Wandernde Worte
Feldnotiz und Reisetagebuch als Formen nichtsesshaften Denkens von Sina SteglichEthnografen, die sich durch Welt- und Kulturgegenden bewegen, die sie beobachtend zu verstehen suchen, arbeiten in aller Regel im Modus ständiger Improvisation. Da sie das Gesehene, Gehörte, Miterlebte erst viel später in eine verbindliche Textform bringen können, sind sie on the move gezwungen, es zunächst einmal möglichst synchron und unmittelbar festzuhalten und in vorläufige Memoranden zu überführen. Das wichtigste Medium dafür sind Feldnotizen, kurze, stichwortartige Notate, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt sind. Es handelt sich vielmehr um Zwischenprodukte oder vielleicht gar um Schwundstufen im Forschungsprozess, an die später, zurück am heimischen Schreibtisch oder in der Bibliothek, noch einmal sortierend und systematisierend, ergänzend und ausformulierend, kontextualisierend und erklärend Hand angelegt werden muss.
An der zentralen Bedeutung, die der Feldnotiz oder auch dem ihr verwandten, zwar längeren, aber ähnlich assoziativen Reisetagebuch in der ethnografischen Praxis zukommt, kann es keinen Zweifel geben. Umso erklärungsbedürftiger ist die disziplinäre Selbstwahrnehmung der Ethnologie, derzufolge es kaum Studien über Geschichte, Theorie oder methodische Implikationen dieser Textgattung gibt. Dabei ist der Ethnologie ein prinzipielles Interesse daran, die Basis ihres eigenen Erkenntnisprozesses zu ergründen, nicht abzusprechen.
Schon vor fast drei Jahrzehnten wurde in einem Sammelband ausdrücklich dazu aufgerufen, sich doch bitte endlich einmal genauer anzusehen, »how an observer /researcher sits down and turns a piece of her lived experience into a bit of written text in the first place«. Der Appell scheint weitgehend ungehört verhallt zu sein. In aktuellen ethnografischen Handbüchern wird die Feldnotiz noch immer als rein instrumentelles und der eigentlichen Forschung vorgelagertes Medium eingeführt, das der Datenerhebung diene und folglich nicht als eigenständiger Forschungsbeitrag zu erachten und als solcher auch nicht zu reflektieren sei.
Die wenigen Versuche, es dabei nicht zu belassen, werfen daher mehr Fragen auf, als sie beantworten. 1990 etwa initiierte Roger Sanjek – der über drei Jahrzehnte Anthropologie an der City University New York lehrte – einen Sammelband mit dem Titel Fieldnotes, der bis heute als Referenzwerk zu diesem Thema gilt. Der Historiker James Clifford hielt damals in seinem Beitrag fest: »Fieldnotes are surrounded by legend and often a certain secrecy. They are intimate records, fully meaningful – we are often told – only to their inscriber. Thus, it is difficult to say something systematic about fieldnotes, since one cannot even define them with much precision.«
Geheimnisumwoben sei sie also, die Feldnotiz, unhintergehbar individuell und damit notwendigerweise auch hermetisch für jede und jeden Zweiten neben dem oder der Verfasserin. Und dennoch: In dieser klandestinen Form irgendwie »meaningful«, obwohl oder gerade weil sich kaum etwas Systematisches über dieses Genre sagen ließe. In einer Rezension des Bands hieß es dann sogar: »Most ethnographers first set about writing their own notes without ever seeing the notes of others. Notes are frequently treated as a mark of the ethnographer’s professional identity, but the identity is, of structural necessity, created ex nihilo.« Ex nihilo, aus dem Nichts des Feldes heraus, ohne Forschungsinfrastruktur kreiere sich jemand durch das Notizenmachen zuallererst als Forschender. Schreiben im Feld wird hier als Modus der Selbstwerdung des Ethnografen gar als »mystisch« stilisiert.
Schon in den 1930er Jahren wurde das Notizbuch derart selbstverständlich als das wesentliche Attribut der ethnologischen Feldarbeit empfunden, dass der britische Ethnologe Edward Evans-Pritchard seine Kollegen ausdrücklich ermahnte, es im Einsatz möglichst wenig sichtbar werden zu lassen, um den notwendigen Kontakt zu den zu dechiffrierenden Kulturen nicht zu riskieren. Und früher noch bemerkte sein Lehrer Bronisław Malinowski, der Begründer der für die Ethnologie grundlegenden Methode der »teilnehmenden Beobachtung«: »Again, in this type of work, it is good for the Ethnographer sometimes to put aside camera, note book and pencil, and to join in himself in what is going on.« Aber auch wenn das Notizbuch von Zeit zu Zeit zur Seite gelegt werden sollte oder in bestimmten Situationen aus strategischen Gründen zu verbergen war, verweisen diese Verhaltenshinweise ihrerseits ex negativo ja vor allem auf die große Bedeutung, die dem Notizbuch und dem darin Aufgezeichneten beigemessen wurde und wird, und dabei sehr konkret darauf, dass es sich hierbei um ein notwendiges Konstituens von Ethnograf und Ethnografin handelte. Die Feldnotiz ist offenbar ein disziplinbildendes Medium, Ethnografie ohne sie kaum vorstellbar. Wo aber bleibt die Ethnografie der Feldnotiz?