Rückruf aus den Neunzigern
Göttingen im April 1997. Karlheinz Weißmann, promovierter Studienrat und »Shooting Star der neurechten Klientel«,1 schreibt das Vorwort zur Neuausgabe seiner Geschichte des Nationalsozialismus. Der Weg in den Abgrund ist noch vor Erscheinen als Skandal bezeichnet worden, die Herausgeber der Propyläen-Reihe haben sich aufs Schärfste von dem Band distanziert, die Kritiken waren verheerend, der Verlag hat das Buch zurückgezogen und Weißmann eine Abfindung gezahlt. Was für ein Desaster. Was für eine Gemeinheit! Nicht mit »übermäßigem Wohlwollen«, jedoch »einer gewissen Anerkennung« habe er rechnen dürfen, vertraut Weißmann seinen Lesern an.
Héberts Tod
..Der Tod ist der Beginn der Unsterblichkeit. Robespierre
Der Kopf von Jacques-René Hébert (1757–1794) kann nicht mehr besichtigt werden. Im April 2016 schloss die Chamber of Horrors von Madame Tussauds in London; die Beschwerden besorgter Eltern waren zu zahlreich und zu vehement geworden. Damit verbannte das Unternehmen seine Gründungsgeschichte in den Keller. Die Wachsköpfe der guillotinierten Revolutionäre waren das Startkapital, das die Straßburgerin Marie Grosholtz 1802 nach England mitbrachte und dem sie den Erfolg ihrer Ausstellung verdankte. Noch immer kommt das Publikum in Scharen zu Madame Tussauds, doch die Faszination für den Gesichtsausdruck im Augenblick des Todes hat sich offenbar nicht gehalten.(Der Essay ist im Februarheft 2019, Merkur # 837, erschienen.)
Bis dahin war der aufgespießte Kopf Héberts zwischen den Häuptern Jean-Baptiste Carriers und Maximilien Robespierres aufgereiht. Die schlechte Gesellschaft spricht für Héberts üblen Ruf. Und man kann in der Platzierung eine Art Hierarchie der Erinnerung erkennen: Wenn Carrier nur mehr als barbarischer »Schlächter von Nantes« bekannt ist und Robespierre die schillernde Inkarnation der terreur, rangiert Hébert dazwischen, als »monstre subalterne« (Louis-Sébastien Mercier). Der Journalist und Politiker ist eine prominente Nebenfigur der Revolution. Er trug den fiesen Teil zum Martyrium Marie-Antoinettes bei und begründete mit seiner vulgären Zeitung, dem Père Duchesne, den populistischen, ultraradikalen Hébertismus. In Frankreich taugen die großen Revolutionäre immer noch zur politischen Identifikation: Hält man zu Robespierre oder Danton, zu den Jakobinern oder den Girondisten, den Radikalen, den Gemäßigten oder gar den Monarchisten? Hébert spielt bei diesen historischen Selbstverortungen keine Rolle, weder als Held noch als finsterer Gegenspieler. Denn Hébert gilt als »charakterlos« (Albert Soboul), und das liegt an seinem Tod. Die Anekdote seines jämmerlichen Sterbens ist immer wieder erzählt worden: Am 24. März 1794 wurden die Hébertisten verurteilt und noch am gleichen Tag guillotiniert. Auf dem Weg zur Place de la Révolution kamen Hébert die Tränen. Die Sansculotten verspotteten ihn, und er hatte schreckliche Angst, weinte, zitterte, taumelte, fiel in Ohnmacht und schrie vergeblich um sein Leben. Dazu passen die letzten Worte, die ihm der Henker Sanson in seinen (apokryphen) Memoiren in den Mund gelegt hat: »Pas encore«.