Heft 872, Januar 2022

Verlust und Moderne – eine Kartierung

von Andreas Reckwitz

Eine systematische Soziologie des Verlusts gibt es bisher nicht. Das ist seltsam und nachvollziehbar zugleich. Seltsam ist es, weil man die moderne Gesellschaft ohne ihre Verlustdynamiken, ohne die kollektiven Verlusterfahrungen und deren soziale und kulturelle Folgen gar nicht begreifen kann. In der Spätmoderne der Gegenwart erlangen die Verlustthematisierungen – von der Verlustwut der Modernisierungsverlierer bis zur Verlustangst infolge des Klimawandels – dabei eine besondere Präsenz. Nachvollziehbar ist die Leerstelle einer Soziologie des Verlusts allerdings, wenn man erkennt, dass die Disziplin gewissermaßen durch eine déformation professionelle charakterisiert ist: In der Form, in der sie sich im 20. Jahrhundert institutionalisiert hat, identifiziert sich die Soziologie im Kern mit dem Projekt der Moderne als Fortschrittsprozess. Zwar pflegt die kritische Soziologie der Moderne ihre Pathologien vorzurechnen, diese jedoch erscheinen meistens als Konsequenz dessen, dass die moderne Gesellschaft noch nicht fortschrittlich genug ist. Die Verluste aber sind gewissermaßen das Andere der Moderne, sie sind das Andere des Fortschritts.

Ich gehe von einem grundsätzlichen Befund aus: Die moderne Gesellschaft ist durch eine Verlustparadoxie gekennzeichnet. Die Moderne ist ein Gesellschaftstypus, der im Namen seines Fortschrittsanspruchs eine existentielle Verlustreduktion – von der Krankheit über die Naturkatastrophen bis zum frühen Tod – forciert. Zugleich ist sie eine Gesellschaft, die von Anfang an über verschiedene Mechanismen vom beschleunigten sozialen Wandel bis zur Gewaltpolitik eine enorme Verlustpotenzierung mit sich bringt. Dieser steht jedoch ein Unsichtbarmachen von Verlusten, gewissermaßen eine institutionell bedingte Verlustinvisibilisierung gegenüber: Durch die Orientierung am Fortschritt, das heißt indem sie sowohl ihre eigene Geschichte als auch die Zukunft mit einem Schema kontinuierlicher Verbesserung betrachtet, muss die Moderne Verlust und Trauer marginalisieren, damit die Ökonomie, die Politik sowie Wissenschaft und Technologie ungehemmt fortschreiten können. Allerdings: Völlig verdrängen lassen sich die Verluste in der Moderne nicht. An ihren Peripherien entwickeln sich vielmehr Modi der Verlustartikulation und Verlustbearbeitung: Verlustpraktiken, Verlustnarrationen sowie verlustbezogene Affekt- und Emotionskulturen. Die sozialen Verlustdynamiken lassen sich nicht immer auf die gesellschaftlichen Peripherien begrenzen, und in der Spätmoderne ist diese Wirkung von Verlusterfahrungen mitten ins Zentrum der Gesellschaft hinein sehr deutlich. Spätmodern heißt: Die Verlustvergessenheit hat sich in eine Verlustsensibilität verwandelt (in der Kritiker bereits eine Verlustversessenheit wittern könnten).

Um die soziologische Perspektive auf Verluste zu verstehen, wie ich sie hier skizziere, gilt es jedoch sogleich ein paar Warnsignale zu senden. Denn leicht kann man dieses Forschungsprogramm missverstehen. Zum Ersten: Mir geht es nicht darum, selbst an einer Verlustgeschichte der Moderne zu schreiben, der Moderne also gewissermaßen ihre Verluste vorzurechnen. Das wäre das Genre der Kulturkritik, wie man es etwa in Hans Sedlmayrs Verlust der Mitte oder Alasdair MacIntyres Verlust der Tugend findet. Eine Soziologie des Verlusts, wie ich sie verstehe, konstatiert vielmehr nicht selbst, was in der Moderne vorgeblich alles verloren wird, sondern will rekonstruieren, wie in der Gesellschaft – von sozialen Gruppen, Institutionen oder Diskursen – Verluste wahrgenommen, erfahren, interpretiert und verhandelt werden.

