Heft 916, September 2025

Warum Olivia, Taylor und Euphoria mega sind, und was das für die Literatur bedeutet

von Ernst-Wilhelm Händler

Wer denkt, dass es in der Musik alles schon gegeben hat, erlebt wiederkehrend Überraschungen. Eine solche ist die Live-Version von You’re So Vain (You probably think this song is about you), geschrieben 1972 von Carly Simon, jetzt gesungen von Olivia Rodrigo. Über Jahrzehnte war die Originalversion Bestandteil des Pop-Kanons. Die Originalversion war laid-back, cool und kritisch, die verfügbaren Cover-Versionen brachten keine neuen Erkenntnisse. Dann kam Olivia. Olivia ist nicht cool und nicht laid-back. Olivia ist upbeat und herausfordernd angezogen: ein Mini-Kleidchen, schwarze Strümpfe, sichtbare Strapse, auf der Bühne ständig in Bewegung, dabei immer lachend! Ist sie unkritisch? Aber nicht doch. Sie vollzieht die nächste Stufe der Entwicklung: Sie amüsiert sich über den männlichen Gegenstand des Songs! Sie hat das Problem des männlichen Narzissmus für sich und ihre Zuhörerinnen überwunden, das Überwinden und die Überwindung sind fun!

Taylor Swift und Peter Sloterdijk verfügen gleichfalls über emanzipative Skills. Sloterdijk interpretiert Nietzsche chirpy für die Gegenwart. Sloterdijk hat einen isolierten Gedanken und schreibt ein Buch darüber. Taylor hat einen isolierten Einfall und schreibt einen Song, der diesen Einfall illustriert. Die Methoden sind verwandt. Der feine Unterschied: Sloterdijk bildet die menschliche Existenz mit Auslassungen ab. Taylor erfasst die Teenager- und die Young-Adult-Existenz komplett. Kein Gefühl, das ein Teenager haben könnte, wird zurückgelassen. Ihre bis jetzt elf Studio-Alben behandeln den Gefühlshaushalt von Teens und Young Adults erschöpfend.

Taylor macht belastbare Sätze: »Call the amateurs and || Cut’em from the team || Ditch the clowns, get the crown«, The Alchemy, ein Song über Liebes-, Ent- und Selbsttäuschungen (The Tortured Poets Department, 2024) Aber auch konstruktiv-dichterische Sätze: »The deflation of our dreaming || Leaving me bereft and reeling« (How Did It End?, ebd.).

Im Gegensatz zu Sloterdijk erklären Taylor und Olivia ihre Hervorbringungen. In der Bildenden Kunst der Gegenwart gehört die Erklärung des Kunstwerks zum Werk, daran haben sich mittlerweile alle gewöhnt. Was wären die Arbeiten von Mike Kelley, insbesondere seine Auseinandersetzung mit dem Gedächtnis, ohne seine Erläuterungen. Für Taylor, aber auch für Olivia gilt dasselbe: Ihre Erklärungen, wann und warum sie jeweils diesen Song komponiert haben, was sie damit meinen und was sie nicht meinen, gehören zu ihrem Werk.

Taylors und Olivias Musik ist an der Grenze zu sugarcoated. Aber eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Kulturerzeugnissen, die sich an Junge richten, ist definitiv nicht sugarcoated. Die Serie Euphoria mit Zendaya, Sydney Sweeney, Jacob Elordi und dem nach Season zwei an einer Überdosis gestorbenen Angus Cloud über den Drogenkonsum von High School Kids ist nur schwer durchzuhalten. Das zentrale Problem des Drogenkonsums ist der Kontrollverlust. In gewisser Hinsicht werden der Zuschauer und die Zuschauerin in den dargestellten Kontrollverlust hineingezogen. Das soll nicht etwa heißen, dass die Serie zum Drogenkonsum anregt, das Gegenteil ist der Fall, so abstoßend werden die Folgen der Drogenabhängigkeit dargestellt. Man ist jedes Mal froh, wenn eine Folge zu Ende ist. Aber das Miterleben des Kontrollverlusts erschüttert die Armierungen des Ich, die man gerne für solider halten würde. Das Casting der Serie ist unfassbar gut.

Adolescence leuchtet lediglich den pubertierenden männlichen Totschlags-Täter und sein Umfeld aus, seine gequälte Seele und das Leid, das er über seine Familie gebracht hat. Das Leid des weiblichen Tatopfers, der ursprünglichen Mobbing-Täterin, und dasjenige ihrer Familie wird nicht einmal gestreift. Euphoria ist dagegen equilibrated, immer werden die Motivationen und Gefühlslagen von allen Beteiligten geschildert.

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