Wer definiert, was Antisemitismus ist?
von Stefan HirschauerDie am 7. November 2024 beschlossene Bundestagsresolution gegen Antisemitismus bemüht sich anlässlich der während des Gaza-Krieges gestiegenen antisemitischen Straftaten um den Schutz jüdischen Lebens in Deutschland und fordert dafür, unter anderem das Strafrecht, Aufenthalts-, Asyl- und Staatsangehörigkeitsrecht zu verschärfen. Der Text legt seinen Fokus auf Antisemitismus unter Immigranten und konstatiert ein »erschreckendes Ausmaß« von Judenhass, »der auf Zuwanderung aus den Ländern Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens basiert«. Die Resolution stützt sich auf die weit gefasste Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) – sie sei »maßgeblich« – und subsumiert rechtsextremistische, islamistische, israelbezogene und antiimperialistische Äußerungen als Varianten von Antisemitismus. »Maßgeblich« sei auch der Beschluss der Bundesregierung von 2017, der die IHRA-Definition bekräftigt, und die BDS-Resolution des Bundestages von 2019, die sich auch schon zu dieser Definition bekannte. Nun wird die Bundesregierung aufgefordert, sich auch gegenüber den Ländern und Kommunen dafür einzusetzen, die IHRA-Antisemitismusdefinition heranzuziehen, wenn es um die Vergabe öffentlicher Gelder geht.1
Die Resolution hat schon im Vorfeld heftige Kritik evoziert. In einem Offenen Brief kritisierten über sechshundert Unterzeichner aus Politik, Kultur und Gesellschaft, darunter zahlreiche israelische und jüdische Autoren und Künstlerinnen, die Resolution werde, anstatt Antisemitismus wirksam zu bekämpfen, die Kritik an israelischer Politik einschränken. Sie verenge den Meinungskorridor und schließe genau die Vielfalt jüdischen Lebens aus, die sie zu bewahren vorgebe.2 Eine zweite Kritiklinie richtete sich darauf, dass die Resolution eine bestimmte Definition von Antisemitismus rechtsverbindlich machen will, indem sie in die Verwaltungspraxis von Ländern und Kommunen eingehen soll. Einige Rechts- und Sozialwissenschaftler stellten im Oktober fest: »Was genau unter Antisemitismus zu verstehen ist und in welchen Situationen er vorliegt, bleibt Gegenstand fortwährender wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Reflexion; der Staat kann das nicht autoritativ festlegen. Ob Antisemitismus vorliegt, kann nur fallspezifisch beurteilt werden.«3
Die Resolution enthält aber auch diesen Satz: »Die Meinungsfreiheit und die Freiheit von Kunst und Wissenschaft sind hohe Güter und werden durch unser Grundgesetz garantiert und geschützt.« Die Fragen dieses Essays sind: Wie passt diese lakonische Feststellung zu einer Resolution, die eine wissenschaftlich unbrauchbar gewordene Definition von Antisemitismus für staatliche Stellen rechtlich verbindlich machen will? Und welches Problem löste die Resolution für die deutsche Politik?
Zwei Definitionen
In der Wissenschaft koexistieren aktuell zwei Definitionen: die der IHRA von 2016 und die der Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) von 2021. Beide haben große inhaltliche Übereinstimmungen und sind auch für latenten Antisemitismus sensibel, der sich als Israel-Kritik bloß tarnt. Beide halten umgekehrt fest, dass Israel wie andere Staaten auch kritisiert werden kann. Beide werden von Hunderten von Wissenschaftlern, darunter viele Historikerinnen aus der Holocaust-Forschung, unterstützt. Die Definition der IHRA wurde vor neun Jahren nur als »Arbeitsdefinition« eingesetzt, hat aber anstelle von Überarbeitungen in vielen Ländern schnell quasiamtlichen Status erlangt. Die Bundesregierung empfahl sie 2017 in der Schul- und Erwachsenenbildung, in Justiz, Verwaltung und Polizei, die Hochschulrektorenkonferenz übernahm sie vor fünf Jahren.
