Über die Unaufgeräumtheit der Geschichte
Zur Aktualität von Reinhart Koselleck von Ulrike JureitZur Aktualität von Reinhart Koselleck
Denn sie wissen nicht, wovon sie sprechen
Wenn sich die Historie als Wissenschaft begreifen wolle, so argumentierte Reinhart Koselleck 1972 programmatisch, dann müsse sie ihre Isolierung überwinden, neue Beziehungen zu anderen Wissenschaften aufbauen und sich gleichzeitig der eigenen Theoriebedürftigkeit bewusst werden. Die Geschichtswissenschaft habe sich dem »Zwang zur Theorie« zu stellen, allerdings nicht dadurch, dass sie »Bindestrich-Bündnisse« eingehe und »irgendwelche Theoreme benachbarter Wissenschaften« übernehme, sondern indem sie »durch die uns eigenen Engpässe hindurch auf die Punkte« stoße, »die selber theoriebedürftig oder vielleicht auch theorieträchtig sind«. Nicht in Anlehnung an andere Disziplinen, Koselleck verwies in diesem Zusammenhang explizit auf die Soziologie, könne ein eigener Wissenschaftsbegriff gewonnen werden, sondern nur durch »eine Metahistorie, die nicht die Bewegung, sondern die Beweglichkeit untersucht, nicht die Veränderung im konkreten Sinne, sondern die Veränderlichkeit«.
Dass sich Koselleck zeitlebens diesen Herausforderungen, vor allem in dezidierter Abgrenzung zur Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, gewidmet und an einer Historik gearbeitet hat, deren Kernaufgabe er darin sah, eigene theoretische Prämissen zu entwickeln, ist wohl weitgehend unstrittig. In einem Brief an Christof Dipper vom 25. April 2000, in dem er ausführlich dessen (zu dieser Zeit noch nicht erschienenen) kritischen Artikel über die Geschichtlichen Grundbegriffe kommentiert, bemängelt er beispielsweise die eher zurückhaltende Rezeption des Lexikons innerhalb der eigenen Zunft. Mancher Kollege glaube sich in seinem Forschungsbereich besser auszukennen als der Autor des entsprechenden Artikels, zudem verzichteten viele Historiker auf »sprachliche Selbstreflexion, was zur grassierenden Naivität vor allem der sogenannten Sozialhistoriker entschieden beiträgt. In gewisser Weise kann man sagen: Denn sie wissen nicht, wovon sie sprechen.«
Die Frage, wie den Theoriedefiziten seines Fachs zu begegnen sei, trieb Koselleck nach eigenem Bekunden damals bereits seit mehr als vier Jahrzehnten um, wobei seine Überlegungen schon früh um den Begriff der Zeit kreisten, den er »wie Raum« universal verstand, da ohne ihn »keine menschliche Erfahrung und keine Wissenschaft denkbar ist«. Die »ubiquitär angelegte Historie«, schreibt er 1972, könne als Wissenschaft nur bestehen, »wenn sie eine Theorie der geschichtlichen Zeiten entwickelt, ohne die sich die Historie als Allesfragerin ins Uferlose« verliere.
Die Geschichtlichen Grundbegriffe enthalten jedoch keinen entsprechenden Eintrag, was Koselleck im Brief an Dipper rückblickend damit begründete, dass er den Artikel »Volk-Nation« habe übernehmen müssen und beides angesichts der überfälligen Fertigstellung des Wörterbuchs nicht zu leisten gewesen sei. Die 1967 veröffentlichten Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit lassen indes eher auf systematische Gründe schließen: Fluchtpunkt des ganzen Unternehmens war die »Auflösung der alten und die Entstehung der modernen Welt in der Geschichte ihrer begrifflichen Erfassung«. Die Herausgeber zielten in erster Linie auf Begriffe, die im Übergang zur Neuzeit »einen schleichenden Übersetzungsvorgang vollziehen, ohne daß sich die Worte wandeln«, so Koselleck in den Richtlinien. Folglich enthalten die Geschichtlichen Grundbegriffe Artikel über »Fortschritt«, »Entwicklung« und »Moderne«, während man nach Lemmata wie »Zeit«, »Raum«, »Erfahrung« und »Erwartung« vergeblich sucht.
