Zonenbildung
von Daniel ImmerwahrWer im Jahr 1950 im 102. Stock des Empire State Building stand, war auf dem Gipfel der Welt angekommen. Vom höchsten Gebäude der Welt aus sah man herab auf die Wall Street, das Finanzzentrum der Welt. Oder blickte in Richtung des Metropolitan Museum of Art, eines der größten Kunstmuseen der Welt. Die aus dem Hafen auslaufenden Schiffe gehörten zur größten Handelsflotte der Welt, die transportierten Güter waren im industriellen Zentrum der Welt hergestellt worden.
Heute sieht es anders aus. Das höchste Gebäude der Welt, der Burj Khalifa, steht in Dubai. Die größten Handelsflotten fahren unter den Flaggen von Panama, Liberia und den Marshallinseln. Das Produktionszentrum der Welt liegt in China, Manhattan konkurriert um Bankgeschäfte mit den Kaimaninseln, und die Sammlung des Met hat Konkurrenz durch das Genfer Zollfreilager bekommen, eine geheimnisvolle Lagerstätte, von der man über das, was sich dort gerade befindet, kein Sterbenswörtchen erfährt.
Das ist es, was die Globalisierung bewirkt: Sie bringt Räume durcheinander. Ein globales Angebot trifft auf eine globale Nachfrage, und voilà: Schon eröffnet eine KFC-Filiale in Kirgisistan. Trotzdem: Ausgerechnet das kleine Panama soll die meisten Handelsschiffe besitzen? Die Kaimaninseln – drei kleine Inseln südlich von Kuba – verfügen über eines der größten Finanzsysteme der Welt? Diese Verhältnisse können unmöglich das Ergebnis einer weltweiten Jagd nach den besten Arbeitskräften und Ressourcen zu den niedrigsten Kosten sein.
Das sind sie auch nicht. Eher verdanken sie sich dem globalen Wettbewerb möglichst gefügiger Gesetzgebungen. Ausgerechnet die Kaimaninseln! Die kleine Kolonie war in der Historie eigentlich nicht für ihre Banken bekannt. Die erste öffnete ihre Pforten im Jahr 1953, und zwar in der Praxis eines Zahnarzts auf der einzigen gepflasterten Straße von George Town. Doch die Gesetze versprechen Steuerfreiheit für Ausländer, und die Banken hüten ihre Finanzgeheimnisse mit Inbrunst. Das macht die Kaimaninseln zu einem Ort, an dem sich die Spuren des Geldes im Sand verlieren.
Für den Historiker Corey Tazzara waren solche Orte lange die »schmutzigen Geheimnisse der Moderne«. Schweizer Bankkonten etwa haben seit mehr als einem Jahrhundert als Versteck für Vermögen gedient. Doch in den letzten Jahrzehnten haben sich derartige Sonderzonen – kompakte, ausgewiesene Gebiete, in denen die normalen Regeln nicht gelten – von einem Randphänomen zu einem bestimmenden Faktor der Wirtschaft entwickelt. Der Kapitalismus im Zeitalter der Globalisierung hat die Welt nicht, wie von vielen erwartet, zu einem flachen, einheitlichen Raum homogenisiert. Entstanden ist vielmehr ein Flickenteppich an Rechtssystemen. Mittlerweile gibt es auf der Welt mehr als 5400 Wirtschaftsenklaven: Landgüter, Inseln, Parks, Steuerschlupflöcher, Freihäfen, Zolllager, Exportverarbeitungszonen, Sonderwirtschaftszonen, Freihandelszonen, Freipunkte und dergleichen. Ein Geograf hat sie gezählt und kam auf zweiundachtzig unterschiedliche Bezeichnungen.
Je zahlreicher diese Ausgliederungen wurden, desto gravierender der Verlust der Kontrolle einzelner Staaten über die Wirtschaft. Das verarbeitende Gewerbe ist vom globalen Norden in den globalen Süden migriert, oft angelockt von den Vorteilen solcher Zonen. Auch Gelder setzen sich über Grenzen hinweg: Etwa ein Zehntel des weltweiten Reichtums liegt in Steueroasen, viele davon Inseln oder Mikrostaaten. »Zonenkapitalismus« ist das in den Worten der Anthropologin Hannah Appel, »Archipelkapitalismus« nennt es die Historikerin Vanessa Ogle.
