Vom Erben
von Andreas ReckwitzWir leben in einer Erbengesellschaft. Dies gilt bereits für den einfachsten, den vordergründigen Fall: Seit den 2000er Jahren vererben in Deutschland die wohlhabenden Nachkriegsgenerationen an ihre Kinder und andere Verwandte jedes Jahr Vermögenswerte in Höhe von etwa 250 Milliarden Euro.1 Die Konsequenz ist einschneidend: Der soziale Status, den man im Laufe des Lebens erreicht, hängt für die Generationen, die nach 1970 geboren sind, der Tendenz nach immer weniger vom selbst erarbeiteten Einkommen und immer mehr davon ab, ob man erbt oder nicht. Das familiäre Erbe entscheidet so in erheblichem Maße über den Lebenserfolg – mit allen sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Gerechtigkeitsproblemen.
Die Erbengesellschaft der Gegenwart erschöpft sich jedoch nicht in Vermögensfragen. Es spricht vielmehr einiges dafür, dass sich in der Spätmoderne auf verschiedenen Ebenen generell das gesellschaftliche Bewusstsein dafür schärft, mit Erbschaften vergangener Generationen konfrontiert zu sein. Man betrachtet sich und andere unter dem Aspekt, dass man als Individuum, als soziale Gruppe, als Nationalgesellschaft, ja als Spezies Homo sapiens in der Gegenwart aus der Vergangenheit etwas erbt oder in der Zukunft etwas vererben wird. Dabei kann es sich um ein positives und erfreuliches, um ein negatives und desaströses oder ein von vornherein ambivalentes Vermächtnis handeln. Es gilt: Man kann nicht nicht erben.
Jacques Derrida argumentiert 1993 in seiner Schrift Marx’ Gespenster, richtig zu leben bedeute stets, mit der Gegenwärtigkeit der Toten zu leben.2 Die Toten seien niemals vollständig tot, sie seien wie Gespenster notwendig weiterhin anwesend. Die Gegenwart werde vom Erbe der Vergangenheit heimgesucht. Derrida formuliert eine allgemeine philosophische Position, aber kommentiert damit zugleich einen Zusammenhang, der seit den 1990er Jahren immer deutlicher wird: Die westlichen Gesellschaften sind mit einer Vergangenheit konfrontiert, die nicht vergehen will. Insbesondere die Gewaltgeschichte Europas und Nordamerikas, die bis in die Gegenwart hinein ihre Spuren hinterlässt, ist zu einem prominenten Gegenstand der spätmodernen Erinnerungskultur geworden.
Allerdings lässt sich das Erbe, mit dem die Gesellschaft als Ganze umgeht, keinesfalls ausschließlich auf eine belastende Hypothek reduzieren. Es ist bezeichnend, dass zeitgleich zur gesteigerten Sensibilität für das moderne Gewalterbe auch der Sinn für das gewachsen ist, was man das kulturelle Erbe der Vergangenheit, das cultural heritage, nennt. In institutionalisierter Weise wird es von der UNESCO in ihrem immer weiter expandierenden Programm des Weltkulturerbes verwaltet. Ihr Ausgangspunkt lautet, dass die Geschichte ihre eigenen, auch heute noch wertvollen Güter hervorgebracht hat, die als »Erbe der Menschheit« anhaltend eines Schutzes vor Zerstörung bedürfen.
Aber auch damit ist die Präsenz des Erbes in der Gegenwartskultur noch nicht erschöpft. Mir geht es um ein Panorama der auf den ersten Blick disparaten Kontexte, in denen in der zeitgenössischen Kultur das Erbe verhandelt wird, und um einen Problemaufriss der Perspektivverschiebung, die damit verbunden ist. Die Relevanz des Erbes in der Gegenwartsgesellschaft festzustellen ist nämlich kein nebensächlicher Befund. Vielmehr wird damit ein grundsätzlicher struktureller und kultureller Wandel deutlich, der einige der leitenden Kategorien dessen, was die gesellschaftliche Moderne klassischerweise ausmachte, außer Kraft setzt: In der Transformation von der klassischen Moderne zur Spätmoderne, wie sie sich seit den 1970er und achtziger Jahren vollzieht, wird eine Rekonfiguration des Verhältnisses der Gesellschaft und ihrer Subjekte zu Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit sichtbar. Das Phänomen des Erbes spielt für diese Rekonfiguration eine zentrale Rolle.
Moderne, Spätmoderne und die Transformation der Zeitlichkeit
Spätestens seit Reinhart Kosellecks Studien zur historischen Semantik gilt als Konsens, dass die historische Außergewöhnlichkeit der modernen Gesellschaft, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert mit Aufklärungsphilosophie, Industrialisierung, Demokratisierung, Verwissenschaftlichung und Individualisierung entwickelt hat, in ihrer exzeptionellen Zukunftsorientierung wurzelt.3 Für die Modernen bricht die Kontinuität zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont auf. Die Zukunft, so lautet ihr Credo, werde ganz anders sein – und zwar besser. Zukunftsorientierung geht so mit Fortschrittsgewissheit einher. In diesem klassisch-modernen Zeitregime, wie es das 19. und 20. Jahrhundert beherrschte, büßt die Vergangenheit entsprechend ihren Stellenwert als Bezugspunkt für die Orientierung der Gegenwart ein. Sie erscheint vielmehr als ein überholter Zustand, den man glücklicherweise hinter sich gelassen hat.
Was den Stellenwert eines etwaigen Erbes angeht, hat diese Zeitstruktur eine einschneidende Konsequenz: Das Erbe steht in der Moderne unter Verdacht.4 In der Filiation von Erbschaften, von Erblassern und Erben zu denken und diese zuzulassen, erscheint nun als ein vormodernes, ein traditionales, ja illegitimes Relikt. Die Kontinuität des Erbe(n)s will die Moderne in ihrem Diskontinuitätsanspruch ein für alle Mal kappen. Sie suggeriert, dass es grundsätzlich nicht nur wünschenswert, sondern überhaupt möglich ist, das Erbe, mit dem die Vergangenheit in die Gegenwart hineinragt, hinter sich zu lassen. Dies ist die doppelte Voraussetzung des modernen Fortschrittsversprechens: Man kann das Erbe überwinden, und man sollte es überwinden.
