Heft 899, April 2024

Vertreter des ganzen Volkes?

Über Repräsentation und Repräsentativität von Armin Schäfer

Über Repräsentation und Repräsentativität

In seiner Rede als Alterspräsident des Bundestages am 26. Oktober 2021 erläuterte Wolfgang Schäuble sein Verständnis von Repräsentation. Jeder Versuch, den Bundestag zu einem Spiegelbild der Bevölkerung zu machen, sei von vornherein zum Scheitern verurteilt. Natürlich gebe es mit Blick auf Alter, Geschlecht oder Beruf »eklatante Abweichungen« zwischen den Abgeordneten und der Bevölkerung, aber diese seien für die Demokratie unproblematisch, da Abgeordnete »Vertreter des ganzen Volkes« seien, wie er mit Verweis auf Artikel 38 des Grundgesetzes formulierte. Die Vorstellung, gesellschaftliche Gruppen könnten nur durch ihresgleichen vertreten werden, sei ein Irrglaube. Statistische Repräsentativität sei nicht der Kern von Repräsentation.

Doch der Verweis auf die Grundgesetzformulierung »Vertreter des ganzen Volkes« wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. So ist unklar, ob die Formulierung auf ein theoretisches Konzept verweist, das diesen Anspruch als Wesen der Repräsentation begreift, oder ob damit eine normative Forderung erhoben wird, die sich an die einzelnen Abgeordneten richtet. Schließlich könnte der Hinweis auf Artikel 38 auch eine empirische Aussage sein, die mehr oder weniger stark zutreffen kann. Was bedeutet es aber für die Repräsentation, wenn empirische Muster dem theoretischen oder normativen Konzept widersprechen? So hat die politikwissenschaftliche Forschung der letzten Jahre gezeigt, dass es durchaus darauf ankommt, wer die Bürgerinnen und Bürger im Parlament vertritt. Abgeordnete, auch wenn sie sich selbst anders sehen, repräsentieren nicht das ganze Volk, sondern einen bestimmten Ausschnitt – die sozial besser gestellten Gruppen.

Auch wenn Repräsentativität als Norm der Repräsentation vordergründig zurückgewiesen wird, ist die Idee spiegelbildlicher Repräsentation dem deutschen Parlamentarismus alles andere als fremd. So ist das Wahlrecht entlang von Wahlkreisen und Landeslisten organisiert, damit alle Regionen im Parlament vertreten sind. Wenn jede Person das ganze Volk vertreten kann, wirkt die institutionell verbriefte regionale Repräsentation unnötig, und das Wahlrecht ließe sich deutlich vereinfachen, indem unter anderem die Erststimme komplett abgeschafft würde. Gerade die Union beharrt jedoch auf dem Wert dieser spezifischen Art von Repräsentativität, weil angenommen wird, dass das Wer beeinflusst, was im Parlament entschieden wird. Warum aber sollte ein Parlament ohne (oder mit nur wenigen) Frauen oder eins ohne Arbeiterinnen und Arbeiter eher hinnehmbar sein als ein Parlament ohne bayerische Abgeordnete? Es ist nicht offensichtlich, warum beim Repräsentieren regionalen Merkmalen mehr Gewicht als anderen eingeräumt werden sollte.

Wenn also bestimmte Formen der spiegelbildlichen Repräsentation nicht nur fraglos akzeptiert, sondern sogar institutionell abgesichert werden, warum werden andere Merkmale der Abgeordneten von vornherein als unwichtig dafür erachtet, was im Parlament diskutiert und entschieden wird? Betrachtet man die Abgeordneten des Bundestages, so zeigen sich tatsächlich »eklatante Abweichungen« von der Bevölkerung. Frauen, unter Vierzigjährige oder Menschen mit Migrationshintergrund sind nach wie vor stark unterrepräsentiert, während ältere Männer überrepräsentiert sind. Auch Menschen ohne Hochschulabschluss sind weit unterhalb ihres Bevölkerungsanteils vertreten. Im Gegensatz dazu sind Unternehmerinnen, Beamte und Selbständige im Bundestag deutlich überrepräsentiert. Der Bundestag ist nicht länger ein Lehrerparlament, wohl aber ein Parlament der Akademikerinnen und Akademiker. Anchrit Wille und Mark Bovens sprechen deshalb von einer »Diplomiertendemokratie«, die Folgen für die Politikgestaltung hat.