Die IHRA-Definition lautet: »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann« (»a certain perception of Jews, which may be expressed as hatred toward Jews«).4 Sie spezifiziert nicht, was für eine Wahrnehmung das ist oder welchen Ausdruck außer Hass sie denn noch finden kann; streng genommen schließt eine »bestimmte Wahrnehmung von Juden« nicht einmal einen enttäuschten Philosemitismus aus, der in Hass kippte. Es scheint fast schon ein bisschen zu viel der Ehre, eine so wachsweiche Formulierung, die ihren Gegenstand nicht einmal verlässlich von seinem Gegenteil abgrenzt, als Definition zu bezeichnen.5 Sie erscheint eher als ein abstraktes Symbol: ein Mahnmal. Diese extreme Unbestimmtheit ist (wie bei vielen Begriffen) verständlich, wenn man in Rechnung stellt, dass bei einer Organisation für die Erinnerung an den Holocaust der implizierte Kontext schon für die nötige Klarheit sorgen sollte.
Im Fall des Holocaust gab es eine glasklare Verteilung von Opferstatus und Täterschaft, und das Anliegen der IHRA war es, angesichts der Geschichte des europäischen Antisemitismus vor allem Wachsamkeit zu installieren. Das ist gut, hat aber zwei Schwächen: Zum einen verschafft so ein Begriff dem Diskriminierungserleben von Juden viel Nahrung. Er verstärkt die Zurechnung aller möglicher Erfahrungen von Kritik, Ablehnung, Spott oder Gehässigkeit aufs eigene Judentum – komplementär zur stigmatisierenden Reduktion von Menschen auf ihr Jüdischsein. Zum anderen ist eine dichotome Unterscheidung von Tätern und Opfern der Komplexität und den Ambivalenzen des Nahost-Konflikts in keiner Weise gewachsen.
Über dreihundert (überwiegend jüdische) Historikerinnen, Nahost-Wissenschaftler, Judaistinnen, Antisemitismusforscher und Juristen haben vor drei Jahren mit der Jerusalem Declaration (JDA) eine Definition vorgeschlagen, die in zweierlei Hinsicht präziser ist. Erstens sorgt ihr Kernsatz für die fehlende Spezifikation der diffusen »Wahrnehmung«: »Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Juden als Juden.«6 Auch die Präzisierung »Juden als Juden« ist angemessen, weil es natürlich auch Vorurteile gegen jüdische Schwule, Gewalt gegen jüdische Ehefrauen oder Feindseligkeiten gegen rücksichtslose jüdische Autofahrer oder gewalttätige jüdische Siedler gibt. Sie sind genauso wenig antisemitisch wie die Attentate auf Hitler, Trump oder Rushdie männerfeindlich waren. Es ist keineswegs trivial, dies festzustellen. Es handelt sich um einen häufigen sozialen Kategorienfehler, der gerade bei der Bezeichnung von Opfern und Tätern (etwa in der Kriminalitätsberichterstattung) leicht unterläuft: der Rekurs auf Bezeichnungen, die für die fragliche Sache zweitrangig oder ganz irrelevant sind.7
Zweitens fügt die Definition der JDA der angemessenen Wachsamkeit auch einige Abgrenzungen von Nachbarphänomenen des Antisemitismus hinzu, die nur eine oberflächliche Ähnlichkeit oder eine innere Verwandtschaft oder eine ganz andere Verfasstheit als dieser haben. Sie versuchen, antizionistische Haltungen im Territorialkonflikt des Nahen Ostens danach zu unterscheiden, ob sie auch antisemitisch sind oder nicht. In der Präambel der JDA heißt es, sie verfolge ein doppeltes Ziel: zum einen den Kampf gegen Antisemitismus mit einer tragfähigen Definition zu stärken, zum anderen, die Debatte über die Zukunft Israels und Palästinas offen zu halten: »Wir sind nicht alle der gleichen politischen Meinung und wir verfolgen keine politische Parteinahme.« Nach der Feststellung, dass zum Antisemitismus – wie zum Rassismus – Essentialisierungen gehören, werden zunächst einige Spezifika des Antisemitismus aufgelistet. Es folgen Beispiele für antisemitische Äußerungen (ganz ähnlich denen der IHRA), dann Beispiele, die nicht per se antisemitisch seien.