Dies gilt für die Individuen wie für die Gesellschaft als Ganze. Den Prinzipien der modernen Leistungsgesellschaft entsprechend sollen der soziale Status und die Identität des Individuums ganz aus seinem eigenen, selbstverantwortlichen Handeln resultieren. Mit Talcott Parsons gesprochen, schaltet die moderne im Verhältnis zur traditionalen Gesellschaft von »ascribed« auf »achieved« Identitäten um:5 Die Identität eines Individuums wird idealerweise nicht mehr durch Herkunft und Stand sozial zugeschrieben, sondern durch individuell zurechenbare Leistungen erarbeitet. Dazu passt, dass der juristische Diskurs um das Erbrecht, der um 1800 in Frankreich, Deutschland und den USA einsetzt, die Legitimität von materiellen Erbschaften in der Familie, das Risiko der Willkür der Erblasser sowie das Verhältnis zwischen Erbe und dem meritokratischen Selbstverständnis der Gesellschaft problematisiert.6
Die moderne Erbskepsis gilt jedoch auch für die Gesellschaft als Ganze: Der institutionalisierte Fortschrittsimperativ setzt darauf, mit dem Erbe der Vergangenheit zu brechen und dieses in einer endlosen Kette von Innovationen immer wieder neu zu überbieten – gleich, ob es sich um Wissenschaft und Technik, Ökonomie, Politik oder den soziokulturellen Wertewandel handelt. Am Erbe zu hängen, erscheint reaktionär. Nichts ist älter als die Neuheit von gestern, die es immer wieder durch »kreative Zerstörung« (Schumpeter) in Richtung einer offenen Zukunft zu überwinden gelte. In der Moderne erweisen sich so die jüngeren Generationen mit ihrer auf Erneuerung und Revolution geeichten Zukunftsorientierung gegenüber den älteren Generationen als »die schrecklichen Kinder der Neuzeit« (Sloterdijk), die sich vom Erbe ihrer Väter und Mütter lossagen.7 Oder mit Thomas Jefferson gesprochen: »the earth belongs in usufruct to the living […] the dead have neither powers nor rights over it«.8
Vor dem Hintergrund dieser Distanzierungsbewegung verweist das spätmoderne Erbenbewusstsein, das sich seit den 1980er Jahren herausbildet, auf einen markanten Bruch. Aus der spätmodernen Warte erscheint es nämlich weder ohne Weiteres möglich, das Erbe – welcher Art auch immer – hinter sich zu lassen, noch erscheint dies sinnvoll und wünschenswert. Diese Umkehrung der Perspektive vom illegitimen zum notwendigen Erbe zu vollziehen, setzt jedoch voraus, dass die zukunfts- und darin fortschrittsorientierte Zeitkultur der klassischen Moderne durch eine spätmoderne Zeitkultur überlagert wird.9 In dieser büßt die Zukunft ihre Aussicht auf eine Überbietung der Gegenwart in eine als fortschrittlich erkannte Richtung an Glaubwürdigkeit ein. Im Extrem droht aus der spätmodernen Perspektive vielmehr eine »Zukunft als Katastrophe« (Horn), etwa durch klimatische, autoritäre oder kriegerische Entwicklungen.10 Die Zukunft erscheint so nicht als Raum von wahrscheinlichen Verbesserungen, sondern von möglichen Verlusten. Wenn die Zukunftsgewissheit schwindet, ist es jedoch nur konsequent, dass sich die Perspektive auf die Vergangenheit verschiebt. Diese wird nun in einem doppelten Sinne als ein Erbe sichtbar: als positives und als negatives Erbe.11
Diese Janusköpfigkeit des spätmodernen Erbenbewusstseins ist bezeichnend: Einerseits kommt man nun nicht umhin anzuerkennen, dass die Vergangenheit wertvolle Güter anzubieten hat, die es in der Gegenwart zu kultivieren und zu nutzen gilt – sei es ein materielles oder kulturelles Familienerbe, sei es das kulturelle oder institutionelle Erbe der Gesellschaft. Die Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinwirkt, ist aus dieser Perspektive nicht überholt, sondern bietet Ressourcen und Werte, die in der Gegenwart und Zukunft Möglichkeiten eröffnen. Andererseits erkennt die Spätmoderne in der Vergangenheit auch und gerade ein negatives Erbe, ein Erbe als Last oder Hypothek, welches in der Gegenwart als Trauma oder Schuld, als Verschlechterung der Lebensbedingungen oder als epigenetische Einschränkung wirkt. Beide, das positive wie das negative Erbe, erweisen sich in der spätmodernen Kultur als zentrale Quellen mannigfacher Konflikte um Identität, Anerkennung und Gerechtigkeit. Die Identitätskämpfe der Spätmoderne stellen sich so nicht selten als Erbschaftsstreitigkeiten heraus.
In der Spätmoderne gilt also grundsätzlich: Die Vergangenheit ist nicht abgeschlossen. Sie lässt sich gar nicht abschließen, sondern betrifft als ein Erbe die Gegenwart (und Zukunft), in der sie weiterwirkt. Dieses Erbe ist ambivalent. Es enthält Ressourcen und Hypotheken, Wert und Schuld zugleich. Hinzu kommt: Grundsätzlich findet in jedem Erbe eine Übertragung statt, in der etwas – seien es Vermögen oder Gene, seien es Erfahrungen oder Schulden – von einem vorangegangenen zu einem späteren Zeitpunkt transferiert wird. In diesem Prozess der Übertragung gehen jedoch zwei Mechanismen Hand in Hand: die Faktizität einer Wirkung der Vergangenheit, die sich ereignet, ob man will oder nicht, und die Aneignung eines solchen Erbes in variablen kulturellen Praktiken des Erbens, in denen ein doing heritage /inheritance stattfindet.
