Heft 911, April 2025

Warten, lernen

von Julika Griem

Zugänge

Die Überweisung: Als substantiviertes Verb gibt dieses Wort ein Versprechen. Man hofft, der Prozess habe sich bereits vollzogen. Als Objekt in Form eines DIN-A5-Formulars in blassrosa und weiß steht die Überweisung dagegen für ein störanfälliges Übergangsritual im deutschen Gesundheitssystem. Dies zeigt sich zu Beginn eines neuen Abrechnungsquartals. Um Behandlungen fortsetzen zu können, braucht es neue Überweisungen an die behandelnden Fachärztinnen und Fachkliniken. Manchmal erfordert der bürokratische Kreisverkehr auch den Besuch einer gar nicht behandelnden Praxis, weil nur ihre Überweisung den Prozess aufrechterhalten kann. Unterbrechungen und Stillstand drohen, wenn zu Personalmangel und Krankenstand noch ein Feiertag kommt. Patientinnen werden so auf einen von vielen Zufällen bestimmten Rundlauf geschickt. Manchmal öffnet nur freundliche Hartnäckigkeit die Türen: etwa an einem Brückentag, an dem in einer eigentlich geschlossenen Praxis eine Ärztin mit ihrer abgestürzten IT kämpft. Der Ausdruck der Überweisung klappt trotzdem. Auf zur nächsten Station – auf der sich allerdings herausstellen könnte, dass man statt der Überweisung eine Einweisung braucht.

Die Anmeldung gibt ein ähnliches Versprechen wie die Überweisung und die Einweisung: Ein Akt wurde vollzogen, nun kann es weitergehen. Auf einem Türschild oder einer Glasscheibe verheißt »die Anmeldung« allerdings zuallererst Warten. Dieses Warten braucht einen Raum, die Anmeldung eine Anordnung. Eine Trennung in Draußen und Drinnen durch eine geschlossene Tür, mit einer Sekretärin als Türhüterin des Geschäftsführers, des Professors; oder der Sachbearbeiterin des Melde- oder Arbeitsamtes auf langem Flur mit Stühlen in Reihe. Eine Uhr an der Wand? Vermutlich nur dort, wo man keine Verstimmung der Wartenden befürchten muss. Ich ziehe eine Nummer, nun kann ich mitzählen. Aber erst, wenn der Raum mit dem Monitor erreicht ist. Der Weg dorthin kann voller Windungen sein: Neben der ersten Tür mit dem Schild »Anmeldung« hängt ein Schild »Bitte die Seitentür benutzen«. Diese liegt nur im Idealfall neben der Haupttür.

Glasscheiben zeugen von Transparenzverpflichtungen: Wir laden Sie ein, wir sind für Sie da, Sie können uns buchstäblich auf die Finger schauen. Gläserne Schiebefenster, manchmal durch Mikrofonanlagen zusätzlich filternd. Was sieht man, während man auf die Anmeldung wartet? Menschen bei der Arbeit für den Kunden, für die Patientin, für Studierende. Mitarbeitende am Telefon und am Rechner; Informationen werden unter Zeitdruck ausgetauscht und weitergeleitet. Menschen im Gespräch, scherzend, frotzelnd, flirtend, einen Energieriegel essend. Und, irritierender: Mitarbeitende, die für meine Anmeldung zuständig sind, aber selbst warten. Auf Anweisungen, auf fehlende Unterlagen; darauf, dass im Hintergrundrauschen des Gesamtsystems unzählige und für die Anzumeldenden unsichtbare Prozesse synchronisiert werden.

Da diese Synchronisation ihre eigene Zeit braucht und verliert, vergeht mehr Zeit im Warteraum. Nicht alle Gespräche möchte ich mit anhören können, schon gar nicht die Monologe der zwanghaft Lauten. Und auch nicht die kleine Lehrstunde hinter der geöffneten Glasscheibe: Wie die Kundenkarte, aber auch die auf Papier gebannten Angaben auf dem guten alten Klemmbrett ins System eingeben? Zwischendurch auf Enter drücken, oder mit Doppelklick? Warum wird nicht ausgedruckt? Wo gilt es, den Beginn des neuen Quartals zu markieren? Wird das dann automatisch gespeichert?

Einerseits zeugt diese Ad-hoc-Fortbildung vor Publikum von Teamgeist und Solidarität. Andererseits wünsche ich mir, die Scheibe wäre ein Vorhang und der Ton ausgeschaltet. Wir spielen alle Theater, und gerade auf der Schwelle der Anmeldung braucht es Schauspielkunst. Aber mit treuherzig vorgeführter Inkompetenz entsteht ein Transparenz-Überschuss, der das Vertrauen der Wartenden nicht stärkt. Es braucht eine Kunst der Trennung von Vorder- und Hinterbühnen. Ohne geschärftes Rollenbewusstsein gerät die Administration der Anmeldung leicht aus ihrem fragilen Gleichgewicht. Und das auf beiden Seiten.

Immer wieder formt sich eine kleine Schlange vor dem Fenster ins Innere der Anmeldung. War diese Dame wirklich schon vor mir da? Zieht sich die Sache hin, wird es immer schwerer zu entscheiden, wann man noch einmal vor die Scheibe tritt und um Auskunft über die verbleibende Wartezeit bittet. Und in welchem Ton? Wer steht wann auf und geht wohin? Und kommt woher zurück, um weiter zu warten? Vielleicht auf weitere Anmeldungen nach der Anmeldung? Eher selten bilden sich einzelne Warte-Inseln verbindende Wartegemeinschaften. Ihre Möglichkeit klingt in jovialen Grußformeln an.

Je länger es dauert, desto stärker wird der Wunsch, auserwählt zu werden. Wer die am Schiebefenster erreicht, nutzt die Lage manchmal für ein Schwätzchen. Oder eine gutgemeinte Beratung der Personen, die eigentlich für seine Beratung zuständig sind. Auch hier braucht es Fingerspitzengefühl, um Zeit möglichst gerecht zu verteilen. Darüber entscheiden technische Anordnungen, die sich nicht immer sofort erschließen: Werden die Wartenden durch Kameras beobachtet, ist eine Face-to-face-Anmeldung nicht nötig.

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