Die Autorinnen und Autoren muten sich hier mehr Komplexität zu als die IHRA und bemühen sich geradezu inständig um das rare Gut wissenschaftlicher Neutralität in hochkonfliktiven Lagen: »Die Feststellung, dass eine kontroverse Ansicht oder Handlung nicht antisemitisch ist, bedeutet weder, dass wir sie befürworten, noch dass wir sie ablehnen.« So könne etwa Feindseligkeit gegenüber Israel Ausdruck eines antisemitischen Ressentiments sein oder eine Reaktion auf eine Menschenrechtsverletzung seitens der staatlichen Institutionen Israels. Nicht per se antisemitisch seien auch die »Kritik des Zionismus als eine Form von Nationalismus« oder das Eintreten für diverse Formen der Koexistenz von Juden und Palästinensern, »ob in zwei Staaten, einem binationalen Staat, einem einheitlichen demokratischen Staat oder einem föderalen Staat«. Das Gleiche gelte für »faktenbasierte Kritik am Verhalten Israels im Westjordanland und im Gazastreifen« oder für »den umstrittenen Vergleich Israels mit Fällen von Siedlerkolonialismus oder Apartheid«. Auch müssten politische Äußerungen in einem Konflikt um nationale Selbstbestimmung »nicht maßvoll, verhältnismäßig, gemäßigt oder vernünftig sein«, um nicht antisemitisch und durch die Meinungsfreiheit geschützt zu sein.
Sogwirkung des Konflikts
Dass solche Sätze überhaupt gesagt werden mussten, sich also nicht von selbst verstehen, gibt einen Einblick in die gewaltige Sogwirkung, die ein kriegerischer Konflikt auch auf das Denken und Sprechen, auf die latenten Befangenheiten und die Verdächtigungen gegen solche Definitionsarbeit ausübt. Nüchtern betrachtet haben aber beide Definitionen ihre Schwächen. Unter den Beispielen für Antisemitismus nennt etwa die IHRA: »die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird«. Unmittelbar davor befindet sich die Formulierung: »das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung«, was insofern selbst einen Fall von doppelten Standards darstellt, als von einem solchen Recht des palästinensischen Volks gar nicht erst die Rede ist – es hat vermutlich im Kontext des Holocaust-Erinnerns einfach niemanden interessiert. Antisemitisch sei auch, so die IHRA, Juden für Handlungen des Staates Israel kollektiv verantwortlich zu machen; analog heißt es in der JDA »Menschen, weil sie jüdisch sind, aufzufordern, Israel oder den Zionismus öffentlich zu verurteilen«.