Es gibt also auf der einen Seite eine – aus der Warte des modernen Glaubens an die Gestaltbarkeit von Biografie und Gesellschaft verstörende – Unverfügbarkeit des Erbes. Hier wird eine Vergangenheit sichtbar, die nicht vergehen will, die beispielsweise als ungleich verteiltes Vermögen, als Staatsschulden, als traumatische Spur in der Psyche oder als irreversible Veränderung in der klimatischen Struktur der Erde wirkt. Dies ist die Materialität des Erbes. Auf der anderen Seite ist das Erbe niemals unabhängig von den Praktiken zu denken, in denen es kulturell angeeignet wird, in denen es kultiviert oder abgelehnt, rechtlich reguliert oder musealisiert oder darüber debattiert wird, was als Erbe zählen soll und was nicht. Dies ist die Kulturalität des Erbens. Das Erbe erweist sich so als eine materiell-kulturelle Doublette.
Familiäres Erbe und Vermögen
Wenn in der Gegenwartskultur das Erbe zum Thema wird, dann betrifft dies zunächst die Individuen und ihr familiäres Erbe. Die Familie als Sozialform muss die Prinzipien moderner Gesellschaftlichkeit herausfordern, ja partiell außer Kraft setzen.12 In den Familien findet sich nämlich unweigerlich ein Restbestand, ein Überbleibsel der Filiationsbeziehungen traditionaler Gemeinschaften. Einerseits löst sich das moderne Modell der Kleinfamilie zwar von den großflächigen Verwandtschaftsnetzwerken traditionaler Gesellschaften mit ihren Privilegien und Einschränkungen. Andererseits wird die heranwachsende Generation in den Kleinfamilien auch unter Bedingungen der modernen Gesellschaft zwangsläufig mit einem Erbe belastet beziehungsweise mit einem solchen komfortabel ausgestattet. Über den Weg der biologischen Reproduktion, des familiären Sozialisationsprozesses und schließlich der Vermögenserbschaften selbst noch im Erwachsenenalter ist das moderne Individuum prägenden Einflüssen der Herkunftsfamilie ausgesetzt, die sich vollständig oder teilweise der individuellen Entscheidung und Verfügung entziehen und für eine entsprechend notwendig ungleiche Verteilung von Assets und Handicaps sorgen. Im Rahmen einer spätmodernen Gesellschaft, die den modernen Individualismus mit ihrem Selbstverwirklichungs- und Eigenverantwortlichkeitsideal auf die Spitze treibt, muss die Unverfügbarkeit dieser Ausstattung mit einem familiären Erbe vielgestaltiger Art als Irritation und Provokation erscheinen.
In Bezug auf das materielle Vermögen lässt sich dabei seit den 1990er Jahren eine strukturelle Verschiebung beobachten, deren Brisanz mittlerweile auch die öffentlichen Debatten erreicht hat. Der französische Ökonom Thomas Piketty macht in seiner historischen Untersuchung der Vermögensstrukturen in Frankreich einen grundsätzlichen Strukturwandel aus, der sich in ähnlicher Weise in den meisten westlichen Gesellschaften findet.13 Grafisch vorgestellt, nimmt er die Form einer U-Kurve an: Die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts war in beträchtlichen Teilen eine postaristokratische Rentiergesellschaft, in der die privilegierten Schichten von ihrem ererbten Vermögen lebten. Im 20. Jahrhundert reduzierte sich die Vermögensungleichheit: Die Mittelschichtsgesellschaft, die in den Trente Glorieuses der Nachkriegszeit ihren Höhepunkt erlebte, war im Kern eine meritokratische Gesellschaft, in der sich die Erwerbsarbeit der Mittelschicht erfolgreich in (Immobilien)Vermögen umsetzen ließ. In der Spätmoderne verschärfen sich Piketty zufolge jedoch erneut die Vermögensunterschiede, und zwar insbesondere durch die ungleiche Vermögensvererbung.
Die tendenziell immobilen, stagnierenden Gesellschaften der Gegenwart, deren Ökonomien nur noch geringe Wachstumsraten aufweisen und in denen die massenhaften sozialen Aufstiegsgeschichten Vergangenheit sind, weisen damit erneut Züge der alten Rentiergesellschaft auf. Die Höhe des ererbten Vermögens erlangt dabei eine neue Relevanz als Sortiermechanismus für die Verteilung von Lebenschancen. Die Journalistin Julia Friedrichs hat mögliche Folgen dieses Prozesses bereits vor etwa zehn Jahren in Wir erben plastisch beschrieben:14 Das meist von den Eltern vererbte Kapital avanciert zum entscheidenden Startvorteil, der den Erben in der spätmodernen Mittelklasse beispielsweise den Immobilienkauf ermöglicht, der als Back-up den Berufseinstieg oder die Familiengründung erleichtert und der Mittel für Investitionen in die Bildungslaufbahn der eigenen Kinder freisetzt. Jene, die nicht erben, leben selbst als Akademiker mit Mittelschichtseinkommen demgegenüber in beengteren Verhältnissen. Vor dem Hintergrund des normativen Modells einer Leistungsgesellschaft wirft die Rolle des leistungslosen Vermögens immense Gerechtigkeitsprobleme auf.
