Vom Erben
von Andreas ReckwitzWir leben in einer Erbengesellschaft. Dies gilt bereits für den einfachsten, den vordergründigen Fall: Seit den 2000er Jahren vererben in Deutschland die wohlhabenden Nachkriegsgenerationen an ihre Kinder und andere Verwandte jedes Jahr Vermögenswerte in Höhe von etwa 250 Milliarden Euro. Die Konsequenz ist einschneidend: Der soziale Status, den man im Laufe des Lebens erreicht, hängt für die Generationen, die nach 1970 geboren sind, der Tendenz nach immer weniger vom selbst erarbeiteten Einkommen und immer mehr davon ab, ob man erbt oder nicht. Das familiäre Erbe entscheidet so in erheblichem Maße über den Lebenserfolg – mit allen sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Gerechtigkeitsproblemen.
Die Erbengesellschaft der Gegenwart erschöpft sich jedoch nicht in Vermögensfragen. Es spricht vielmehr einiges dafür, dass sich in der Spätmoderne auf verschiedenen Ebenen generell das gesellschaftliche Bewusstsein dafür schärft, mit Erbschaften vergangener Generationen konfrontiert zu sein. Man betrachtet sich und andere unter dem Aspekt, dass man als Individuum, als soziale Gruppe, als Nationalgesellschaft, ja als Spezies Homo sapiens in der Gegenwart aus der Vergangenheit etwas erbt oder in der Zukunft etwas vererben wird. Dabei kann es sich um ein positives und erfreuliches, um ein negatives und desaströses oder ein von vornherein ambivalentes Vermächtnis handeln. Es gilt: Man kann nicht nicht erben.
Jacques Derrida argumentiert 1993 in seiner Schrift Marx’ Gespenster, richtig zu leben bedeute stets, mit der Gegenwärtigkeit der Toten zu leben. Die Toten seien niemals vollständig tot, sie seien wie Gespenster notwendig weiterhin anwesend. Die Gegenwart werde vom Erbe der Vergangenheit heimgesucht. Derrida formuliert eine allgemeine philosophische Position, aber kommentiert damit zugleich einen Zusammenhang, der seit den 1990er Jahren immer deutlicher wird: Die westlichen Gesellschaften sind mit einer Vergangenheit konfrontiert, die nicht vergehen will. Insbesondere die Gewaltgeschichte Europas und Nordamerikas, die bis in die Gegenwart hinein ihre Spuren hinterlässt, ist zu einem prominenten Gegenstand der spätmodernen Erinnerungskultur geworden.
Allerdings lässt sich das Erbe, mit dem die Gesellschaft als Ganze umgeht, keinesfalls ausschließlich auf eine belastende Hypothek reduzieren. Es ist bezeichnend, dass zeitgleich zur gesteigerten Sensibilität für das moderne Gewalterbe auch der Sinn für das gewachsen ist, was man das kulturelle Erbe der Vergangenheit, das cultural heritage, nennt. In institutionalisierter Weise wird es von der UNESCO in ihrem immer weiter expandierenden Programm des Weltkulturerbes verwaltet. Ihr Ausgangspunkt lautet, dass die Geschichte ihre eigenen, auch heute noch wertvollen Güter hervorgebracht hat, die als »Erbe der Menschheit« anhaltend eines Schutzes vor Zerstörung bedürfen.
Aber auch damit ist die Präsenz des Erbes in der Gegenwartskultur noch nicht erschöpft. Mir geht es um ein Panorama der auf den ersten Blick disparaten Kontexte, in denen in der zeitgenössischen Kultur das Erbe verhandelt wird, und um einen Problemaufriss der Perspektivverschiebung, die damit verbunden ist. Die Relevanz des Erbes in der Gegenwartsgesellschaft festzustellen ist nämlich kein nebensächlicher Befund. Vielmehr wird damit ein grundsätzlicher struktureller und kultureller Wandel deutlich, der einige der leitenden Kategorien dessen, was die gesellschaftliche Moderne klassischerweise ausmachte, außer Kraft setzt: In der Transformation von der klassischen Moderne zur Spätmoderne, wie sie sich seit den 1970er und achtziger Jahren vollzieht, wird eine Rekonfiguration des Verhältnisses der Gesellschaft und ihrer Subjekte zu Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit sichtbar. Das Phänomen des Erbes spielt für diese Rekonfiguration eine zentrale Rolle.
Moderne, Spätmoderne und die Transformation der Zeitlichkeit
Spätestens seit Reinhart Kosellecks Studien zur historischen Semantik gilt als Konsens, dass die historische Außergewöhnlichkeit der modernen Gesellschaft, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert mit Aufklärungsphilosophie, Industrialisierung, Demokratisierung, Verwissenschaftlichung und Individualisierung entwickelt hat, in ihrer exzeptionellen Zukunftsorientierung wurzelt. Für die Modernen bricht die Kontinuität zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont auf. Die Zukunft, so lautet ihr Credo, werde ganz anders sein – und zwar besser. Zukunftsorientierung geht so mit Fortschrittsgewissheit einher. In diesem klassisch-modernen Zeitregime, wie es das 19. und 20. Jahrhundert beherrschte, büßt die Vergangenheit entsprechend ihren Stellenwert als Bezugspunkt für die Orientierung der Gegenwart ein. Sie erscheint vielmehr als ein überholter Zustand, den man glücklicherweise hinter sich gelassen hat.
