Heft 894, November 2023

Zielart auf 11 Uhr, zwischen Blättern versteckt

von Claudia Keller

Das Nachtsichtgerät lassen wir zuhause, denn ich habe keine Lust auf Diskussionen mit den israelischen Grenzbeamten, denen ich plausibel machen müsste, dass wir nur an in der Dämmerung verborgenen Vögeln und nicht an Staatsgeheimnissen interessiert sind. Auf dieser Reise möchte ich mich auf die Vögel konzentrieren, für die dieses Gebiet die wichtigste Verbindung zwischen Afrika und Europa ist. Doch schon bald nach unserer Ankunft bestätigt sich, was ich geahnt habe: Die Karten der Vögel und die Karten der Politik überschneiden sich, und beide erzählen von Landverlust und Migration, von Resilienz und Widerstand.

Gleich nach der Landung, während wir am Flughafen auf das Mietauto warten, machen wir unsere erste Entdeckung. Wir sehen einen Jerichonektarvogel, dessen englischer Name für mich wie die Ver-heißung einer Postkarte klingt: Palestine sunbird. Es ist der vielleicht schönste Vogel, den ich je gesehen habe, und ich sehe ihn nur dank J. und S., meinen beiden Reisebegleitern, die mich auf ihn aufmerksam machen. Sein in Blau, Türkis, Violett changierendes Glänzen übertrifft die bunte Leuchtreklame hinter ihm, aber das eine ist ohne das andere nicht zu haben: Wir haben Flugtickets gekauft, ein Auto gemietet, Hotelübernachtungen gebucht, die es uns ermöglichen, seltene Naturerfahrungen zu machen.1 So werden die Vögel, die zu sehen wir uns schon lange wünschen, nun real, »fast wie ein Einhorn, das aus dem Wald herausspaziert«.2

Die Namen dieser Vögel haben für mich den Klang einer fantastischen Welt: Smaragdspint, Hirtenmaina, Zistensänger, Tristramstar, Akaziengrasmücke. Meine Reisebegleiter hatten im Flugzeug nicht über Einhörner, sondern über »Zielarten« geredet, und entsprechend anders klingt ihre Wunschliste, die nicht nach Schönheit der Namen, sondern nach Seltenheit gegliedert ist: Graudrossling, Halsbandfrankolin, Sandlerche, Maskenwürger. Unsere Reise folgt unzähligen Punkten auf digitalen Plattformen, von denen jeder ein Beobachtungsgebiet darstellt und woraus sich eine Kartografie der Möglichkeiten ergibt – jeder Wassertümpel eine Chance.

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