Heft 892, September 2023

Sie haben jetzt auch Cold Brew in Berlin

von Gabriel Yoran

In den USA kennt man den Begriff des third place, einem Ort, der nicht das Zuhause und nicht die Arbeit ist. Er stammt aus einer Zeit, in der Dinge noch an Orten hingen und es noch nicht egal war, wo man war, um etwas zu tun. Der Dritte Ort ist ein Ort, von dem man nicht verjagt wird und an dem es keinen Konsumzwang gibt. Er ist ein seltenes Gut in einer Welt, die Flächen versiegelt und verkauft, in denen Bänke mit Spikes versehen werden, damit Skater auf ihnen nicht skaten und Obdachlose auf ihnen nicht schlafen; in denen Einkaufsstraßen aufeinandergestapelt werden zu Malls, die Eingangstüren haben und Sicherheitsbedienstete, die nach Kaufunfähigkeit Aussehende abweisen. In einer Welt, in der an Bahnhöfen klassische Musik gespielt wird, weil Junkies die nicht mögen, und wo die öffentlichen Toiletten 50 Cent oder eine App verlangen und auf denen blaue UV-Beleuchtung verhindert, dass die aus den Bahnhöfen vergrämten Suchtkranken ihre Adern finden.

Die Notwendigkeit eines Begriffs wie third place mag hierzulande befremdlich wirken, aber in den USA hängen überall Schilder, die das Herumlungern verbieten: No loitering. In den McDonald’s-Filialen einer schlechteren Bostoner Gegend habe ich sogar mal einen Aushang mit Fristsetzung gesehen: Rumsitzen von über fünfzehn Minuten nach Verzehrende ist Herumlungern.

Als ich 2015 nach New England kam, war ich weder drogenkrank noch kaufunfähig oder gar verzehrunwillig. Ich war nur einsam.

Meine Arbeit war in Berlin, die dortigen Kollegen waren ab meinem Mittag in ihrem Feierabend. Mein Partner hatte einen Forschungsjob in einem Labor bekommen. Nur im Labor kann man im Labor arbeiten, und einen Partner wollte ich nur haben, wo der Partner ist. Weil die Dinge eben doch an Orten hängen und an den Dingen auch die Menschen, bin ich mitgekommen. Freunde hatte ich in Providence, Rhode Island, noch keine. Ich schrieb damals an meiner Dissertation. Das ist eine Tätigkeit, die nur noch einsamer macht. Ich musste also unter Leute, ich wollte herumlungern, aber mit einem Buch in der Hand oder hinter einem Laptop. Also ging ich ins Café.

Ich ging in unzählige, um eines zu finden, das als neue Heimat in der neuen Heimat taugt. Mal blies mich die Klimaanlage vom Stuhl, oder es gab nur abgezähltes Internet gegen Coupons. Mal war der Kaffee ungenießbar, mal waren es die Donuts.

Dabei ist es ganz einfach: Das Wichtigste am Café sind die Leute. Die Gäste auch, aber die meine ich nicht. (Extremfläzende Studierende nerven irgendwann, dauermeetende Businesspeople auch, insofern sind die Gäste schon wichtig.) Ich meine die Leute, die man früher despektierlich »das Personal« genannt hat. In diesem konkreten Fall John Paul »JP« Murton und Diana Murton und die Leute, die sie angeheuert haben.

An einem heißen Sommertag besuchte ich ihr nur sechzig Quadratmeter großes Café zum ersten Mal. Es lag zwischen einem Tätowier- und einem Nagelstudio, gegenüber einer bemalten Grundschule an der letzten Straße vor dem Park an der Bucht, in der das Wasser in zwei Richtungen gleichzeitig fließt. Ein Ästuar, sagten die Bewohner der Bucht. Es ist gefährlich, wenn man nicht weiß, dass mitten im Fluss die Strömung die Richtung wechselt.