Ist Kevin Kühnert ein Problem?

Fast alle Abgeordneten haben studiert, und auch in anderer Hinsicht werden sich die Lebensläufe immer ähnlicher. Eine große Gruppe im Parlament sind »Karrierepolitikerinnen« und »-politiker«. Damit sind diejenigen gemeint, die in ihrem gesamten Berufsleben vor ihrem ersten Einzug in den Deutschen Bundestag nicht mehr als fünf Jahre hauptberuflich außerhalb der Politik gearbeitet haben. Der typische Lebenslauf beginnt in der Jugendorganisation der Partei und wird während des Studiums durch die Arbeit für eine Abgeordnete fortgesetzt. Erste Ämter auf lokaler oder regionaler Ebene treten hinzu. Nach dem Studium findet nach einer kurzen Tätigkeit in Unternehmen oder der Verwaltung der Wechsel auf einen politischen Vollzeitjob statt, beispielsweise in den Parteizentralen, als Mitarbeiterin der Fraktion oder bei einer politischen Stiftung. Nach dieser Anlernphase erfolgt schließlich die Kandidatur für Landtag oder Bundestag. Wenn viele Abgeordnete solche überwiegend parteiinternen Karrieren aufweisen, stellt sich die Frage, wie gut sie »Vertreter des ganzen Volks« sein können oder wollen. Für Großbritannien zeigt eine Studie, dass sich Karrierepolitikerinnen und -politiker stärker opportunistisch als andere Abgeordnete verhalten, weil ihre Abhängigkeit von der Parteiführung besonders stark ist.

Gerade in den Führungspositionen der Parteien finden sich immer mehr Menschen, die kein Berufsleben außerhalb der Politik kennengelernt haben – oder zumindest nicht über einen längeren Zeitraum. Neben Kevin Kühnert lassen sich in der SPD auch Rolf Mützenich oder Lars Klingbeil zu dieser Gruppe zählen, bei den Grünen Ricarda Lang, Omid Nouripour und Annalena Baerbock, bei der FDP Marco Buschmann, Johannes Vogel und Christian Dürr. Auch in der Union sind die Karrierepolitiker stark vertreten: Andreas Scheuer, Dorothee Bär und Philipp Amthor sind nur drei Beispiele – und Wolfgang Schäuble zählte auch dazu. So viel sie sonst trennen mag, eint auch Sevim Dağdelen, Sahra Wagenknecht, Katja Kipping und Janine Wissler, dass sie das Berufsleben überwiegend parteiintern kennengelernt haben.

Die Dominanz von Karrierepolitikerinnen und -politikern ist dabei kein charakterliches, sondern ein politisches Problem. Jede einzelne der genannten Personen mag hochanständig sein und sich aus ganzem Herzen für die Bürgerinnen und Bürger einsetzen – doch der Ausschnitt der Bevölkerung, den sie abbilden, ist ein sehr schmaler. Wer nur in der Politik gearbeitet hat, kennt die Erfahrungen der sprichwörtlichen Dachdecker oder Altenpflegerinnen nur vom Hörensagen. Dies kann besonders dann zum Problem werden, wenn auf unvorhergesehene Ereignisse, wie etwa die Corona-Pandemie, schnell reagiert werden muss. Wer dann die Menschen und ihre Lebensumstände nicht kennt, wird manches falsch einschätzen und anderes schlicht übersehen.

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