Eine solche unangenehme Sippenhaft ist etwas, das auch vielen Muslimen weltweit nach einem islamistischen Anschlag oder US-Amerikanerinnen im Ausland nach einem Militärschlag der USA widerfährt. Solche Aufforderungen sind aber nicht antisemitisch, antimuslimisch oder antiamerikanisch, es sind Stigmatisierungen, wie sie allerorten und jederzeit Angehörige aller sozialen Kategorien treffen können. Ferner heißt es in der JDA, es sei »rassistisch, […] pauschale negative Verallgemeinerungen über eine bestimmte Bevölkerung zu machen«. Verallgemeinerungen über die Briten oder die Frauen sind aber natürlich nicht rassistisch, es handelt sich einfach nur um Stereotype. In beiden Definitionen wirkt ein Tunnelblick auf den Nahost-Konflikt, seine historische Genese und seine aktuelle Gestalt, der mangels Vergleichsperspektiven unscharf wird. Hier wäre also noch eine Menge Begriffsarbeit vonnöten.8
In diesem Sinn hat sich Aleida Assmann schon kurz nach dem Terrorangriff der Hamas um Differenzierung bemüht.9 Ihr Anliegen: Die Holocaust-Erinnerung reicht zum Verständnis der Konflikte im Nahen Osten nicht aus. Sie stellt fest, dass der neue Judenhass historisch nichts mit dem christlich-europäischen Antisemitismus zu tun hat. Er ist eine politische Reaktion auf die Gründung des Staates Israel seitens der Nachbarn. »Shoah« ist das hebräische, »Nakba« das arabische Wort für Katastrophe. Das eine Wort meine die traumatische Auslöschung jüdischen Lebens und markiere 1945 als Ende der jüdischen Leidensgeschichte, das andere den traumatischen Verlust der Existenzgrundlage für palästinensisches Leben in der Region und markiere 1948 als Anfang einer palästinensischen Leidensgeschichte. Solange ein diffuser Antisemitismus-Begriff als Drohung im Raum stehe, sei es unmöglich, auch der Leidensgeschichte der Palästinenser Gehör zu geben. »Eine klarere Differenzierung der Antisemitismusbegriffe ist wichtig, weil sie der verbreiteten Instrumentalisierung des Begriffs für politische Zwecke entgegenwirken kann.« Auch gibt Assmann der deutschen Nahost-Politik die nötigen Leitplanken: »Die Kritik an der Politik Netanjahus darf nicht mit einer Aberkennung des Existenzrechts des Staates Israel einhergehen […] Die Loyalität mit dem Staat Israel darf nicht so weit gehen, dass die Deutschen aufgrund ihrer Schuldgeschichte blind werden für die Kosten einer gewalttätigen Expansionspolitik.«
Differenzierungen wie die Assmanns sind dringend erforderlich. Das gilt zum einen begrifflich. Der Antisemitismus der Europäer hat sich über viele Jahrhunderte aus dem christlichen Antijudaismus über den Mythos einer jüdischen Weltverschwörung bis zur Shoah entwickelt. Der Antizionismus der Palästinenser und ihrer arabischen Nachbarn ist dagegen nicht primär religiös, sondern nationalistisch gerahmt. Er richtet sich gegen eine widerrechtliche Besatzungspolitik. Diese Differenzierung wird aber nicht nur durch eine Verwechslung von historischen Kontexten erschwert, sondern auch dadurch, dass sich der Staat Israel mit dem Nationalstaatsgesetz von 2018 so eng mit dem Judentum assoziierte, dass er seine arabischen Mitbürger faktisch zu Bürgern zweiter Klasse machte. Die israelische Regierung sorgte ferner auch mit ihrem Eintreten für die IHRA-Definition für diese Verquickung, um ihre Besatzungspolitik hinter einem moralischen Schutzschild aus Anti-Antisemitismus der Kritik anderer Staaten zu entziehen. Die israelische Soziologin Eva Illouz sieht hierin eine geschickte Instrumentalisierung des Kampfs gegen Antisemitismus für die Politik ihres Landes der letzten Jahre.10 Und für Kenneth Stern, den Hauptautor der IHRA-Definition, war es der Grund, sich von ihrem Gebrauch als »Waffe gegen die freie Rede« zu distanzieren.11
Zum anderen verweist Assmanns Einwurf auf die affektiven Schieflagen in kriegerischen Konstellationen. Es gehört zu den typischen Zumutungen von Kriegsparteien an ihr Publikum, die Empathie für die jeweils andere Seite zu unterdrücken und auf eine asymmetrische Weise über menschliches Leiden zu sprechen.12 Mit der Entwicklung des Nahost-Konflikts im letzten Jahr ließ sich beobachten, welchen gewaltigen Loyalitätssog die Spaltung der Parteien erzeugte: nicht nur in den betroffenen Bevölkerungen, sondern auch in den begleitenden politischen Diskursen des globalen Publikums. Man kann an fast allen politischen Bekundungen eine asymmetrische Empathie feststellen: einerseits eine Dramatisierung der je »eigenen« Opfer, andererseits ein Verschweigen, Bemänteln oder nur pflichtschuldiges Erwähnen der Opfer der anderen Seite. Die einen sind Opfer eines potentiellen »Genozids«, die anderen hinzunehmende »Kollateralschäden«.
