Politik der reaktionären Gegenmoral
Populismus ist ein glitschiger Fisch. Der Versuch, ihn theoretisch zu fassen, gestaltet sich so schwierig wie das Unterfangen, ihn politisch in den Griff zu bekommen. Es gibt keinerlei Konsens, was unter Populismus zu verstehen ist, worin seine Ursachen liegen, welche Folgen er hat, wie er erstarkt und wodurch er geschwächt wird. Es fehlt denn auch, besonders in Deutschland, nicht an Forderungen, den Begriff ganz fallen zu lassen und das Phänomen mit klarer konturierten Kategorien wie Faschismus oder Rechtsextremismus dingfest zu machen. Nur sind die Forderungen weniger vom Bemühen geleitet, die tektonischen Verschiebungen in der aktuellen Politik besser zu verstehen, als von der Absicht, die Akteure, die sie vorantreiben, per Umwidmung aus der demokratischen Ordnung zu verbannen. Es geht um politische Klarstellung, nicht um theoretische Präzisierung, weshalb neue Probleme der semantischen Unschärfe und historischen Vergleichbarkeit, die Begriffe wie Faschismus und Rechtsextremismus mit sich bringen, gerne in Kauf genommen werden. (mehr …)
Wie die Peer Review die Wissenschaft diszipliniert
Es gibt eine Ursprungslegende über Peer Review, die von Wissenschaftlern erfunden wurde und von Wikipedianern verbreitet wird. Als sich der erste Sekretär der Royal Society of London, Henry Oldenburg, 1665 zum Gründungsherausgeber der Philosophical Transactions ernennen ließ, führte er aus Einsicht in die Grenzen des eigenen Wissens eine neue Qualitätsprüfung für eingesandte Manuskripte ein: Er legte sie einschlägigen Experten zur Begutachtung vor. Der Legende zufolge entstand Peer Review mit dem Geburtsakt des wissenschaftlichen Zeitschriftenwesens und ist damit, seit es die modernen Naturwissenschaften gibt, integraler Bestandteil der Forschungspraxis.
Die Legende ist relativ jung. Sie entstand vor kaum fünfzig Jahren zu einem nicht ganz zufälligen Zeitpunkt. Es war jene Phase, als sich Peer Review in den Vereinigten Staaten, ausgehend von der staatlichen Forschungsförderung, für die Prüfung von Projekt- und Publikationsanträgen durchzusetzen begann. Mit der wissenschaftlichen Praxis in der Royal Society des 17. Jahrhunderts hatte dieser Prozess so gut wie nichts zu tun. Oldenburg druckte in den Philosophical Transactions ab, was er für interessant hielt, darunter Briefe aus der eigenen Korrespondenz und Berichte aus dritter Hand über Experimente von anderen. Er fragte nur selten externe Spezialisten nach ihren Meinungen zu einem Text, warb viele Beiträge selbständig ein und schrieb sie vor der Publikation gerne um. Sein Kontrollanspruch über die Zeitschrift war so umfassend, dass er sich, wie die Historikerin Melinda Baldwin gezeigt hat, gelegentlich als ihr »author« und nicht als ihr »editor« ausgab.
Wollte man eine Brücke schlagen von frühneuzeitlichen Publikationsverfahren zur spätmodernen Peer Review, was nicht zwingend ist, weil es diesbezüglich keine Kontinuität gibt, müsste man eher die Gutachtertätigkeit von Akademikern für königliche Zensurbehörden anführen. Die externen Experten der offiziellen Vorpublikationszensur wurden gegenüber den betroffenen Autoren anonymisiert, und anders als die Theologen, die in erster Linie auf die Rechtgläubigkeit der Schriften zu achten hatten, konnten Mathematiker, Mechaniker oder Astronomen ihren Zensurauftrag schon auf das Verhindern von Veröffentlichungen richten, die aus ihrer Sicht keine neuen Befunde erbrachten, unzuverlässige Methoden verwendeten oder nicht auf der Höhe des wissenschaftlichen Erkenntnisstands waren. Der Bezug zur Zensur des Ancien Régime wäre auch insofern stimmig, als damit die entscheidende Rolle des Staats bei der Durchsetzung von Peer Review in den Blick geraten würde, die in der Legende vom Ursprung der Peer Review in den Philosophical Transactions schlicht ausblendet wird. Die Peer Review erscheint darin als Erfindung der Wissenschaft für die Wissenschaft zum Besten der Gesellschaft, mit »government nowhere in the picture«, wie es der Philosoph David Shatz auf den Punkt gebracht hat. [2. David Shatz, Peer Review. A critical enquiry . Lanham: Rowman & Littlefield 2004.]
Tatsächlich entstanden Begriff und Konzept der Peer Review im Verlauf der 1960er Jahre im Zusammenhang mit einem massiven Ausbau der Projektmittelvergabe durch die staatliche Forschungsförderung. Obwohl die Architekten dieses Ausbaus auf Zeitschriftenpraktiken zurückgriffen, die im 19. Jahrhundert entworfen worden waren, kam der entscheidende Impuls für die Durchsetzung der Peer Review aus der Politik. [3. Vgl. Alex Csiszar, Peer Review. Troubled from the Start . In: Nature , Nr. 532 vom 19. April 2016.] Eine Vorreiterrolle nahmen die Vereinigten Staaten ein, die nach dem Zweiten Weltkrieg die institutionellen Fundamente für eine neue Forschungsorganisation legten. 1948 entstanden die National Institutes of Health, ausgestattet mit kleinen »study sections« für wissenschaftliche Experten, die Projektanträge für die Vergabe von medizinischen Forschungsgeldern prüften. Zwei Jahre später erfolgte die Gründung der National Science Foundation (NSF), der ersten staatlichen Fördergesellschaft für die natur- und technikwissenschaftliche Grundlagenforschung. [4. Vgl. Daryl E. Chubin /Edward J. Hackett, Peerless Science. Peer Review and U.S. Science Policy . Albany: SUNY Press 1990.] In den ersten Jahren ihres Bestehens holte die NSF nur sporadisch externe Gutachten zu Projektanträgen ein, und in den meisten Fällen trafen die angestellten Direktoren die Entscheide. Das (lesen ...)