Wer definiert, was Antisemitismus ist?
von Stefan HirschauerDie am 7. November 2024 beschlossene Bundestagsresolution gegen Antisemitismus bemüht sich anlässlich der während des Gaza-Krieges gestiegenen antisemitischen Straftaten um den Schutz jüdischen Lebens in Deutschland und fordert dafür, unter anderem das Strafrecht, Aufenthalts-, Asyl- und Staatsangehörigkeitsrecht zu verschärfen. Der Text legt seinen Fokus auf Antisemitismus unter Immigranten und konstatiert ein »erschreckendes Ausmaß« von Judenhass, »der auf Zuwanderung aus den Ländern Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens basiert«. Die Resolution stützt sich auf die weit gefasste Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) – sie sei »maßgeblich« – und subsumiert rechtsextremistische, islamistische, israelbezogene und antiimperialistische Äußerungen als Varianten von Antisemitismus. »Maßgeblich« sei auch der Beschluss der Bundesregierung von 2017, der die IHRA-Definition bekräftigt, und die BDS-Resolution des Bundestages von 2019, die sich auch schon zu dieser Definition bekannte. Nun wird die Bundesregierung aufgefordert, sich auch gegenüber den Ländern und Kommunen dafür einzusetzen, die IHRA-Antisemitismusdefinition heranzuziehen, wenn es um die Vergabe öffentlicher Gelder geht.
Die Resolution hat schon im Vorfeld heftige Kritik evoziert. In einem Offenen Brief kritisierten über sechshundert Unterzeichner aus Politik, Kultur und Gesellschaft, darunter zahlreiche israelische und jüdische Autoren und Künstlerinnen, die Resolution werde, anstatt Antisemitismus wirksam zu bekämpfen, die Kritik an israelischer Politik einschränken. Sie verenge den Meinungskorridor und schließe genau die Vielfalt jüdischen Lebens aus, die sie zu bewahren vorgebe. Eine zweite Kritiklinie richtete sich darauf, dass die Resolution eine bestimmte Definition von Antisemitismus rechtsverbindlich machen will, indem sie in die Verwaltungspraxis von Ländern und Kommunen eingehen soll. Einige Rechts- und Sozialwissenschaftler stellten im Oktober fest: »Was genau unter Antisemitismus zu verstehen ist und in welchen Situationen er vorliegt, bleibt Gegenstand fortwährender wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Reflexion; der Staat kann das nicht autoritativ festlegen. Ob Antisemitismus vorliegt, kann nur fallspezifisch beurteilt werden.«
Die Resolution enthält aber auch diesen Satz: »Die Meinungsfreiheit und die Freiheit von Kunst und Wissenschaft sind hohe Güter und werden durch unser Grundgesetz garantiert und geschützt.« Die Fragen dieses Essays sind: Wie passt diese lakonische Feststellung zu einer Resolution, die eine wissenschaftlich unbrauchbar gewordene Definition von Antisemitismus für staatliche Stellen rechtlich verbindlich machen will? Und welches Problem löste die Resolution für die deutsche Politik?
Zwei Definitionen
In der Wissenschaft koexistieren aktuell zwei Definitionen: die der IHRA von 2016 und die der Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) von 2021. Beide haben große inhaltliche Übereinstimmungen und sind auch für latenten Antisemitismus sensibel, der sich als Israel-Kritik bloß tarnt. Beide halten umgekehrt fest, dass Israel wie andere Staaten auch kritisiert werden kann. Beide werden von Hunderten von Wissenschaftlern, darunter viele Historikerinnen aus der Holocaust-Forschung, unterstützt. Die Definition der IHRA wurde vor neun Jahren nur als »Arbeitsdefinition« eingesetzt, hat aber anstelle von Überarbeitungen in vielen Ländern schnell quasiamtlichen Status erlangt. Die Bundesregierung empfahl sie 2017 in der Schul- und Erwachsenenbildung, in Justiz, Verwaltung und Polizei, die Hochschulrektorenkonferenz übernahm sie vor fünf Jahren.
Die IHRA-Definition lautet: »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann« (»a certain perception of Jews, which may be expressed as hatred toward Jews«). Sie spezifiziert nicht, was für eine Wahrnehmung das ist oder welchen Ausdruck außer Hass sie denn noch finden kann; streng genommen schließt eine »bestimmte Wahrnehmung von Juden« nicht einmal einen enttäuschten Philosemitismus aus, der in Hass kippte. Es scheint fast schon ein bisschen zu viel der Ehre, eine so wachsweiche Formulierung, die ihren Gegenstand nicht einmal verlässlich von seinem Gegenteil abgrenzt, als Definition zu bezeichnen. Sie erscheint eher als ein abstraktes Symbol: ein Mahnmal. Diese extreme Unbestimmtheit ist (wie bei vielen Begriffen) verständlich, wenn man in Rechnung stellt, dass bei einer Organisation für die Erinnerung an den Holocaust der implizierte Kontext schon für die nötige Klarheit sorgen sollte.
Im Fall des Holocaust gab es eine glasklare Verteilung von Opferstatus und Täterschaft, und das Anliegen der IHRA war es, angesichts der Geschichte des europäischen Antisemitismus vor allem Wachsamkeit zu installieren. Das ist gut, hat aber zwei Schwächen: Zum einen verschafft so ein Begriff dem Diskriminierungserleben von Juden viel Nahrung. Er verstärkt die Zurechnung aller möglicher Erfahrungen von Kritik, Ablehnung, Spott oder Gehässigkeit aufs eigene Judentum – komplementär zur stigmatisierenden Reduktion von Menschen auf ihr Jüdischsein. Zum anderen ist eine dichotome Unterscheidung von Tätern und Opfern der Komplexität und den Ambivalenzen des Nahost-Konflikts in keiner Weise gewachsen.