Asymmetrische Empathie
Besonders reich an Beispielen für empathisch asymmetrische Vokabulare ist der Diskurs in Deutschland. Man spricht vom Existenzrecht Israels (und dies bleibt auch bestätigungsbedürftig), aber nicht von einem Existenzrecht Palästinas – nur von einer Zweistaaten-»Lösung«, die das Problem dezent verschweigt: dass der Staat Israel rechtswidrig und gewalttätig palästinensisches Land besetzt hält und weiteres für sich beansprucht. Man spricht vom Selbstverteidigungsrecht Israels, aber sprach noch gar nicht von einem Widerstandsrecht der Palästinenser gegen Siedlergewalt, Entrechtung und Landnahme. Man ist über die Zustände im Westjordanland betroffen, schweigt betreten oder mahnt in gesetzten Worten Mäßigung an, während der Chef des israelischen Inlandsgeheimdiensts das Verhalten der Siedler unumwunden »jüdischen Terrorismus« nennt.13 Man verbietet den palästinensischen Slogan »From the River to the Sea« (was die Zahl der registrierten antisemitischen Straftaten stark ansteigen ließ), aber nimmt die fast gleich lautende Formulierung bei den komplementären jüdischen Radikalen still hin: Sie steht seit 1977 im Gründungsprogramm der Likud-Partei, in der diese ebenfalls den Anspruch auf ein Großisrael vom Mittelmeer bis zum Jordan erhebt. Man spricht von Israel als »weltgeschichtlicher Heimstätte des jüdischen Volkes« (so die aktuelle Resolution des Bundestags in religiöser Diktion), aber meint doch einen Nationalstaat, der sich seit Jahrzehnten gegen alle Beschlüsse der Vereinten Nationen über das Selbstbestimmungsrecht seiner Nachbarn hinwegsetzt.
Hinzu kommt nun ein weiteres Dilemma, das die so begriffssicher auftretende Resolution des Bundestages nicht lösen kann, sondern vertiefen dürfte. Die Politik im Land des welthistorisch größten Verbrechens gegen Juden und Jüdinnen ist auf besondere Weise dem Loyalitätssog der Parteien des Nahost-Kriegs ausgesetzt. Sie ist in dessen Verlauf in ein strategisches Dilemma geraten zwischen Angela Merkels Formel, die Sicherheit Israels sei deutsche Staatsräson, und der Verpflichtung auf Menschen- und Völkerrecht. In Israel regiert nun aber eine rechtsnationalistische, von ultraorthodoxen Siedlern mitbestimmte Regierung, die eine Vertreibungs- und Annexionspolitik verfolgt und deren Ministerpräsident sich mithilfe eines Krieges an der Macht hält. Diese Regierung hat auf das terroristische Massaker der Hamas, auf Vergewaltigungen und Gräueltaten an Hunderten mit der Tötung Tausender, der Vertreibung und dem Aushungern einer ganzen Population reagiert. Der terroristische Blutrausch artikulierte wie ein Mord im Großformat blanken Hass, die kontrollierte Kriegsführung Israels tritt dagegen wie eine kollektive Todesstrafe auf, die weit Unterlegenen die ihnen gebührende Verachtung demonstriert. Da der Regierungswechsel in den USA diese Politik weiter enthemmen dürfte, zeichnet sich ein seit Beginn des Terrorangriffs der Hamas absehbares Risiko immer klarer ab: dass die Regierung Netanjahu zwar die Existenz des Staates Israels mit seiner militärischen Defensiv- wie Offensivüberlegenheit klar behaupten kann, die Anerkennung seines Existenzrechts, seine internationale Legitimität, aber nachhaltig beschädigt haben wird.