Kosellecks übergreifende Interessenschwerpunkte schlugen sich somit weniger im Lexikon als vielmehr in seinen überlieferten Schriften und im umfangreichen Archivmaterial nieder. Dort zeigt sich, dass es ihm geschichtstheoretisch darum ging, die individuelle wie auch die kollektive Verarbeitung von Selbst- und Fremderfahrungen als Kernelement einer reflexiven Historiografie zu systematisieren und die symbolische wie auch narrative Darstellung dessen, was historisch erfahren wurde, als eine spezifische Wissensform analytisch zu fassen. Seine Überlegungen zur Historik als Erfahrungswissenschaft, die er nie monografisch ausformuliert, sondern eher in Form einer »essayistischen Theoriebildung« entwickelt hat, verklammern Kosellecks begriffs- und zeitgeschichtliche Studien mit seinen Forschungen zur Epochenschwelle um 1800 und den Arbeiten zum politischen Totenkult als »optische Signatur der Neuzeit«.
Angesichts der zentralen Rolle, die »Zeit« und »Erfahrung« in Kosellecks Gesamtwerk spielen, ist es nicht verwunderlich, dass sich die disziplinübergreifende und mittlerweile kaum noch zu überblickende Rezeption seiner Arbeiten vornehmlich auf diese beiden Begriffsfelder bezieht. Und da der Bielefelder Historiker nicht müde wurde zu betonen, dass »erst die Theorie […] unsere Arbeit in geschichtliche Forschung« verwandle, geht es für die Zunft dabei gewissermaßen ums Ganze. Dass sie den Ernst der Lage voll umfänglich realisiert hat, darf bezweifelt werden. Aus Kosellecks sprachlich eloquenten, im Umfang gleichwohl überschaubaren Essays extrahieren die mit empirischer Unübersichtlichkeit konfrontierten Historiker und Historikerinnen vornehmlich komprimierte Angebote, die es zu ermöglichen scheinen, nicht nur der allgemeinen Theoriebedürftigkeit des Faches, sondern auch der des eigenen Forschungsvorhabens vergleichsweise unaufwendig Rechnung tragen zu können. Vor allem metaphorische Begriffe wie »Zeitschicht«, »Sattelzeit« und »Erwartungshorizont« haben Konjunktur.
Betreff: Theoretische Neugierde
Auch wenn Koselleck mittlerweile wie kein anderer deutscher Historiker als theoretisch versiertester Kopf der modernen Geschichtswissenschaft gilt, hat sich an der Diskrepanz zwischen fachlicher Theoriebedürftigkeit und gängiger Forschungspraxis bisher wenig geändert. Verblüffend ist zudem, wie wenig die Genese der Koselleck’schen Begriffsbildung reflektiert wird. Wenn überhaupt, dann ist man pragmatisch an theoretischen Versatzstücken interessiert, nach deren Provenienz kaum jemand fragt. Nun ist aber nicht immer dort, wo Koselleck draufsteht, nur Koselleck drin. Gräbt man theoriegeschichtlich etwas tiefer, wird augenscheinlich, wie umfänglich Koselleck selbst auf geistesgeschichtliche Theorietraditionen rekurrierte. Ob Philosophie, Soziologie oder Kunstgeschichte – der Bielefelder Historiker transferierte Begriffe und Konzepte namhafter Gelehrter in seine neuerdings als »ungeschrieben« titulierte Historik.
Da die Forschung lange Zeit auf sein kompliziertes Verhältnis zu Carl Schmitt fixiert war, blieben andere, zum Teil außerordentlich einflussreiche Bezüge unterbelichtet. Das gilt in besonderer Weise für Karl Mannheim, dessen 1928 ausgearbeitete Generationentheorie Koselleck als eine Art Synchronisierungsmechanismus nutzte, mit dem er den Übergang von der individuellen zur kollektiven Ebene begrifflich zu fassen versuchte. Gleichzeitig übernahm er von dem 1933 nach London emigrierten Soziologen das für seinen erfahrungsgeschichtlichen Ansatz zentrale Begriffspaar vom »Erfahrungsraum und Erwartungshorizont« und bezog diesen Erfahrungs /Erwartungs-Zusammenhang auf ein »metahistorisches« Modell, das er darüber hinaus durch Kategorien wie Raum und Zeit definiert sah. Koselleck vereinnahmte zwar nicht »irgendwelche Theoreme benachbarter Wissenschaften« in Form von »Bindestrich-Bündnissen«, wie er mit Blick auf die »Bielefelder Schule« spöttisch formuliert hatte, er integrierte jedoch zahlreiche Begriffe in sein geschichtstheoretisches Gefüge, im Falle Mannheims sogar ohne Verweis auf deren Herkunft.
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