Was den Stellenwert eines etwaigen Erbes angeht, hat diese Zeitstruktur eine einschneidende Konsequenz: Das Erbe steht in der Moderne unter Verdacht. In der Filiation von Erbschaften, von Erblassern und Erben zu denken und diese zuzulassen, erscheint nun als ein vormodernes, ein traditionales, ja illegitimes Relikt. Die Kontinuität des Erbe(n)s will die Moderne in ihrem Diskontinuitätsanspruch ein für alle Mal kappen. Sie suggeriert, dass es grundsätzlich nicht nur wünschenswert, sondern überhaupt möglich ist, das Erbe, mit dem die Vergangenheit in die Gegenwart hineinragt, hinter sich zu lassen. Dies ist die doppelte Voraussetzung des modernen Fortschrittsversprechens: Man kann das Erbe überwinden, und man sollte es überwinden.
Dies gilt für die Individuen wie für die Gesellschaft als Ganze. Den Prinzipien der modernen Leistungsgesellschaft entsprechend sollen der soziale Status und die Identität des Individuums ganz aus seinem eigenen, selbstverantwortlichen Handeln resultieren. Mit Talcott Parsons gesprochen, schaltet die moderne im Verhältnis zur traditionalen Gesellschaft von »ascribed« auf »achieved« Identitäten um: Die Identität eines Individuums wird idealerweise nicht mehr durch Herkunft und Stand sozial zugeschrieben, sondern durch individuell zurechenbare Leistungen erarbeitet. Dazu passt, dass der juristische Diskurs um das Erbrecht, der um 1800 in Frankreich, Deutschland und den USA einsetzt, die Legitimität von materiellen Erbschaften in der Familie, das Risiko der Willkür der Erblasser sowie das Verhältnis zwischen Erbe und dem meritokratischen Selbstverständnis der Gesellschaft problematisiert.
Die moderne Erbskepsis gilt jedoch auch für die Gesellschaft als Ganze: Der institutionalisierte Fortschrittsimperativ setzt darauf, mit dem Erbe der Vergangenheit zu brechen und dieses in einer endlosen Kette von Innovationen immer wieder neu zu überbieten – gleich, ob es sich um Wissenschaft und Technik, Ökonomie, Politik oder den soziokulturellen Wertewandel handelt. Am Erbe zu hängen, erscheint reaktionär. Nichts ist älter als die Neuheit von gestern, die es immer wieder durch »kreative Zerstörung« (Schumpeter) in Richtung einer offenen Zukunft zu überwinden gelte. In der Moderne erweisen sich so die jüngeren Generationen mit ihrer auf Erneuerung und Revolution geeichten Zukunftsorientierung gegenüber den älteren Generationen als »die schrecklichen Kinder der Neuzeit« (Sloterdijk), die sich vom Erbe ihrer Väter und Mütter lossagen. Oder mit Thomas Jefferson gesprochen: »the earth belongs in usufruct to the living […] the dead have neither powers nor rights over it«.
Vor dem Hintergrund dieser Distanzierungsbewegung verweist das spätmoderne Erbenbewusstsein, das sich seit den 1980er Jahren herausbildet, auf einen markanten Bruch. Aus der spätmodernen Warte erscheint es nämlich weder ohne Weiteres möglich, das Erbe – welcher Art auch immer – hinter sich zu lassen, noch erscheint dies sinnvoll und wünschenswert. Diese Umkehrung der Perspektive vom illegitimen zum notwendigen Erbe zu vollziehen, setzt jedoch voraus, dass die zukunfts- und darin fortschrittsorientierte Zeitkultur der klassischen Moderne durch eine spätmoderne Zeitkultur überlagert wird. In dieser büßt die Zukunft ihre Aussicht auf eine Überbietung der Gegenwart in eine als fortschrittlich erkannte Richtung an Glaubwürdigkeit ein. Im Extrem droht aus der spätmodernen Perspektive vielmehr eine »Zukunft als Katastrophe« (Horn), etwa durch klimatische, autoritäre oder kriegerische Entwicklungen. Die Zukunft erscheint so nicht als Raum von wahrscheinlichen Verbesserungen, sondern von möglichen Verlusten. Wenn die Zukunftsgewissheit schwindet, ist es jedoch nur konsequent, dass sich die Perspektive auf die Vergangenheit verschiebt. Diese wird nun in einem doppelten Sinne als ein Erbe sichtbar: als positives und als negatives Erbe.