Die deutsche Politik befindet sich in diesem asymmetrischen Konflikt aufseiten des Stärkeren. Sie hatte immer schon Probleme, einen unverstellten Blick auf die Realität des Staates zu gewinnen, an dessen Seite sie sich stellte.14 Jetzt gelingt es ihr nicht, sich von ihrem nach dem Hamas-Massaker gegebenen Solidaritätsversprechen zu lösen, mit dem sie der Regierung Israels freie Hand gegeben hat, Zehntausende von Menschen zu töten oder verhungern zu lassen. Sie schafft es nicht, dem Recht auf Selbstverteidigung klare menschenrechtliche Grenzen zu setzen. In eben dieser Schieflage erhebt sich an den Universitäten und im Kunstbetrieb in Deutschland (wie in den USA) ein empörter Gegendiskurs zur Regierungspolitik.
Das wachsende Dilemma zwischen der »Staatsräson« und der Verpflichtung auf Menschenrechte wurde schon im letzten Jahr vielfach moniert: So fragte im April ein Offener Brief von deutschen Geisteswissenschaftlerinnen: »Welchen Preis ist Deutschland bereit, den internationalen Institutionen aufzuerlegen, die es in der Vergangenheit so sehr unterstützt hat, um Israel vor Kritik zu schützen?«15 Die an der Universität Köln gecancelte jüdische Philosophin Nancy Fraser meinte: »Deutschland hat angesichts des Holocausts zweifellos eine besondere Verantwortung gegenüber den Juden […] Nur heißt das in meinen Augen nicht, dieser israelischen Regierung einen Freibrief zu erteilen. Was in Gaza passiert, dürfte nicht geschehen – und schon gar nicht in meinem Namen. Ich lehne die Gleichsetzung von Israel und Judentum entschieden ab. Das Judentum hat eine reiche säkulare und vor allem universalistische Tradition. Es schmerzt mich, wenn es auf die aktuelle hyper-ethnonationalistische Politik Israels reduziert wird.«16 Im Oktober 2023 sagte der jordanische Außenminister auf einer Pressekonferenz zu Außenministerin Baerbock: »Die Unterstützung dieser israelischen Regierung ist keine Unterstützung Israels. Israel zu unterstützen, bedeutet, sich dem entgegenzustellen, was Israel in Bezug auf die Verletzung des humanitären Völkerrechts tut, indem es die Eskalation gegen unschuldige Menschen vorantreibt. Die Palästinenser sind die größten Opfer dieser Aggression. Aber auch die Glaubwürdigkeit des Internationalen Rechts ist ein Opfer. Und das Ansehen von Ländern wie Deutschland in der Region ist ebenfalls ein Opfer.«17
Externalisierung politischer Widersprüche
Im November 2024 schließlich hat der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag Haftbefehle wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen einen Hamas-Führer, Israels Regierungschef Netanjahu und den (wegen zu großer Kompromissbereitschaft entlassenen) Verteidigungsminister Joaw Galant erlassen. Zur Zeit der Entstehung dieses Essays ist noch ganz offen, wie die Bundesregierung (und welche?) in ihrem Dilemma mit diesem Haftbefehl umzugehen gedenkt. Alle westlichen Länder, besonders aber Deutschland und die USA, stehen unter dem Vorwurf einer Doppelmoral, mit der sie ihre universalistischen Werte verraten. Wie wollen sie etwa noch auf Basis des Völkerrechts internationale Solidarität mit der Ukraine einfordern, wenn sie für Israel solche Ausnahmen vom Völkerrecht zulassen?
In eben diesem Dilemma vollzieht nun die Resolution des Bundestages eine zweifache Externalisierung der politischen Widersprüche. Erstens enthält sie mit ihrer Betonung des importierten Antisemitismus von Migranten das Motiv moralischer Entlastung, das selbst in der anspruchsvollen Erinnerungskultur unseres Landes immer mal wieder aufscheint. Deutschland hat einen gewissen Bedarf an ausländischen Antisemiten. Er taucht in der Resolution mit der impliziten Unterstellung auf, dass Antisemitismus vor allem ein migrantisches Problem sei. Dieser Bedarf wird aktuell aber nicht mehr nur durch Palästinenser und Araber, sondern gerade auch durch jüdische Intellektuelle (etwa Candice Breitz, Masha Gessen oder Nancy Fraser) gedeckt, die Israel auf scharfe Weise kritisieren. Ihnen wird dann (etwa auf der Berlinale) durch deutsche Politiker erklärt, was Antisemitismus ist. It remains »made in Germany«!