Kulturelles und emotionales Erbe
Das Familienerbe erschöpft sich jedoch nicht im Geldvermögen. Mit Pierre Bourdieu gesprochen: Wirkungsmächtig ist nicht nur das ökonomische, sondern auch das kulturelle Kapital,15 vererbt wird in gewissem Umfang auch und gerade der kulturelle Habitus sozialer Klassen. Das ist soziologisch keine neue Erkenntnis. Neu ist jedoch, dass sich seit den 2010er Jahren der öffentliche Diskurs für die Folgen dieses Sozialisationserbes sensibilisiert. Augenfällig ist hier insbesondere das breit zirkulierende Genre der sogenannten Autosoziobiografien, das Sachbücher ebenso wie Romane sowie hybride Formen umfasst: Von Didier Eribons Rückkehr nach Reims und Edouard Louis’ Das Ende von Eddy über J. D. Vance’ Hillbilly Odyssee bis zu Christian Barons Ein Mann seiner Klasse und zu Romanen wie Saša Stanišić’ Herkunft oder Anke Stellings Schäfchen im Trockenen haben eine Reihe von Büchern Bestsellerstatus erreicht, in denen das komplexe kulturelle und soziale Erbe der sozialen Klassen zum Thema wird.16 Häufig handelt es sich um Darstellungen einer Herkunft aus der Arbeiterschaft oder einer prekären Unterklasse, aus der sich eine Spannung ergibt, die den Texten ihren besonderen Reiz verleiht: Die Autoren und Autorinnen, die über diese ihre Herkunft schreiben, sind als Schriftsteller ihrem Herkunftsmilieu entwachsen und demonstrieren mit ihrer Biografie, dass Klasse nicht Schicksal sein muss. Zugleich wird jedoch sichtbar, dass selbst in diesen Fällen das Erbe des Herkunftsmilieus weiterwirkt – sei es in Form einer Klassenscham, sei es in bestimmten Dispositionen aus dem Herkunftsmilieu, die so tief verankert sind, dass sie auch im »neuen Leben« weiterwirken.
Es gibt noch eine weitere Form des familiären Erbes, für die man in den letzten Jahrzehnten ein Bewusstsein entwickelt hat: das emotionale und epigenetische Erbe. Die Frage nach dem emotionalen Familienerbe, wie es Autorinnen und Autoren wie Galit Atlas, Peter Teuschel oder Mark Wolynn beschäftigt, geht dabei über die für die psychoanalytische Therapie von Beginn an zentrale Problematik der Kindheitserfahrungen und Familienkonstellation hinaus.17 Was nun in den Blick gerät, ist vielmehr die intergenerationelle Übertragung psychischer Probleme, nicht zuletzt von Traumata. Die Initialzündung für die Analysen zum emotionalen Erbe liefern die Symptome der erwachsenen Kinder von Gewaltopfern, zunächst insbesondere aus Familien von Holocaust-Opfern. Ein belastendes emotionales Erbe findet sich auch in Familien, in denen Eltern als Kinder oder Jugendliche Krieg, Flucht, Vertreibung, schwere Erkrankungen oder sexuellen Missbrauch erlebt haben. Sabine Bode hat auf das emotionale Erbe der »Kinder der Kriegskinder« in Deutschland hingewiesen, für das lange Zeit kaum ein Bewusstsein existierte.18
In der psychologischen und biologischen Forschung ist man seit den 1990er Jahren zu dem Schluss gekommen, dass die Übertragung dieses emotionalen Erbes nicht allein über den Weg der Sozialisation stattfindet. Vielmehr wirken hier zusätzlich sogenannte epigenetische Mechanismen, durch die sich Erfahrungen wie kindliche Traumatisierungen im Körper manifestieren und dort epigenetische Veränderungen bewirken, die wiederum später an die eigenen Kinder biologisch vererbt werden können.19 Die Traumata der Mütter und Väter schlagen sich so unter Umständen unabhängig von Sozialisationsprozessen in der körperlichen (epigenetischen) Programmierung ihrer Kinder nieder. Die Epigenetik erscheint jedoch ihrerseits nicht als fix, sondern als durch Verhalten veränderbar: Das intergenerationale emotionale Erbe im Sinne eines cycle breaking zu durchbrechen wird so zum therapeutischen Ziel.20
Gesellschaftliches Erbe: Dreierlei Hypotheken
Das Erbe betrifft nicht nur die Individuen in ihren Familien, es betrifft auch die Gesellschaften insgesamt. Es ist auffällig, dass sich seit den 1990er Jahren eine Reihe von politisch wirkmächtigen Diskursen etablieren, die im Kern um die Annahme eines negativen Erbes kreisen, das aus der Geschichte der westlichen Moderne in die Gesellschaft der Gegenwart und Zukunft hineinwirkt. Vor allem drei solche Erbdiskurse sind einflussreich: das Motiv des Erbes der modernen Gewaltgeschichte, das Motiv des klimatisch-geologischen Erbes des Anthropozän, schließlich jenes der ökonomischen Verschuldung. Gewalt, Klima, Schulden – drei der wichtigsten Stichworte der spätmodernen Selbstverständigung basieren somit auf der Denkfigur einer gesellschaftlichen Erbschaft als Hypothek.
