Heft 895, Dezember 2023

Zunehmende Trübung – Sterbelehre am Stechlin

von Björn Kröger

In der weiten, von der Eiszeit geprägten Landschaft im Norden Deutschlands gibt es Tausende von kleinen und großen Wasserflecken. Einer von ihnen ist der Große Stechlinsee. Er liegt ganz im Norden des Landes Brandenburg, unweit von Berlin, mitten in einem Naturschutzgebiet, mitten im Wald.

Der Stechlin ist weithin bekannt, weil er so malerisch gelegen ist, weil er so tief ist und weil sein Wasser so klar ist. Theodor Fontane hat ihn ins Zentrum eines seiner berühmtesten Romane gestellt: »Zwischen flachen, nur an einer einzigen Stelle steil und quaiartig ansteigenden Ufern liegt er da […] kein Vogel singt, und nur selten, daß ein Habicht drüber hinfliegt und seinen Schatten auf die Spiegelfläche wirft. Alles still hier.«

Still ist es in der Abgeschiedenheit der Brandenburgischen Wälder die meiste Zeit des Jahres noch heute. Doch der See ist nicht mehr, was er zu Fontanes Zeiten einmal war. Er ist einer der vielen Seen, die sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verwandelt haben. Die Welt wird wärmer. In Brandenburg trüben sich die Seen, ihre Wasserspiegel sinken und ihre Artenwelt verarmt.

Ich wuchs an diesem See auf. Heute kehre ich nur alle paar Jahre für kurze Stippvisiten zurück. Dabei bemerkte ich lange Zeit nicht, was mit dem See passierte. Vor ein paar Jahren sah ich zum ersten Mal eine gewisse Trübung. Später musste ich lernen, dass am Stechlin schon seit mehr als einem Jahrzehnt Beunruhigendes vor sich ging. Seit Jahren gab es Blaualgenblüten. In seinem Tiefenwasser bilden sich Todeszonen. Seine einst so ausgedehnten, unterseeischen Wiesen von Armleuchteralgen sind fast verschwunden. Die Fontanemaräne, die es nur im Stechlinsee gibt, ist akut vom Aussterben bedroht. Wie konnte ich das so lange übersehen?

Weltbewegung

Viele, die den Stechlin besuchen, rühmen noch heute sein klares Wasser. Sie kennen den See vielleicht nicht anders oder haben vergessen. In Fontanes Roman bringt sich der Stechlin zuweilen gegen die Kurzlebigkeit des Alltags in Erinnerung: »Alles still hier. Und doch, von Zeit zu Zeit wird es an eben dieser Stelle lebendig. Das ist, wenn es weit draußen in der Welt, sei’s auf Island, sei’s auf Java, zu rollen und zu grollen beginnt.« Dann zeigt sich in ihm, wie an einem Seismografen, die große Bewegung der Welt.

Die große Weltbewegung, das waren zu Fontanes Zeiten Revolutionen und geologische Kataklysmen. Für uns ist es die globale Erwärmung des Klimas. Mit der Trübung des Stechlin bricht für mich die große Weltbewegung in die Abgeschiedenheit der Brandenburger Wälder. Sie markiert das Ende einer Illusion. Der Stechlin, das war immer das symbolische Zentrum meiner Welt. Ich konnte an den See zurückkehren und mich dort meiner Zeit und der Welt vergewissern.

Wenn ich vom Dorf zum See ging und sich sein Wasser zwischen den Zweigen der Bäume auftat, dann sah ich, dass alles noch da ist. Im großen Wirbel meines eigenen Lebens und der Ereignisse des Weltgeschehens lag er da, wie er immer da gelegen hatte. Jede dieser Begegnungen war wie die Wiederkehr des Frühlings: Ja, die Welt dreht sich immer schneller, doch sie hat ihre Substanz noch nicht verloren.

Feierabendland

Das Stechlinsee-Gebiet steht seit 1938 unter Naturschutz. Man stellte es unter Schutz, weil man von Berlin aus die Besiedelung des Seeufers mit Landhäusern verhindern und mehr Kontrolle über den ausufernden Fremdenverkehr erlangen wollte.

Zuvor war eine Bahnlinie in Betrieb genommen worden, die das unweit des Sees gelegene Dörfchen Neuglobsow mit Berlin-Gesundbrunnen verband. Sie brachte einen neuen Wochenendtourismus an die beschaulichen Ufer des Sees.

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