Zweitens hat die Politik Antisemiten eben vor allem in den Künsten und Wissenschaften entdeckt, wobei Vorträge, Gastprofessuren oder Preisverleihungen offenbar nicht etwa gecancelt werden, weil die Verantwortlichen fürchten, in ihrem Haus käme sonst Antisemitismus zu Wort, sondern weil sie Angst haben, dieser könne ihnen selbst vorgeworfen werden. Mit Kunst und Wissenschaft externalisiert die Politik ihre Widersprüche also auch auf die Eliten anderer Teilsysteme der Gesellschaft. Eine liberale Demokratie unterscheidet aber im Normalfall zwischen Staat und Gesellschaft. Mit der Resolution mischt sich das Parlament in moralische Grenzziehungen ein, die sonst eben von Künsten, Wissenschaft und Medien betrieben werden. Damit unterbindet die Resolution nicht einfach Kritik an Israel. Sie tut etwas Subtileres: Sie versucht, die Loyalitäten und diplomatischen Zwänge der politischen Kommunikation auf die Zivilgesellschaft auszuweiten. Sie verändert die informellen Regeln des gesellschaftlichen Diskurses. Sie gibt ihm den Tonfall vor, definiert Affektnormen und legt eine klare Parteilichkeit in einem Konflikt nahe, dem gegenüber jede simple Parteinahme eigentlich nur die Wahl hat, entweder dumm oder inhuman zu sein.
Gerade die Wissenschaft gerät dadurch in eine peinliche Lage. Eine Resolution, die sich auf eine wissenschaftlich unbrauchbar gewordene Definition stützt, deren Validität kontrovers zu diskutieren wäre, schreibt der Forschung nicht einfach eine bestimmte Definition eines Gegenstands vor, aber sie setzt ihre kritische Erörterung und begriffliche Differenzierungen genau dem pauschalen Antisemitismusverdacht aus, den sie selbst flächendeckend zu institutionalisieren versucht. Wie soll der überholte und fachlich unbrauchbare Begriff des Antisemitismus der IHRA nach wissenschaftlichen Maßgaben auf seine Triftigkeit und Gültigkeit geprüft werden, wenn die Politik sich in moralischem Eifer um seine landesweite Geltung bemüht?
Was die politische Öffentlichkeit der Zivilgesellschaft betrifft, wird mit dem so undifferenziert vorwerfbaren Antisemitismus laut Definition der IHRA ein klares Sprechen über die so illegitime wie rechtswidrige Gewalttätigkeit von Juden in Palästina blockiert. Der Grund liegt auf der Hand: Unser Land ist auf die Frage fixiert, wie es in Sachen Israel moralisch vor sich selbst und den Nachkommen seiner Opfer dasteht. Wir sind daher angesichts der irreversiblen Verbrechen gegenüber jüdischen Menschen einerseits angemessen aufmerksam für Antisemitismus, andererseits geradezu unfähig zu einem der aktuellen Politik Israels auch nur halbwegs angemessenen Zorn – wie er auf Pro-Palästina-Demonstrationen artikuliert wird.
Deswegen hat der Bundestag in großer Einigkeit eine politische Moral installiert, die diesen Zorn tabuisiert. Die Resolution gibt den Begriff Antisemitismus als eine undifferenzierte Diffamierungsvokabel gegen Personen frei, die sich in einer unerwünschten verbalen Schärfe oder unerwünschten affektiven Lautstärke gegen die unerträgliche Politik Israels im Nahen Osten wenden. Diese staatlich verordnete Moral ist international nicht mehr vermittelbar. Sie ist provinziell geworden.
