Zwischen Freiheit und Verantwortung Wider eine utopische Verfassungsinterpretation
von Isa BilgenDas Grundgesetz gewährt mit den Grundrechten die Freiheit des Einzelnen und schützt sie in erster Linie auch vor dem Staat. Dieser hat die individuelle Freiheit zu achten, zu der die Selbstbestimmung als Kernelement der Menschenwürde gehört. Andererseits verpflichtet das Grundgesetz den Staat zum Schutz von Leben und Gesundheit seiner Bürger. Vor allem die Exekutivgewalt steht dabei in einer doppelten Verantwortung. Während der Pandemie hat sie allerdings nicht selten an die Eigenverantwortung der Menschen appelliert. Es stellt sich die Frage, ob schon in dem bloßen Eigenverantwortungsappell ein Verstoß gegen die genannte Verfassungspflicht des Staates zu sehen ist. Oder systematischer: Wann ist Staatshandeln als illegitimer Paternalismus verfassungsrechtlich bedenklich, und wann ist ein zu weicher Paternalismus als pflichtwidrige Untätigkeit der Politik zu werten? Es geht also um das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in einem Grundsatzstreit: »zu viel Staat« vs. »zu wenig Staat«.
Freiheit und Sicherheit
In Krisen wie der Corona-Pandemie befindet sich die Gesellschaft typischerweise zunächst vor einer unerforschten und daher ungewissen Tatsachengrundlage. Die praktische Politik muss trotzdem schnell handeln, wobei es oft nicht leicht ist, auf Anhieb einzuschätzen, welche Schritte und Maßnahmen die Verfassung im Verhältnis von Sicherheit und Freiheit erlaubt. Gefragt ist dann verfassungsrechtliche Expertise; es kommen allerdings auch die Positionierungen der Experten unter Zeitdruck zustande. Zumal es unumstrittene Wahrheiten auch hier höchstens im ganz Grundsätzlichen geben kann. In der Theorie mögen Freiheit wie Sicherheit normativ prägende und absolute Ideale sein, in der Praxis sind sie nur relativ realisierbar. Darüber, dass es prinzipiell um Sicherheit unter Wahrung maximaler Freiheit zu tun ist, mag in der politischen Philosophie und darüber hinaus eine gewisse Einigkeit herrschen. Für die politische Praxis ist damit wenig gesagt.
Zwei relativ früh in der Krise ergangene Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts sind bezeichnend für diesen Grundsatzkonflikt. In einem Beschluss aus dem Mai 2020 hatte die Klage eines 65-Jährigen keinen Erfolg, der sich durch die Lockerungen der Maßnahmen in seinem Grundrecht auf Leben und Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 GG verletzt sah. Tags darauf wurde die Klage eines jüngeren Beschwerdeführers abgewiesen, der die Einschränkungen für die Gruppe der unter 60-Jährigen für generell unverhältnismäßig hielt, weil das Virus für sie nicht gefährlicher sei als andere Viren und weil niemand zum Selbstschutz gezwungen werden könne.
Der liberale Verfassungsstaat will Freiheitsrechte konsequent wahren, büßt aber seine Legitimität ein, wenn er beim Schutz vor Bedrohungen versagt. Und er wird als Sicherheitsstaat kritisiert, wenn er Freiheiten einschränkt, sich die Gefahr dann aber als übertrieben herausstellt. Das öffentlich debattierte Verhältnis von Freiheit und Sicherheit muss sich aber letztlich an der Verfassungsordnung messen; der Diskurs muss sich vor diesem Hintergrund selbst begrenzen und auf den Absolutheitsanspruch von Freiheit und Sicherheit dezidiert verzichten. Sonst muss der Staat beziehungsweise die in dieser Öffentlichkeit dominierende »Elite« die Verantwortung dafür tragen, wenn es am Ende getreu des Diktums Benjamin Franklins weder Freiheit noch Sicherheit gibt.
Keine absolute Verfassungspflicht
Die staatlichen Pflichten zur Achtung der Freiheit und zur Gewährleistung von Sicherheit stehen zunächst gleichwertig nebeneinander. Eine formale Abstufung sieht das Grundgesetz nicht ausdrücklich vor. Wenn es dem betroffenen Individuum um die Abwehr von Regelungen zu seiner Freiheit geht, wird die die Achtungspflicht umfassende Abwehrfunktion der Grundrechte aktiviert. Wenn es ihm um mehr Regulierung geht, wird ihre Schutz- beziehungsweise Sicherheitsfunktion aktiviert. Zur Erfüllung der Schutzpflicht ist manchmal die Einschränkung der Freiheit Dritter erforderlich. Die beiden Pflichten stehen dann in einem Spannungsverhältnis zueinander. Für dessen Auflösung ist »ein verhältnismäßiger Ausgleich der gegenläufigen, gleichermaßen verfassungsrechtlich geschützten Interessen mit dem Ziele ihrer Optimierung« zu erreichen. Der Staat darf aufgrund des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips ein gewisses Maß an Eingriffen in seine Achtungspflicht gegenüber der individuellen Freiheit nicht überschreiten. Er darf aber ebenso wenig ein Maß an Sicherheitsgewähr unterschreiten.
Während sich die Achtungspflicht konkretisieren lässt, weil sie schlicht das Unterlassen eines bestimmten Freiheitseingriffs fordert, ist die Schutzpflicht eine rechtlich unbestimmte Pflicht, weil sie keine konkrete Handlung fordert. Sie kann schon deswegen nur relativ und nicht absolut gelten. Dem Staat kommt darum ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu, innerhalb dessen er in eigener Verantwortung zwischen verschiedenen geeigneten Maßnahmen wählen kann. Dieser Spielraum ist durch rechtsstaatliche Gebote und kollidierende Verfassungsgüter begrenzt. Es besteht eine relative Optimierungs-, aber keine absolute Verwirklichungspflicht. Die tatsächlichen Möglichkeiten sind ungewiss, auch weil in einer Krise wie der Corona-Pandemie viele Fakten es (zunächst jedenfalls) sind. Welches Handeln konkret geboten ist, hängt von verschiedenen Faktoren wie »der Eigenart des Sachbereichs« und »den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden« ab. Die Schutzpflicht wäre nur dann verletzt, wenn Schutzmaßnahmen gar nicht getroffen würden oder wenn sie offensichtlich ungeeignet wären.
Auch wenn durch den Appell an die Eigenverantwortung der Eindruck entsteht, als würde sich die Exekutive ihrer politischen Verantwortung entbinden wollen, ist darin keine Verweigerung ihrer Pflicht zu sehen. Sie wird ja tätig – in mancher Hinsicht zu viel, in anderer zu wenig. Die Politik schuldet den Bürgern keinen konkreten Erfolg, sondern die zweckmäßige Optimierung des Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit. Im Hinblick auf die Verfassungspflichten ist nicht schon »schlechte« Arbeit, sondern erst Untätigkeit ein Problem.