Heft 847, Dezember 2019

Wer schreibt die Geschichte der Digitalisierung?

von Rainer Bayreuther

Die Digitalisierung hat eine Serie von Nachrufen hervorgebracht: auf die Arbeit, auf die Demokratie, auf die Geschichte. Pauschal könnte man sagen: auf die Aufklärung und auf die Geisteswissenschaft. Das (wert)schöpfende Werk der eigenen Hände Arbeit, die Mitbestimmung am Gemeinwesen, das Sich-Wiedererkennen im bisherigen wie im vermutlich künftigen Lauf der Dinge – all das waren Elemente einer Vorstellung vom freien Menschen, der in sich eine geistige Welt errichten und diese auch objektivieren kann, kurz: Aufklärung. Dem zur Seite stand eine Weise der Generierung von Wissen über den Zusammenhang zwischen innerer geistiger und objektivierter Welt: die Geisteswissenschaft. Und all das soll nun in Gefahr sein durch die Digitalisierung. Denn die technologische Implementierung der ewigen mathematischen Wahrheiten der Statistik, der Wahrscheinlichkeitsrechnung, der Optimierung greift ein in die Weise, in der der Mensch aus seiner vermeintlich unerschöpflichen geistigen Tiefe Dinge hervorbringt und sein Leben gestaltet. Sie macht ihn womöglich wieder unmündig. Und sie bringt womöglich ein technokratisches Wissen hervor, das mit einer humanen Geistigkeit nicht mehr viel gemein hat.

Allerdings hat die Technologisierung des menschlichen Lebens selbst eine Geschichte. So sehr sie in jene Art von humaner Geschichte eingreift, die bisher von der Geisteswissenschaft erfasst und beschrieben wurde, macht sie offenkundig selber Entwicklungen durch. Die frühindustriellen »extensions of man«, wie es Marshall McLuhan formulierte, die analogen elektrischen Medien des frühen 20. Jahrhunderts, die digitalen Großrechner nach dem Zweiten Weltkrieg, der PC ab den 1970ern, das erst stationäre, nun mobile Internet haben das menschliche Leben in sehr unterschiedlicher Weise geprägt. Zudem waren die jeweils zukünftigen Phasen nicht absehbar. Auch eine digitalisierte Zukunft scheint eine offene Zukunft zu sein.

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