Das Café trug den unprätentiösen Namen »The Shop«, was nicht nur Laden, sondern auch Werkstatt heißen kann. Drinnen zapfte JP etwas, das wie Guinness aussah. Er erklärte mir, das ist Nitro Cold Brew, Kaffee, der vierundzwanzig Stunden lang kalt gezogen hat und dadurch sehr süß wird, ohne dass man Zucker oder Sirup braucht. Das klang gut, weil ich in den ersten Monaten in Amerika bereits nicht unerheblich zugenommen hatte, denn die Verführungen waren überall größer als in der Heimat und meine Neugier war es auch. Und da Providence das Zuhause der größten Kochschule der Welt ist, eröffnen deren Abgängerinnen und Abgänger hier ständig neue Lokale, um sich auszuprobieren, denn es ist billiger hier als im eine Stunde entfernten Boston. Hier darf man experimentieren, in Boston muss es sitzen.

Ein süßer Kaffee ohne Zucker, immer her damit! JP zapfte mir ein Glas. Der Kaffee war samtig und hatte eine Art Crema, das kommt vom Stickstoff, deshalb Nitro. Ich war sofort sold, das Zeug war so gut. Ich wusste, das ist das nächste große Ding, und wenn ich das nächste Mal in Berlin bin, werde ich allen damit auf den Keks gehen, dass kalter Kaffee jetzt kein kalter Kaffee mehr ist. JP sah meine Reaktion und war unzufrieden. Die Leute liebten das Zeug, und er würde es jetzt immer auf der Karte haben müssen. Ich fragte, wo das Problem ist.

»Das ist doch ein Sommergetränk! Wenn man es immer anbietet, ist es nichts Besonderes mehr!«

»Freu dich doch, dass du etwas im Sortiment hast, was die Leute lieben!«

»Naaaah!«

JP machte eine wegwerfende Handbewegung. Hier war ein Überzeugungstäter am Werk. In dem Land, das uns die Abkürzung 24/7 geschenkt hat, weil man alles immer haben können soll, ausgerechnet in diesem Land erfuhr ich, dass genau deshalb nichts mehr besonders ist. Die Dinge gehören in ihre Zeit, sonst verliert alles seine Bedeutung.

Auf dem kleinen Platz neben dem Café stand eine hilflos gestaltete Büste von William Wickenden, einem Baptistenpfarrer, der im 17. Jahrhundert Neu-Engländer getauft hat und dafür von der niederländischen Kolonialregierung ins Gefängnis geworfen wurde. Ein Rebell, wie so viele der Figuren, die sie hier in Rhode Island verehren. In diesem Staat, der immerhin doppelt so groß ist wie das Saarland und in dessen Verfassung erstmals in der Geschichte irgendeines Staates die Trennung von Staat und Kirche festgeschrieben wurde. Sie verstehen sich hier als Zufluchtsort der Unangepassten, seit diese Gegend die neue Heimat der doppelt verfolgten Baptisten wurde, die erst in ihrer englischen Heimat und dann im neugegründeten Boston ihre Religion nicht ausüben durften. In Rhode Island wurden sie in Ruhe gelassen. Dieser Frieden kostete die Narragansett, die seit Jahrtausenden an der Bucht mit dem gefährlichen Wasser lebten, erst ihr Land und dann viele von ihnen das Leben. Diese Zeit ist lange vorbei, das Schicksal der Narragansett ist vielfach überschrieben von dem Geistesfrieden, den europäische Männer hier suchten.

Gleich am nächsten Tag wollte ich den süßen Kaffee wieder trinken, und in der Woche und in den Monaten darauf auch. Ich ging regelmäßig in den Shop, setzte mich an einen kleinen runden Zweiertisch oder an die lange Tafel oder auf einen Barhocker im Fenster oder auf einen Blechstuhl vor der Tür oder in den winzigen Alkoven. Es gab eine Sitzgelegenheit für jede Vorliebe. Das ist wichtig in einem Café, und in The Shop wussten sie das. Hier würde ich mich wieder und wieder hinsetzen und den süßen kalten Kaffee trinken und an der Dissertation schreiben.

Die Studentin an dem langen Holztisch hatte neben ihrem Laptop einen Stapel Bücher über Quantenphysik liegen. Es sah aus wie eine Inszenierung, aber da auch die Brown University um die Ecke aussah wie der Traum von einer Uni, nahm ich an, es war echt. Auf jeden Fall echt waren die durchschnittlichen Studiengebühren in Höhe von jährlich sechzigtausend Dollar. Immer wenn ich einen Brown-Studierenden sah, dachte ich: Hoffentlich weißt du, wie unglaublich gut du es hast, wenn du hier studieren darfst (und vielleicht sogar ein Stipendium hast).

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