Dass sich seit den 1980er Jahren in Europa und Nordamerika eine Erinnerungskultur etabliert, in der die staatlichen Gewaltverbrechen der europäischen und nordamerikanischen Geschichte zu einem breit behandelten Thema werden, ist häufig festgestellt worden. Die Thematisierung des nationalsozialistischen Genozids an den europäischen Juden, wie sie in der westdeutschen und US-amerikanischen Öffentlichkeit in den 1970er Jahren einsetzte, kann als Initialzündung für die spätmoderne Erinnerungskultur gelten. Seit den 1990er Jahren wurde das Gewalterbe der kommunistischen Systeme in Osteuropa, aber auch jenes der autoritären Systeme in Südeuropa und Lateinamerika ins kollektive Gedächtnis gehoben. Seit den 2000er Jahren hat sich ein öffentliches Bewusstsein für das Erbe des europäischen Kolonialismus und der US-amerikanischen Sklaverei entwickelt. Es wirkt von den Beutekunst-Debatten bis zur Black Lives Matter-Bewegung und verkompliziert die westlichen Erinnerungsverhältnisse weiter.21 Die Anerkennung der Opfer, die Verantwortung der Täter, der Stellenwert von Gewalt und Unterdrückung im Rahmen der National- und Globalgeschichte – dies alles macht das Gewalterbe zu einer politisch umkämpften Angelegenheit. Aus der Perspektive eines derartigen kollektiven Erbes ist die Geschichte alles andere als abgeschlossen, sondern eine »heiße Vergangenheit« (Chris Lorenz), die in ihrer Schmerzhaftigkeit in die Gegenwart hineinragt und dort für Konflikte sorgt.22
Bemerkenswert an der seit den 2010er Jahren breit geführten Debatte um das Anthropozän, von deren Theoriebeiträgen die Klimabewegung intellektuellen Rückenwind erhielt, ist, dass hier letztlich eine neue Menschheitsgeschichte geschrieben wird.23 In deren Zentrum findet sich die These eines fundamentalen Wandels des Mensch-Natur-Verhältnisses. Auf eine Epoche, in der die Menschheit sich in einem recht stabilen naturräumlichen Rahmen bewegte, folgt eine Vernetzung von Mensch und Natur, in der der Mensch diesen naturräumlichen Rahmen der Erde beabsichtigt und unbeabsichtigt transformiert, und zwar mit dem Klimawandel letztlich in eine für die Gesellschaft und Natur bedrohliche Richtung. Zwar ist der genaue historische Beginn des Anthropozän umstritten. Meist wird der Beginn dieses neuen, instabilen Erdzeitalters jedoch mit der europäischen Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert identifiziert. Jene Industrialisierung, die im über lange Zeit herrschenden Modernisierungsnarrativ als entscheidender Schritt in Richtung der Fortschrittlichkeit der Moderne interpretiert wurde, erweist sich nun als ein fatales Erbe, indem sie eine extensive Energienutzung mithilfe fossiler Energien voraussetzte. Die Theorie des Anthropozän geht also von einem negativen Erbe ökologischer Art aus, das in seiner Faktizität unverfügbar erscheint. Die vergangene Energienutzung hat bereits irreversible Spuren in der klimatisch-geologischen Struktur der Erde hinterlassen. Zugleich erscheint dieses Erbe nicht vollständig als Schicksal – dies ist jedenfalls die in der Klimabewegung bislang dominante Position: Man wird das negative Erbe zwar nicht auf einmal los, könnte aber, falls die Umkehr in Richtung einer postfossilen Zukunft gelänge, zumindest mit ihm brechen.
Das dritte Motiv, das im spätmodernen Diskurs auf ein negatives Erbe verweist, ist das der Schulden. Im Kern geht es hier um die Belastung der zukünftigen Generationen durch die extensive finanzielle Verschuldung vieler Nationalstaaten in Europa und Nordamerikas.24 Die Vereinigten Staaten haben mittlerweile eine Staatsverschuldung in Höhe von 125 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht, und in Deutschland sind es immerhin 64 Prozent.25 Mithilfe von Schulden kauft man sich Zeit in der Gegenwart – Zinszahlung und Tilgung finden hingegen in der Zukunft statt. Die gegenwärtigen Generationen leben so auf Kosten der kommenden. Auch eine in der Gegenwart vernachlässigte öffentliche Infrastruktur kann zumindest in weiterem Sinne als eine Form von Verschuldung interpretiert werden: Man spart sich die Investition in die Infrastruktur in der Gegenwart, so dass die kommende Generation marode Verkehrswege, Schulen und Krankenhäuser erbt. Die Frage ist dann nicht mehr, ob man Schulden aufnehmen will, sondern welche man in Kauf nimmt. Mit Blick auf die öffentliche Verschuldung tut sich so ein eigentümlicher Kontrast zu den Vermögensverhältnissen in den Familien auf: Während dort im oberen Drittel der sozialen Pyramide private Vermögen in großem Umfang vererbt werden, erbt die Gesellschaft als Ganze über die staatlichen Haushalte Schulden in einem bisher ungekannten Maß. Der Gegensatz privater Reichtum /öffentliche Armut kann und muss so auch erbsoziologisch interpretiert werden.
Mit den Diskursen der Gewaltgeschichte, des Anthropozän und der Schulden verkehrt sich der fortschrittsoptimistische Blick auf die Moderne in sein Gegenteil: Die moderne Gesellschaft hinterlässt mannigfache Hypotheken, die selbst die kommenden Generationen noch heimsuchen werden. Ideenhistorisch gesprochen: In der Spätmoderne erhält die christliche Vorstellung der Erbsünde gleichsam ein säkulares Korrelat. Die Erbskepsis des modernen, zukunftsorientierten Fortschrittsdenkens hatte konsequenterweise das Reden von der Erbsünde nämlich gleich mitabgeräumt.26 Die traditionsreiche christliche Vorstellung, dass der Mensch schon seit seiner Schöpfung von einem genuinen Sündenfall belastet sei, der sich aus der menschlichen Hybris ergeben habe, ist dem optimistisch-aufklärerischen und geschichtsphilosophischen Denken fremd. In der kritischen Perspektive der Spätmoderne taucht dieses Grundmotiv eines lange zurückreichenden, ethisch fatalen Erbes, das man nicht los wird, jedoch wieder auf. Die christliche Erbsünde des Menschen hat sich in die mannigfache(n) Schuld(en) der westlich-modernen Gesellschaftsgeschichte verwandelt, die mit dieser letztlich immer schon verwoben gewesen sei(en).
Cultural Heritage
Kann man das kollektive Erbe heute also nur noch negativ, als Last oder Hypothek denken? Das wäre zu einfach. Es gibt durchaus Ansätze, die ein positives kollektives Erbe erkennen, das heißt, ein gesellschaftliches Vermögen, das die Vergangenheit in der Gegenwart hinterlässt und das es wert scheint, auch von der Gegenwart auf die Zukunft übertragen zu werden. Im Rahmen des spätmodernen Zeitregimes ist dies nur konsequent: Wenn man das Positive nur noch im begrenzten Maß von Fortschritt und Innovation in der Zukunft erwartet, schärft sich der Blick für die Werte und Fortschritte der Vergangenheit und Gegenwart. Diese gilt es, vor dem Verlust zu schützen.