Zweitens ist die Soziologie des Verlusts mehr als eine intellectual history der Kulturkritik. Zwar sind die Verlustdiskurse seit Jean-Jacques Rousseaus Arbeiten über die Entfremdung und den Naturzustand oder in Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes selbst ein wichtiger Bestandteil der Verlustdynamik der Moderne. Aber auch jenseits solcher intellektuellen Thematisierungen treten – häufig weniger laut- und meinungsstarke – wirkmächtige Verlusterfahrungen auf. Man denke an die Opfer von Flucht und Vertreibung und an die Traumata der Diaspora oder an die namenlosen Verlierer der Industrialisierung und der Entindustralisierung. Und es gibt ziemlich profane Mechanismen institutioneller Verlustbearbeitung, sei es im Recht, sei es in der Psychotherapie, die verdeutlichen, dass in dieser Frage mehr steckt als eine Geschichte kulturkritischen Denkens.

Drittens sollte man auch nicht dem Vorurteil erliegen, Verlust sei ausschließlich ein Phänomen konservativer oder reaktionärer Provenienz. Natürlich, der klassische politische Konservatismus lebt seit Edmund Burke von Verlustschmerz. Aber zum einen kultiviert auch die politische Linke ihre Verlustwahrnehmungen: von Walter Benjamins Bemerkung hinsichtlich einer »linken Melancholie« bis zur Trauer über den verlorenen Wohlfahrtsstaat und die verlorene Industriearbeiterschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Zum anderen sind viele Verlusterfahrungen politisch überhaupt nicht zuzuordnen oder grundsätzlich ambivalent: vom Umgang mit dem Tod bis zu den Folgen des Anthropozän.

Viertens ist die Soziologie des Verlusts nicht mit der psychologischen Perspektive auf das gleiche Phänomen identisch. Wenn man eine reichhaltige Literatur zu Verlusten finden will, dann muss man in der Psychologie suchen, insbesondere in der Psychotherapie, etwa zum Thema Trauer. Aus soziologischer Sicht interessiert der Verlust jedoch als ein soziales Phänomen, um das herum sich Praktiken und Diskurse von Verlusten sowie soziale Arenen der Verlustverhandlung bilden. Schließlich ist noch eine letzte Vorsichtsmaßnahme nötig: Die Soziologie des Verlusts sollte sich sowohl vor der Haltung pauschaler Entlarvung als auch vor allumfassender Empathie hüten. Statt selbst die Verluste zu bewerten, sollte sie die Prozesse der Bewertung unter die Lupe nehmen.