Nach Einreichung dieses Essays Ende November plante der Bundestag auch die baldige Verabschiedung einer Resolution zu Judenhass an Universitäten.
Offener Brief vom 29. August 2024 (diak.org/2024/08/29/offener-brief-2/).
Ralf Michaels u.a., Konsens statt Kompromiss. In: FAZ vom 23. Oktober 2024.
holocaustremembrance.com/resources/arbeitsdefinition-antisemitismus.
Im Urteil von 160 israelisch-britischen Wissenschaftlern: »This formulation is both vague in language and lacking in content, to the point of being unusable.« Reject the IHRA »working definition in antisemitism« say Israeli-British academics. In: Jewish Voice for Labour vom 8. Februar 2021 (www.jewishvoiceforlabour.org.uk/article/reject-the-ihra-working-definition-of-antisemitism-say-israeli-british-academics/).
jerusalemdeclaration.org/wp-content/uploads/2021/03/JDA-deutsch-final.ok.pdf
Systematisch zur Kategorisierung vgl. Stefan Hirschauer, Menschen unterscheiden. Grundlinien einer Theorie der Humandifferenzierung. In: Zeitschrift für Soziologie, Nr. 50/3–4, 2021.
Dies gilt ebenso für die Überdehnung des Begriffs »Rassismus« durch muslimische Aktivisten und postkoloniale Autorinnen. Die Forschung braucht Distanz von politisch aufgeladenen und missbrauchten Begriffen und sie bietet auch genauere Begriffe, um Rassismus etwa von »Fremdenfeindlichkeit« oder »Überfremdungsangst« differenzieren zu können. Vgl. Stefan Hirschauer /Matthias Krings, Rassifizierende Humandifferenzierung. Ein Plädoyer für spezifizierende Vergleiche statt ethno-zentrischer Subsumtion. In: Berliner Journal für Soziologie, Nr. 34/2, 2024.
Aleida Assmann, Drei Formen von Antisemitismus. In: Geschichte der Gegenwart vom 6. Dezember 2023 (geschichtedergegenwart.ch/drei-formen-von-antisemitismus/). Zu Assmanns Anliegen vgl. auch Sami Adwan /Dan Bar-On /Eyal Naveh (Hrsg.) Die Geschichte des Anderen kennen lernen. Israel und Palästina im 20. Jahrhundert [2009]. Aus dem Arabischen von Imke Ahlf-Wien und aus dem Hebräischen von Avner Ofrath. Frankfurt: Campus 2015.
Eva Illouz, Undemokratische Emotionen. Das Beispiel Israel. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Berlin: Suhrkamp 2023.
Kenneth Stern, I drafted the definition of antisemitism. Rightwing Jews are weaponizing it. In: Guardian vom 13. Dezember 2019 (theguardian.com/commentisfree/2019/dec/13/antisemitism-executive-order-trump-chilling-effect).
Zu dieser Spaltungsdynamik vgl. Stefan Hirschauer, Eskalationsspirale in Nahost. Eine konfliktsoziologische Perspektive. In: Merkur, Nr. 897, Februar 2024.
Julian Borger, Israeli security chief condemns »terrorism« of militant settlers. In: Guardian vom 23. August 2024 (theguardian.com/world/article/2024/aug/23/israeli-security-chief-ronen-bar-hilltop-youth-west-bank).
So Jonas Rosenbrück, An der Seite Israels. In: Merkur, Nr. 900, Mai 2024.
»Höchste Zeit, den Kurs zu ändern«. In: Jan-Martin Wiardas Blog vom 9. April 2024 (jmwiarda.de/https-www.jmwiarda.de-2024-04-09-hoechste-zeit-den-kurs-zu-aendern/).
»Ich bin kein Staat! Ich bin ein freier Mensch!« Nancy Fraser im Interview mit Elisabeth von Thadden. In: Zeit vom 9. April 2024.
Christoph Schult, Jordanien: Das Wort Terror kommt Annalena Baerbock nicht über die Lippen. In: Spiegel vom 20. Oktober 2023.
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