Heft 845, Oktober 2019

Soziologiekolumne

Sind wir eigentlich noch spätmodern? von Cornelia Koppetsch

Sind wir eigentlich noch spätmodern?

Es ist beinahe unmöglich, soziale Wandlungsprozesse im Augenblick des Geschehens zu erfassen, wesentliche Aspekte eines Wandels erschließen sich oftmals erst im Rückblick. Dies erklärt auch, warum »der Geist« seiner Zeit in der Regel immer ein wenig hinterherhinkt: Menschen bleiben in ihren Wahrnehmungs-, Denk- und Fühlweisen überkommenen Kategorien oftmals auch dann noch verhaftet, wenn diese ihre Orientierungsfunktion längst eingebüßt haben – in den Sozialwissenschaften spricht man in diesem Zusammenhang auch vom cultural lag.

So haben etwa Aufklärung und Industrialisierung in Europa zur Ablösung der Feudalgesellschaft und zu einer völlig neuen Gesellschaftsordnung geführt, die wir heute als »modern« beziehungsweise »die Moderne« bezeichnen. Ein Bewusstsein dieses epochalen Wandels stellte sich allerdings erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, also zu einem Zeitpunkt ein, als die Transformation nahezu abgeschlossen war. Nicht zufällig wurde die Übergangsphase vom schreibenden Bürgertum oftmals als Zeit der großen Empfindsamkeit und des geistigen Verlustempfindens geschildert.

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