In diesem Zusammenhang hat die Frage nach dem kulturellen Erbe in den letzten Jahrzehnten ihre eigene Präsenz entfaltet. Was ein kulturelles Erbe ist und wie man es schützen kann, begleitet als Problemstellung die »Geburt des Museums« (Tony Bennett) in Europa und Nordamerika bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts.27 Seit den 1970er Jahren ist jedoch unter der Überschrift des cultural heritage ein kulturpolitischer Diskurs um das Erbe explodiert, der auch erhebliche politische und städtebauliche Konsequenzen hat.28 Die Denkmalschutzbewegung hat die Öffentlichkeit und den Staat seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts für den Erhaltungswert historischer Bausubstanz sensibilisiert, die Expansion der Museumslandschaft hat den Raum des als erhaltenswertes Erbe Deklarierten über Kunstwerke hinaus weit in den Bereich der Alltags-, Populär- und Industriekultur hinein erweitert, und der heritage tourism hat die Besichtigung des kulturellen Erbes in Stadt und Land zu einem wichtigen Strang der expandierenden Tourismusökonomie werden lassen.
Als internationaler Schrittmacher erweist sich das UNESCO-Programm des Weltkulturerbes, das seinen Gegenstand seit den 1970er Jahren beträchtlich ausgeweitet hat: Kulturell relevant erscheinen nun nicht mehr nur die von Menschen gemachten Dingwelten, sondern auch Landschaften und schließlich das immaterielle Erbe, das heißt kulturelle Praktiken wie etwa Musik, darstellende Kunst oder Esskultur. Ursprünglich wurde die Perspektive des kulturellen Erbes auf Relikte aus Zeiten vor der gesellschaftlichen oder ästhetischen Moderne bezogen,29 mittlerweile erlangen Heritage-Charakter jedoch auch Hinterlassenschaften der gesellschaftlichen Moderne wie Industriedenkmäler oder der ästhetischen Moderne wie Gebäude des International Style.
Die Moderne wird so selbst zu einem kulturellen Erbe – allerdings zu einem umstrittenen. Nicht wenige der notorischen Kulturkämpfe der Spätmoderne drehen sich bei näherer Betrachtung um die Frage, was in welcher Hinsicht für wen als kulturelles Erbe zählt und welches Erbe bedeutsamer ist als ein anderes. Die Valorisierung des Erbes bewegt sich unweigerlich im Feld einer symbolischen Ökonomie mit ihrer konflikthaften Dynamik von Wertzuschreibungen dessen, was als historisch einzigartig zählt.30 Die hitzige Debatte um die historische Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses und den Abriss des Palasts der Republik beispielsweise lässt sich dann als Lehrstück einer solchen Erbschaftsstreitigkeit dechiffrieren: Welches Erbe scheint bewahrenswerter – das barock-klassizistische Schlossgebäude der preußischen Hauptstadt oder das politisch-kulturelle Multifunktionsgebäude der DDR?
Institutionelles Erbe
Das Thema des positiven Erbes bleibt jedoch nicht auf das kulturpolitische Feld beschränkt. Enthält die moderne Gesellschaft nicht auch in ihren zentralen institutionellen Bereichen in mancher Hinsicht ein wertvolles Erbe, dessen Weiterführung zur Aufgabe wird? Virulent wird diese Frage gegenwärtig nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Aufstieg des politischen Populismus und der Zerstörungskraft, die er entfaltet. Ein konkretes Beispiel: In ihrem Wahlkampf zur US-amerikanischen Präsidentschaftswahl 2024 hat die Kandidatin der Demokraten, Kamala Harris, die Verteidigung des liberalen Abtreibungsrechts zu einem ihrer wichtigsten Themen gemacht. Harris hat die Wahl verloren, aber interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Kandidatin der »Partei des Fortschritts« nicht der Eroberung einer neuen, besseren Zukunft, sondern der Verteidigung einer in der jüngeren Vergangenheit erkämpften Errungenschaft eine zentrale Rolle zuschrieb. Nicht nur für Konservative, sondern auch für Progressive wird nun also offenbar die Verteidigung eines bestimmten Erbes zur Mission – in diesem Fall eines Rechtssystems, das ein bestimmtes Freiheitsrecht sichert.
In Harris’ Abtreibungsthema spiegelt sich ein grundsätzliches Anliegen, das angesichts der Internationale des Rechtspopulismus, die seit den 2010er Jahren entstanden ist, die linken, liberalen und gemäßigt-konservativen Kräfte umtreibt: Es besteht darin, das akut bedrohte Erbe der liberalen Demokratie selbst, die sich als politisches System in Europa und Nordamerika in einem längeren historischen Prozess herausgebildet hat, zu verteidigen. Die liberale Demokratie als ein solches fragiles Erbe zu verstehen, setzt allerdings eine Perspektivverschiebung voraus: Die westliche Demokratie erscheint dann nicht mehr gut geschichtsphilosophisch – gleichsam mit Hegel, Habermas und der Commonsense-Modernisierungstheorie im Rücken – als das nur logische Ergebnis eines irreversiblen gesellschaftlichen Lernprozesses, hinter den dauerhaft zurückzufallen denkunmöglich ist. Sie wird vielmehr als ein ebenso kostbares wie zerbrechliches institutionelles Geflecht sichtbar, das in einer bestimmten historischen Phase unter sehr besonderen Umständen entstanden ist und in Zukunft durchaus auch wieder zerfallen könnte.31 Ein Erbe kann man eben auch verspielen, es kann zerstört oder vergessen werden. Die Übertragung des Erbes erfolgt nicht automatisch, sondern bedarf eines doing heritage /inheritance, einer aktiven Arbeit an der Übertragung des Wertvollen für kommende Generationen.
