nano- und Gentechnologie in die Top Ten der US-Universitäten hochgeboxt hat.
Ihnen wurde der Geldhahn weniger dramatisch, aber doch lebensbedrohend zugedreht – eine Milliarde Dollar im Fall Cornells, 730 Millionen im Fall von Northwestern. In Cornell lähmt diese Sperre langjährige Projekte im Bereich Cybersecurity, Agrarwissenschaft, Militärstrategie und Waffenentwicklung sowie in der Krebsforschung, bei Northwestern unter anderem auch die Grundlagenforschung in der pharmazeutischen Chemie. Der ausgegebene Anlass in beiden Fällen ist der Unmut Trumps über die Konfliktschlichtung auf dem Campus nach dem Überfall auf Israel und in den Protestcamps gegen den Krieg in Gaza; der tiefere Grund ist der langgehegte Hass der MAGA-Bewegung auf die Ivy League, dem Trumps Vize J. D. Vance – selbst Absolvent der Yale Law School – mit dem Ruf nach der »Zerstörung« dieser Institutionen Ausdruck gegeben hat.
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