Weltmeister des Vergessens
Zum amerikanischen Exzeptionalismus von William Collins DonahueBis vor kurzem, bevor Donald Trump damit begann, die Websites von Bundesbehörden wie des Kriegsveteranenministeriums und des National Park Service von Verweisen auf Rassismus zu »säubern«, schienen die Mängel der amerikanischen Erinnerungskultur auf der Hand zu liegen. Trotz Bryan Stevensons beeindruckendem »Lynching Memorial« in Montgomery, Alabama, und dem noch relativ neuen Museum für afroamerikanische Geschichte und Kultur auf der Mall in Washington, D.C., hatten es die USA nicht geschafft, die Bereitschaft zur Aufarbeitung der eigenen Geschichte gesellschaftlich auf breiter Basis gesellschaftlich so wirkungsvoll zu institutionalisieren, wie Deutschland das gelungen ist. Dafür, dass das Land erinnerungspolitisch dennoch grundsätzlich auf dem richtigen Weg zu sein schien, sprachen nicht zuletzt die vielen Initiativen nach der Ermordung von George Floyd im Jahr 2020.
Mittlerweile frage ich mich, auch unter dem Eindruck des gewaltsamen israelischen Vorgehens im Gazastreifen, ob unser Blick auf die amerikanische Erinnerungskultur nicht neu justiert werden muss. Deren offenkundige Unfähigkeit im Umgang mit Rassismus ist schließlich nur die eine massive Fehlstelle. Es gibt jedoch noch eine weitere: Auch über die vielen Fälle, in denen amerikanische Soldaten für den Tod von Zivilisten und Nichtkombattanten verantwortlich sind, wird öffentlich so gut wie nie gesprochen.
Das jüngste Beispiel dafür lieferte der Militärschlag gegen die Huthi im Jemen, der aufgrund eines spektakulären Verstoßes gegen Geheimhaltungsvorschriften weltweit für Aufsehen gesorgt hat. Das Weiße Haus leugnete zunächst jegliches Fehlverhalten von Regierungsmitgliedern, woraufhin Jeffrey Goldberg, Chefredakteur der Zeitschrift The Atlantic, Protokolle eines Signal-Chats veröffentlichte, zu dem er versehentlich eingeladen worden war, die das Gegenteil bewiesen. Folgt man dem Bericht von Heather Cox Richardson, hatte der stellvertretende Stabschef im Weißen Haus, Stephen Miller, die Entscheidung zum Militärschlag offenbar »auf Basis seiner Interpretation der Absichten von Donald Trump getroffen. Die App [auf der die Pläne diskutiert wurden] war entgegen der Vorgaben des Presidential Records Act so eingestellt, dass Nachrichten automatisch gelöscht werden. Offenbar gab es weder eine Strategie noch eine diplomatische Leitlinie, nur eben den Willen, zuzuschlagen. Chat-Teilnehmer reagierten auf die Nachricht vom Einsturz eines Wohnhauses, in dem sich der Huthi-Führer angeblich befand, mit Emojis: Fäuste, Feuer, US-Flagge.«
An diesem Vorfall ist derart vieles empörend – der Leichtsinn, die kindischen Macho-Emojis, der möglicherweise verfassungswidrige Machtmissbrauch, der Verrat von Informanten, Quellen und Verbündeten –, dass der Militärschlag als solcher dabei leicht in den Hintergrund rückt: Wer außer der hochrangigen Zielperson befand sich eigentlich noch in dem Wohnhaus, das unsere »manly leaders« unbedingt angreifen wollten? Wie viele Zivilisten und Nichtkombattanten? Wie viele Frauen und Kinder?
Goldberg zufolge – der zunächst gar nicht glauben konnte, dass er über den Chat tatsächlich unbeabsichtigt zum Echtzeitzeugen eines Militäreinsatzes geworden war – »drehte sich die Diskussion nach dem Luftschlag um die Schäden und unter anderem auch um den wahrscheinlichen Tod einer ganz bestimmten Einzelperson. Das von den Huthi geführte jemenitische Gesundheitsministerium berichtete von mindestens dreiundfünfzig Toten. Die Zahl konnte bisher nicht unabhängig überprüft werden.« Im Chat gratulierte man sich, zu den Emojis gehörten diesmal der Bizeps, (auch hier wieder) die amerikanische Flagge und betende Hände.
Wir dürfen davon ausgehen, dass hier nicht der zivilen »Kollateralschäden« des Angriffs gedacht werden sollte. Der Chat dokumentiert allein die selbstbeweihräuchernde Freude darüber, dass das Ziel getroffen wurde. Doch selbst Jeffrey Goldberg und Heather Cox Richardson sind offenbar derart überwältigt von dem spektakulären Sicherheitsleck und seinen Folgen, dass sie keine Zeit finden, jene Anderen zu erwähnen, deren tatsächliche Anzahl nicht überprüft werden konnte. Wird sie das jemals werden? Interessiert uns die Zahl wirklich?
Als Richardson einige Wochen später auf das Thema zurückkommt, stellt sie ziemlich detailliert dar, welchen materiellen Schaden das Sicherheitsleck zur Folge hatte. Es führte zum Verlust »eines 60 Millionen Dollar teuren ›F /A-18 Super Hornet‹-Kampffliegers«. Sie erwähnt auch noch »einen [amerikanischen] Marineangehörigen, der leicht verletzt wurde«, mit keiner Silbe aber die Huthi-Zivilisten
Wir haben es hier mit einem typischen Beispiel für die Form bewusst gepflegter kultureller Amnesie zu tun, die schon bei der historischen Auseinandersetzung mit Amerikas letztem »gerechtem Krieg«, dem Zweiten Weltkrieg, zu beobachten war: Die Erinnerungskultur der USA ist gefangen in einem Denken in Kategorien des Heroischen, das militärische Exzesse und Übergriffe – in einigen Fällen mutmaßliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – reflexartig durch Verweis auf das »höhere Gut« rechtfertigt, um dessentwillen sie begangen wurden. Und damit hat es sich dann. Keine Trauer, keine Gewissensbisse, kein Bewusstsein dafür, was es bedeutet, wenn Menschen durch blanken Zufall in die Schusslinie geraten. Menschen wie Sie und ich.
Erinnerungskultur ist immer zugleich Vergessenskultur. Sofern, wie im Fall der Nationalsozialisten, gute Gründe dafür sprechen, dass der Gegner sich des Völkermords schuldig gemacht hat, fällt es leichter, wahlloses Töten hier und da zu rechtfertigen – und es dann zu vergessen. Nur prägen diese Verdrängungsmuster eben auch den heutigen Umgang von uns Amerikanern mit Krieg und Völkermord. Wenn wir die Erinnerung an unsere eigenen Gewalttaten verdrängen, haben wir mit höherer Wahrscheinlichkeit auch Verständnis für die der anderen oder sind zumindest eher gewillt, nicht so genau hinzuschauen.