Die Frage nach dem gesellschaftlichen Erbe der Moderne ist die nach einem Fortschrittserbe: Fortschritt wird spätmodern nur in begrenztem Maße als endlose Verbesserungssequenz gedacht, die in einer verheißungsvollen Zukunft auf uns wartet. Fortschritt lässt sich vielmehr in dem sehen, was die Moderne – wie unvollkommen auch immer und wie strittig im Einzelnen – in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten erreicht hat. Das, was man Fortschritt nennt, erscheint so weniger als ein Zukunftsprojekt denn als ein erarbeitetes und erkämpftes Erbe der Moderne in bestimmten Praktiken, institutionellen Arrangements, Werten und Erfahrungen in verschiedensten Bereichen der Gesellschaft. Wenn man es schützen und weiterentwickeln will, muss es aber als ein solches positives Erbe sichtbar werden. Dem Werk Existenzweisen des französischen Soziologen Bruno Latour liegt interessanterweise ein ähnlicher Gedanke zugrunde:32 Das, was er den notwendigen »Rückruf der Moderne« nennt, läuft auf eine kritische Musterung der modernen Institutionen – Wissenschaft, Bildung, Kunst, Wirtschaft, Recht, Politik etc. – unter dem Aspekt hinaus, was sie an verteidigenswert Wertvollem, eben an »Existenzmodi« anzubieten haben.
Tatsächlich spricht einiges dafür, dass das Bewusstsein für das fragile Erbe der Moderne wächst, dessen Pflege nötig erscheint, um den Möglichkeitsspielraum, den es eröffnet, weiterhin nutzen zu können. Jenseits des politischen Erbes von Demokratie und Rechtsstaat lassen sich auch weniger spektakuläre Beispiele für ein neues Erbenbewusstsein finden. Etwa in der Ökonomie. So hat seit den 1970er Jahren im Gefolge von Arnaldo Bagnasco die Wirtschaftssoziologie die besondere Struktur des sogenannten Terza Italia herausgearbeitet:33 Das nordöstliche Italien zeichnet sich durch Wohlstandsentwicklung und ökonomische Robustheit aus, und als Voraussetzung dafür kann man eine sehr spezifische regionale ökonomische Tradition, ein historisch seit der Frühen Neuzeit gewachsenes Geflecht von kleinen Handwerksbetrieben mit ihren Innovationsmöglichkeiten und Vertrauensbeziehungen festmachen. Im Terza Italia gibt es also ein voraussetzungsreiches regionales Erbe von Unternehmens- und Industriekultur, das als solches erkannt werden muss, um es als Voraussetzung von ökonomischer Prosperität auch im Zeitalter des kognitiv-kulturellen Kapitalismus zu pflegen und weiterzuentwickeln.
Ein Erbenbewusstsein kristallisiert sich auch in einem scheinbar noch profaneren Bereich heraus: dem der modernen Infrastrukturen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind in Europa und Nordamerika flächendeckende Netzwerke der Elektrizität, der Versorgung mit Energie und Wasser oder des öffentlichen Verkehrs eingerichtet worden, die das Rückgrat des Komforts des modernen Lebens bilden. Wie es die Gruppe Foundational Economy darstellt,34 führt häufig erst die Vernachlässigung dieser und anderer öffentlichen Einrichtungen in den letzten Jahrzehnten vor Augen, welches kostbare Erbe diese scheinbar trivialen Infrastrukturen bilden – ein Erbe, das zerfällt, wenn es nicht kontinuierlich gewartet wird.
Rekonfigurationen der Spätmoderne
Indem die späte Moderne den Zukunftsoptimismus verabschiedet, treten Erben und Vererben als Notwendigkeiten in den Blick. Diese Perspektivverschiebung lässt einige vertraute Konzepte der Moderne in einem neuen Licht erscheinen. Dies betrifft zum einen die traditionsreiche Unterscheidung zwischen konservativ und progressiv. In der klassischen Moderne waren die Rollen eindeutig verteilt: Jene, die dem Banner des Fortschritts folgten, die Linken und Liberalen, plädierten für einen endgültigen Bruch mit dem rückschrittlichen Erbe, während den Konservativen die Rolle zukam, verzweifelt an einem (vormodernen) Erbe festzuhalten. In der Spätmoderne funktioniert diese Rollenaufteilung nicht mehr. Das Erbe ist unter spätmodernen Vorzeichen kein konservatives Reservat mehr. Als Thema zirkuliert es vielmehr in der gesamten Gesellschaft und in allen politischen Lagern.
Eine Perspektivverschiebung bewirkt das neue Erbenbewusstsein auch hinsichtlich des Konzepts der Generationen. Tim Ingold hat aus der Warte des Sozial- und Kulturanthropologen jüngst auf die Notwendigkeit eines neuen Generationenbewusstseins hingewiesen.35 Die klassische Moderne war geradezu besessen von der Idee der Generationen und verknüpfte den Begriff mit der Vorstellung von Innovation, Diskontinuität und Fortschritt. In dieser Perspektive bildete die jeweils jüngere Generation unweigerlich eine Avantgarde, die Speerspitze des Fortschritts. Entfaltet man ein Erbenbewusstsein, wird hingegen sichtbar, wie sehr in der Kette der Generationen diese einander einen Staffelstab weitergeben, wie sehr Spätere die Jüngeren beeinflussen und ihnen Ressourcen und Lasten übermitteln. Ingold entwickelt dementsprechend die Vision eines neuen Generationenvertrags, in dem die Generationen nicht als Konkurrenten, sondern als Bündnispartner auftreten. Die Generationen der Gegenwart erscheinen dann nicht isoliert, sondern als Glieder einer langen Kette zwischen den Toten und den noch nicht Geborenen.
Damit schält sich jedoch auch eine veränderte Perspektive auf die Zukunft heraus. Es wäre verfehlt, das Erbenbewusstsein nur auf die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu beziehen. Während in der klassischen Moderne die Zukunft als ein offener Möglichkeitsraum erschien, in dem künftige Errungenschaften stattfinden würden, die sich in ihrer Kühnheit noch gar nicht absehen ließen, betrachtet die Spätmoderne die Zukunft verstärkt unter dem Aspekt, was die Gegenwart dieser Zukunft vererben wird. Es gilt das Futur II: Was werden wir vererbt haben – und welche Auswirkungen wird dieses Erbe im Positiven wie im Negativen auf die nachfolgenden Generationen haben? Der populäre Begriff der Nachhaltigkeit ist letztlich eine Umschreibung für ein solches zukunftsbezogenes Erbenbewusstsein.