Verluste: Bestandsaufnahme

Wichtig ist zunächst, dass man das Verschwinden und die Verluste voneinander differenziert. In der sozialen Welt verschwinden ständig Entitäten – Menschen oder Dinge hören auf zu existieren, Normen oder Statuspositionen verlieren an Bedeutung etc. –, aber ein solches Verschwinden muss nicht zwangsläufig als Verlust markiert werden. Im Gegenteil: Das, was man philosophisch »Vergänglichkeit« nennt, geht häufig unbemerkt und ohne ausgeprägt negative Bewertung vonstatten. Manches Verschwinden wird auch positiv bemerkt. Man ist froh, etwas hinter sich gelassen zu haben; dies entspräche auch dem modernen Fortschrittsdenken. Vieles andere fällt schlicht dem Vergessen anheim: Das soziale Vergessen ist ein essentieller Mechanismus, durch den die soziale Welt ihre Vergangenheit »bewältigt«. Von Verlusten kann man also erst dann sprechen, wenn Akteure, Gruppen, Diskurse oder Institutionen einen Verlust als solchen wahrnehmen, wenn sie negativ bewerten, dass etwas nicht mehr existiert, sie also das Verschwundene im weitesten Sinne »betrauern«. Es gibt somit keine objektiven Verluste. Ein Verlust existiert in der sozialen Welt vielmehr, indem die fraglichen Akteure, Praktiken oder Diskurse etwas als einen Verlust interpretieren – eine Interpretation, die dann durchaus auch von anderen bestritten werden kann. In jedem Fall hat die Verlustinterpretation höchst reale Konsequenzen: Die unmittelbarste ist die negative Affektivität, die in der Regel mit den Verlusten verbunden ist, somit die Entwicklung spezifischer Verlustaffekte. Klassischerweise kann man hier Trauer oder Traurigkeit vermuten, aber auch Wut, Angst, Verbitterung oder Ressentiment sowie ambivalente Gefühle wie Angstlust. Verlustwahrnehmung und zugehörige Affektivität lassen Verlusterfahrungen entstehen. Diese sind in der Regel schmerzhaft.

In der Psychologie gibt es Studien zur loss aversion, die herausarbeiten, dass die Intensität negativer Bewertung im Falle von Verlusten meist stärker ist als die Intensität positiver Bewertungen im Falle von Gewinnen. Noch grundsätzlicher kann man vermuten, dass Verluste derart affektiv aufgeladen sind, weil die Individuen durch den Verlust in ihrer Identität tiefgreifend berührt, ja geschädigt sind. Sigmund Freud legt dies in Trauer und Melancholie nahe: Nur was man einmal geliebt hat, kann man betrauern. Oder allgemeiner formuliert: Wenn ein Verlust wahrgenommen wird, setzt dies eine vormalige emotionale Bindung an das Verlorene voraus. Die emotionale Bindung an etwas war für die Identität, das subjektive oder kollektive Selbstverständnis zentral – wenn dieses Etwas verschwindet, läuft dies auf einen zumindest partiellen Identitätsverlust hinaus. Dies gilt nicht nur für verlorene Menschen, sondern auch für die verlorene Heimat, den verlorenen Status, die verlorene Kontrolle.

Von Judith Schalansky stammt ein literarisches Verzeichnis einiger Verluste. Eine erschöpfende Liste zu diesem Thema wird man sicherlich auch nicht erwarten können. Man sollte sich aber die Bandbreite der soziologisch relevanten Entitäten verdeutlichen, die man verlieren kann. Zunächst ist hier an konkrete, gleichsam materielle Einheiten zu denken: der Tod anderer Menschen, die chronische Erkrankung, der Verlust von Objekten (was auch deren gezielte Zerstörung einschließt). Viele gesellschaftlich relevante Verluste sind freilich abstrakter. Hier sind zum einen die im engeren Sinne sozialen Verluste zu nennen, so der soziologisch durchaus prominente Statusverlust, also das Schwinden einer Anerkennungsposition, oder der Machtverlust. Als kulturelle Verluste kann man jene Erosionen umschreiben, die sich auf tradierte Interpretationssysteme und Erfahrungsweisen beziehen, so den von Max Weber angedeuteten Sinnverlust oder den von Hermann Lübbe thematisierten Erfahrungsverlust. Nicht übersehen werden sollten die ökonomischen Verluste. Neben dem Verlust von Geld, Vermögen oder Kapital ist hier auch an die erweiterte, die symbolische Ökonomie der Wertverluste zu denken: Eine bislang stabile Wertigkeit einer Entität – eines Kunstwerks oder einer Glaubensdoktrin etwa – kann verfallen. Schließlich gibt es das weite Feld des Verlusts von abstrakten Stabilisierungsinstanzen, den empfundenen Verlust der Ordnung und Sicherheit, den Kontrollverlust, schließlich den Verlust von Erwartungen, insbesondere von positiven Zukunftserwartungen.

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