Wer schreibt die Geschichte der Digitalisierung?
von Rainer BayreutherDie Digitalisierung hat eine Serie von Nachrufen hervorgebracht: auf die Arbeit, auf die Demokratie, auf die Geschichte. Pauschal könnte man sagen: auf die Aufklärung und auf die Geisteswissenschaft. Das (wert)schöpfende Werk der eigenen Hände Arbeit, die Mitbestimmung am Gemeinwesen, das Sich-Wiedererkennen im bisherigen wie im vermutlich künftigen Lauf der Dinge – all das waren Elemente einer Vorstellung vom freien Menschen, der in sich eine geistige Welt errichten und diese auch objektivieren kann, kurz: Aufklärung. Dem zur Seite stand eine Weise der Generierung von Wissen über den Zusammenhang zwischen innerer geistiger und objektivierter Welt: die Geisteswissenschaft. Und all das soll nun in Gefahr sein durch die Digitalisierung. Denn die technologische Implementierung der ewigen mathematischen Wahrheiten der Statistik, der Wahrscheinlichkeitsrechnung, der Optimierung greift ein in die Weise, in der der Mensch aus seiner vermeintlich unerschöpflichen geistigen Tiefe Dinge hervorbringt und sein Leben gestaltet. Sie macht ihn womöglich wieder unmündig. Und sie bringt womöglich ein technokratisches Wissen hervor, das mit einer humanen Geistigkeit nicht mehr viel gemein hat.
Allerdings hat die Technologisierung des menschlichen Lebens selbst eine Geschichte. So sehr sie in jene Art von humaner Geschichte eingreift, die bisher von der Geisteswissenschaft erfasst und beschrieben wurde, macht sie offenkundig selber Entwicklungen durch. Die frühindustriellen »extensions of man«, wie es Marshall McLuhan formulierte, die analogen elektrischen Medien des frühen 20. Jahrhunderts, die digitalen Großrechner nach dem Zweiten Weltkrieg, der PC ab den 1970ern, das erst stationäre, nun mobile Internet haben das menschliche Leben in sehr unterschiedlicher Weise geprägt. Zudem waren die jeweils zukünftigen Phasen nicht absehbar. Auch eine digitalisierte Zukunft scheint eine offene Zukunft zu sein.
Hat also auch die Digitalisierung eine Geschichte? Und ist jene Wissenschaft berufen, sie zu schreiben, die sich seit je auf das Verstehen und Schreiben von Geschichte verstand, die gute alte Geisteswissenschaft? Claus Pias, nominell Medienwissenschaftler an der Leuphana Universität Lüneburg, seinem Selbstverständnis nach aber (auch oder gerade deshalb) Historiker,1 hat in einem Essay mit dem Titel Die Digitalisierung gibt es nicht ausgeführt, warum den Geisteswissenschaften die wichtige Aufgabe zukomme, aus kritischer Distanz die Geschichte der Entwicklungen zu schreiben, die unter dem Singular »Digitalisierung« firmieren, tatsächlich aber aus einer Vielzahl technologischer und kultureller Phasen bestehen.2
Zukunftssemantik
Süffisant zählt Pias auf, wie in jeder Phase aufs Neue behauptet wurde, eine bestimmte Technologie werde die Zukunft prägen, und wie es dann doch anders kam. Der Digitalisierungsdiskurs sei auf die self-fulfilling prophecies seiner Akteure hereingefallen, die behaupteten, bestimmte Entwicklungen seien unausweichlich und es könne nur noch darum gehen, den Anschluss nicht zu verpassen – ein Prophetentum, das erkennbar partikularen Sichtweisen und Zwecken diene. Pias mahnt, sich ihnen nicht kritiklos zu beugen, und plädiert für eine digitale Aufklärung. Es bedürfe eines mündigen, kritischen und genauen Blicks auf die Phänomene der Digitalisierung, der frei sei von dem Innovationsdruck und der Systemlogik, die die Digitalisierung selber aufbaue. »Es ist«, schreibt Pias, »diese Fähigkeit der Geisteswissenschaften zur Genauigkeit, die sie vom lautstarken Chor der immer schon paraten Antworten ebenso wie von der kulturkritischen Flucht in ein vermeintlich noch vorhandenes Außen unterscheiden kann.«
Wie kann das gehen? Indem die Zeitsemantik einer »unausweichlichen Zukunft« im digitalen Diskurs decouvriert und dessen Grundlagen, seine Interessen und seine Zeitgebundenheit offengelegt würden. Unausgesprochen wird in dieser Argumentation auf Reinhart Kosellecks »Semantik geschichtlicher Zeiten« verwiesen. Es lohnt sich, Kosellecks Thesen in Erinnerung zu rufen. Sie wurden just in den sechziger Jahren formuliert, in denen nach Pias bei den Kybernetikern und Digitalpionieren die Prophetien zur Entwicklung der Technik anschwollen.
Bei Koselleck hat die Semantik einer offenen oder eben unausweichlichen Zukunft allerdings eine Pointe, die Pias’ Argumentation durchkreuzt. Für unausweichlich wurde, so Koselleck, der Gang der Geschichte da gehalten, wo die aktuellen weltgeschichtlichen Geschehnisse vor dem Hintergrund eines vorherbestimmten heilsgeschichtlichen Ablaufs verstanden wurden, etwa in der christlichen Frühneuzeit. Disruptive Geschichtsverläufe werden denkbar erst, wenn kein heilsgeschichtlicher Hintergrund mehr angenommen wird, wofür bei Koselleck paradigmatisch die Französische Revolution steht.
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