Syrien – eine Rückkehr
von Mounir ZahranDer Grenzkontrolleur studiert meinen seit über zehn Jahren abgelaufenen syrischen Reisepass. Er registriert, dass ich ihn seit 2012 nicht mehr benutzt habe und stempelt ihn trotzdem ab. Auf dem Passfoto sieht er den jungen Mann vor sich, der mit achtzehn Jahren ausgereist ist und nun als Erwachsener zurückkehrt. Seine Augen spiegeln meine Freude, ich lächle, er lächelt zurück. Wo sonst, in welchem Flughafen oder an welcher Grenzstation der Welt, wird die Heimkehr eines Sohnes so gefeiert?
Ich bin Deutschsyrer, in Deutschland geboren, habe aber von 2004 bis 2012 in Syrien gelebt. Ich habe die Ereignisse immer von außen betrachtet, mit einer gewissen Distanz. Doch in dem Moment, als mich der Grenzkontrolleur anlächelte, fiel das alles von mir ab. Ich war nur noch Syrer. Aber nur in diesem Moment. Während meiner Reise sollte es dann doch zu Situationen kommen, in denen ich mich wieder als Außenstehender fühlte – als Beobachter oder als jemand, der zwischen den Stühlen sitzt, der verstehen will, ohne gleichzeitig seine eigenen Ideale und Prinzipien aufzugeben. Mal war ich Syrer, mal Deutschsyrer, mal einfach Deutscher, dann auch noch Mounir Zahran, der Politikwissenschaftler.
Ursprünglich hatte ich geplant, zwei Monate am Orient-Institut in Beirut zu verbringen und mich dort intensiv mit Syriens Vergangenheit zu beschäftigen – jener von Militärcoups und demokratischen Experimenten geprägten Phase von Syriens Unabhängigkeit 1946 bis zum Baath-Putsch im März 1963. Eine Zeit, die an ein anderes Syrien erinnert, verpasste Chancen vor Augen führt, fern vom bleiernen assadschen Status quo. Ich hatte vor, die Schriften der führenden syrischen Politiker jener Epoche zu sichten und in einer Art intellektuellen Biografie zu verarbeiten. Eine Art Fahrplan für eine Zeit – die ich ehrlicherweise im Sommer 2024 noch in weiter Ferne sah, konkret erst in ein paar Jahrzehnten – nach Assad. Kurzer Einschub von Jacques Derrida: »Das Ereignis als Ankömmling ist das, was vertikal über mich hereinbricht, ohne dass ich es kommen sehen kann.« Baschar Al-Assad flieht am 8. Dezember 2024 im Schutz der Nacht aus Syrien, das Ancien Régime ist nicht mehr.
Anfang März lande ich in Beirut, ich telefoniere kurz herum, ein Fahrer ist schnell organisiert. Jetzt sitze ich im Auto auf dem Weg von Beirut nach Syrien. In Damaskus bin ich mit einem Historiker verabredet und möchte, wenn möglich, Zeitzeugen befragen, um meiner Forschung einen Rahmen zu geben. Und indem ich meine Forschungsreise gewissermaßen offiziell auf meinen Syrienaufenthalt ausdehne, will ich eine gewisse Distanz wahren, mich vor der Enttäuschung schützen, die eine unmittelbare Erfahrung mit sich bringt. Denn in der Sentimentalität des Zurückkehrenden verbirgt sich die Hoffnung, alles so vorzufinden, wie es war.
»Ich wollte es lassen, in dunkler Nacht umherzuirren«, schrieb einst der syrische Chronist Usama ibn Munqidh zur Zeit der Kreuzzüge, als er nach Jahrzehnten wieder in seine Heimat zurückkehrte. »Ich habe geglaubt, dass Neues nicht durch die Zeit abgenutzt wird und Starkes nicht schwach wird.« Es ist amüsant und bedrückend zugleich, dass Sätze, die ein Mensch vor fast tausend Jahren benutzte, um seine individuellen Erfahrungen auszudrücken, nun auch Ausdruck meiner persönlichen Erfahrungen sind. Ich sehe, wie die starke Jugend von Aleppo und Damaskus gealtert ist und wie das ehemals Neue heruntergekommen, verwahrlost und verbraucht wirkt. Zwei Syrer, die mit einem Abstand von tausend Jahren einem verlorenen Jugendgefühl nachjagen, das sie einmal in Syrien empfunden zu haben glauben. Aber wo könnte ich dieses alte Gefühl wieder zum Vorschein bringen? In einer vertrauten Häusergasse, in den gealterten Gesichtszügen meiner Onkel und Tanten, vor unserer alten Wohnung mit dem holzgesäumten Balkon, am Grab meines Vaters? Und wenn diese alten Gefühle nicht auftauchen sollten – weil es einfach Jugendgefühle waren, Gefühle, die zwar zeit-, aber nicht ortsgebunden waren und daher nichts individuell Besonderes hatten, sondern überall auf der Welt ähnlich empfunden wurden –, was mache ich mit Syrien?
Mein Fahrer ist gut gelaunt, lacht und scherzt, nimmt die Grenzbeamten auf den Arm. Wir überqueren die Grenze. Nicht nur die Landschaft, auch die wirkliche Wirklichkeit Syriens breitet sich vor mir aus. In dieser Sekunde: Syrien kein ferner Traum mehr, keine Vorstellung, keine Fantasie, sondern unmittelbare Erfahrung.
Straßenchaos in Damaskus, spürbare Überforderung bei den Verkehrspolizisten. Risse und Brüche in den Bürgersteigen, Unkraut wuchert aus den Ritzen. Smog, Müll, Verwahrlosung, erste Eindrücke nach dreizehn Jahren Abwesenheit, direkt im Anschluss aber auch schönes Kontrastprogramm: Mit meinen Cousinen schlendere ich abends durch die Altstadt von Damaskus, wir ziehen von Café zu Café, ich spaziere täglich durch die in den 1940er Jahren entstandenen Viertel Rauda, Malki und Mazzeh Villat und verliere mich in der modernen syrischen Architektur, levantinische, italienische und französische Einflüsse in einem harmonischen Ganzen, Damaskus, du schöne Stadt!
Es ist Ramadan, ich mit meiner agnostischen Weltanschauung faste trotzdem mit, will das alles erfahren. Mein Alltag: Fasten, Spaziergänge, Lesen (Koranexegese und Heinrich Böll), Verwandtenbesuche (alle von den neuen Machthabern überzeugt, Aufbruchsstimmung), überladene Essenstische, Tee, süßes Gebäck, Kaffee (abends statt morgens), aufgekocht mit Kardamom. Ungebrochene Freude am Leben. Innere Zufriedenheit, die mir seit Jahren fremd war. Ich könnte hier meine Sachen packen und nach Beirut zurückkehren und dort zufrieden meine Recherche fortsetzen, oder ich könnte auch einfach damit aufhören, denn warum sollte ich über das Syrien der verpassten Chancen forschen, wenn es sich jetzt auf dem »richtigen« Weg der Geschichte befindet?