An die Stelle der klassisch-modernen Annahme einer Diskontinuität zwischen Gegenwart und Zukunft tritt in der Spätmoderne die Vorstellung, dass von der Gegenwart auf die Zukunft unweigerlich eine Übertragung stattfinden wird. Die heutige Gegenwart erscheint so als wirkmächtige Vergangenheit der zukünftigen Gegenwart. Es stellt sich den Gesellschaften nicht nur die Frage nach den in die Zukunft vererbten Lasten, sondern auch nach den Institutionen und Praktiken, die vererbt werden sollten. Damit gilt: Nicht zu erben ist ebenso unmöglich wie nicht zu vererben. Das Erbe wird man so oder so nicht los.
Vgl. Julia Friedrichs, Wir Erben. Warum Deutschland ungerechter wird. München: Piper 2016.
Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Aus dem Französischen von Susanne Lüdemann. Frankfurt: Fischer 1995.
Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt: Suhrkamp 1988.
Vgl. dazu insgesamt auch Stefan Willer, Erbfälle. Theorie und Praxis kultureller Übertragung in der Moderne. Paderborn: Fink 2014; Stefan Willer /Sigrid Weigel /Bernhard Jussen (Hrsg.), Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur. Berlin: Suhrkamp 2013.
Talcott Parsons, The Social System [1951]. London: Routledge 1991.
Vgl. Jens Beckert, Unverdientes Vermögen. Soziologie des Erbrechts. Frankfurt: Campus 2004.
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2014.
Brief von Thomas Jefferson an James Madison von 6. September 1789. In: The Papers of Thomas Jefferson. Bd. 15. Princeton University Press.
Vgl. dazu auch Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München: Hanser 2013.
Eva Horn, Zukunft als Katastrophe. Frankfurt: Fischer 2014.
Vgl. Andreas Reckwitz, Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2024.
Zur Entstehung der modernen Familie vgl. Jack Goody, The European Family. An Historico-Anthropological Essay. Oxford: Blackwell 2000.
Vgl. Thomas Piketty, On the Long-Run Evolution of Inheritance: France 1820–2050. In: Quarterly Journal of Economics, Nr. 126/3, August 2011.
Jüngst kritisch zu diesem Thema auch Martyna Linartas, Unverdiente Ungleichheit. Wie der Weg aus der Erbengesellschaft gelingen kann. Hamburg: Rowohlt 2025.
Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten. Göttingen: Schwartz 1983.
Vgl. Eva Blome /Philipp Lammers /Sarah Seidel (Hrsg.), Autosoziobiographie. Poetik und Politik. Stuttgart: Metzler 2022.
Galit Atlas, Emotionales Erbe. Eine Therapeutin, ihre Fälle und die Überwindung familiärer Traumata. Aus dem Englischen von Monika Köpfer. Köln: DuMont 2023; Peter Teuschel, Der Ahnen-Faktor. Das emotionale Familienerbe als Auftrag und Chance. Stuttgart: Schattauer 2015; Mark Wolynn, Dieser Schmerz ist nicht meiner. Wie wir uns mit dem seelischen Erbe unserer Familie versöhnen. Aus dem Amerikanischen von Silvia Autenrieth. München: Kösel 2017.
Sabine Bode, Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. Stuttgart: Klett-Cotta 2009.
Vgl. Bernhard Kegel, Epigenetik. Wie Erfahrungen vererbt werden. Köln: DuMont 2009.
Vgl. etwa Maryam Munir, Cycle Breaker. From Trauma to Triumph. Learn to Heal Your Past and Parent with Joy. O. O.: Mandala Tree Press 2024.
Vgl. Sebastian Conrad, Erinnerungen im globalen Zeitalter. Warum die Vergangenheitsdebatte gerade explodiert. In: Merkur, Nr. 867, August 2021.
Chris Lorenz, Unstuck in Time. Or: the Sudden Presence of The Past. In: Karin Tilmans /Frank van Vree /Jay M. Winter (Hrsg.), Performing the Past. Memory, History, and Identity in Modern Europe. Amsterdam University Press 2010.
Vgl. Christophe Bonneuil /Jean-Baptiste Fressoz, The Shock of the Anthropocene. The Earth, History and Us. Übersetzt von David Fernbach. London: Verso 2016.
Vgl. Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp 2013.
Bundesministerium der Finanzen, Monatsbericht des BMF Juni 2025. Berlin 2025.
Vgl. dazu Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit.
Tony Bennett, The Birth of the Museum. History, Theory, Politics. London: Routledge 1995.
Vgl. nur Laurajane Smith, Uses of Heritage. London: Routledge 2006; Helmut K. Anheier /Yudhishthir Raj Isar (Hrsg.), Heritage, Memory and Identity. London: Sage 2011; Derek Gillman, The Idea of Cultural Heritage. Cambridge University Press 2010.
In diesem Sinn war der Erbediskurs auch Bestandteil der neokonservativen kulturellen Kompensationstheorie der Ritter-Schule, in deren Kontext Odo Marquard das Motto »Zukunft braucht Herkunft« prägte.
Vgl. Andreas Reckwitz, Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2017.
Vgl. etwa David Runciman, How Democracy Ends. New York: Basic Books 2018; Steven Levitsky /Daniel Ziblatt, How Democracies Die. New York: Crown 2018.
Bruno Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Aus dem Französischen von Gustav Roßler. Berlin: Suhrkamp 2014.
Arnaldo Bagnasco, Tre Italie. La problematica territoriale dello sviluppo italiano. Bologna: Il Mulino 1977.
The Foundational Economy Collective, The Infrastructure of Everyday Life. Manchester University Press 2018.
Tim Ingold, The Rise and Fall of Generation Now. Cambridge: Polity 2024.