Seit Jahren schon versuchen Wissenschaftler wie der Ökonom Ronen Palan, die Anthropologin Aihwa Ong und die Architektin Keller Easterling, die Tragweite dieser Entwicklung aufzuzeigen, und kämpfen damit gegen die weit verbreitete Tendenz, die Enklaven als Kuriositäten abzutun. Das Thema hat es schwer, die öffentliche Aufmerksamkeit zu binden, weil es so viele verschiedene Varianten von Sonderzonen gibt, die unter ganz verschiedenen Namen ganz verschiedene Funktionen erfüllen. Das Buch Kapitalismus ohne Demokratie des Historikers Quinn Slobodian fasst den Forschungsstand zu verschiedenen Zonentypen zu einer lebendigen, zusammenhängenden Erzählung zusammen. Es ist damit der bisher überzeugendste Beitrag zu dieser neuen Geografie des Kapitalismus.
Slobodian selbst ist das Produkt kleiner Orte. Als Sohn von Bahai-Missionaren verbrachte er seine Kindheit und Jugend auf einer winzigen Insel vor Vancouver Island, in der Enklave Lesotho und auf Vanuatu im Südpazifik. Und er nimmt solche Orte ernst. Die Durchlöcherung großer Staaten durch Tausende kleiner Zonen ist seiner Meinung nach ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung.
Marktradikale sehen das als Befreiung. Traditionell haben sie eher von einer Welt ohne Grenzen geträumt, aber heute können sie gar nicht genug solcher Grenzziehungen haben. »Wer mehr Freiheit will«, sagt der milliardenschwere Risikokapitalgeber Peter Thiel, »will auch, dass es mehr Staaten gibt.« Je mehr Rechtssysteme existieren, desto besser lässt sich die passende Hoheitsform finden. Für Slobodian ist das nicht Befreiung, sondern »Sezession«. Unternehmen und Superreiche entziehen sich dem Zugriff der Staaten, indem sie zonierte Ausnahmen nutzen. Das Ergebnis ist eine »radikale Form des Kapitalismus«, die sich der öffentlichen Verantwortung – oder sogar Beobachtung – entzieht. Eine Wirtschaft aus Zonen, Inseln und Enklaven bedeute auch, so Slobodian, eine »Welt ohne Demokratie«.
War der Kapitalismus jemals mit Demokratie vereinbar? John Maynard Keynes, der wohl bedeutendste Ökonom des 20. Jahrhunderts, war davon überzeugt. Keynes hoffte, die Produktivität des Marktes mit der Politik der liberalen Demokratie vereinen zu können. Seiner Ansicht nach lag der Schlüssel weder in der Entfesselung noch in der Abschaffung des Kapitalismus, sondern darin, ihn »klug zu verwalten«, um den ungebärdigen Markt dazu zu bringen, einer breiten Öffentlichkeit zu dienen.
Den Markt zu etwas zu bringen – das ging natürlich nur, solange die Politik die Fäden in der Hand behielt. Keynes befürchtete, dass ein von der Leine gelassenes Kapital den Wohlfahrtsstaat zerstören würde. Die Reichen, »die in der ständigen Angst leben, dass der Einfluss der politischen Linken in ihrem Land momentan wahrscheinlich größer ist als anderswo«, würden ihr Vermögen auf der Landkarte Karussell fahren lassen. Der bewegliche Reichtum würde den interventionistischen Staaten nicht nur Steuereinnahmen vorenthalten; er würde die Weltwirtschaft destabilisieren. Um das globale Finanzwesen in Ketten zu legen, schlug Keynes vor, es zu regulieren und stabile Wechselkurse festzulegen. Er hoffte, dass solche Kontrollen den Devisenhandel und Spekulationen über weite Distanzen hinweg verhindern würden.
Für Verfechter des freien Marktes wie Milton Friedman waren keynesianische Kontrollen nichts anderes als rücksichtslose politische Einmischung. Doch die Staatslenker der Jahrhundertmitte stellten sich auf die Seite von Keynes. Auf der Bretton-Woods-Konferenz 1944 legten sie Wechselkurse fest – verankert in dem Versprechen, dass der US-Dollar für 35 Dollar pro Unze gegen Gold eintauschbar sei – und schufen so die Voraussetzungen für umfassende Kapitalkontrollen. Keynes staunte: Die einstige Häresie war zur orthodoxen Ansicht geworden.