Merkur Nr. 656, Dezember 2003

Die Flügel des Gedächtnisses
Immer noch und schon wieder gibt es den “Büchmann”

von Burkhard Müller

 

Er stand auf seines Daches Zinnen

Tradition − das ist der geglückte Stoffwechsel des Gedächtnisses mit dem Wissen. Das Wissen gehört immer der Gesellschaft insgesamt an, es hängt in seinem Bestand nicht davon ab, daß dieser oder jener es hat, es trägt archivalischen Charakter; nichts setzt ihm Grenzen. Das Gedächtnis hingegen liegt im Vermögen des Einzelnen und bleibt in dessen beklemmender Endlichkeit gefangen. Das Wissen muß nicht gewußt, wohl aber das Gedächtnis gedacht werden. Es ist der absolute Flaschenhals, durch den die Kultur in die Menschen eingeht − oder auch nicht. Wie viel ist nicht schon geschrieben worden! Keiner kann es insgesamt lesen, weniger noch das Gelesene sich merken, außer in der vagesten Reminiszenz. Was geschah doch gleich in der Madame Bovary? Wenn man alles gelesen habe (»alles« mit der gehörigen Einschränkung verstanden), sagt ein Wahrspruch, der es verdient hätte, viel bekannter zu sein, und dann alles vergessen: was dann noch übrig sei, das sei Bildung. Bildung erscheint hier als homöopathische Kur, als Zuversicht auf Wirksamkeit noch in der unendlichen Verdünnung, wenn sich kein einziges Molekül der wirkenden Substanz mehr nachweisen läßt und nichts bleibt als der gläubige Wunsch, dieses möge, obschon selbst bloß noch Spur, eine Spur von sich im Medium, durch das es ging, hinterlassen haben.

Die kulturpolitische Schulmedizin teilte diesen Glauben nicht. Sie verabfolgte Bildung in der Darreichungsform des Auswendigen, am liebsten als zu lernende und dann abgehörte Ballade. Komplette Deutschstunden in der Gymnasialzeit gingen mir noch hin, in dem ein Mitschüler nach dem anderen den Ring des Polykrates aufzusagen hatte. Von Rezitieren konnte keine Rede sein, zu hören war die reine Gedächtnisnot, die festsaß, und darauf die Erleichterung des wieder flottgemachten Weiterratterns, indes die Zischlaute der flüsternden Nothelfer wie Nadeln durch die Luft fuhren. Der Handschuh hatte seinen Auftritt sogar zweimal, in der neunten und in der elften Klasse, denn die Lehrer sprachen sich nicht ab, und folglich wußte der linke Handschuh nicht, was der rechte tat. Es war grauenhaft; und als Erlösung kam die angstgeborene Fehlleistung, die sich in Positur setzte und anhob: »Der Schiller. Von Friedrich von Handschuh!« (Man muß es nachträglich eine kluge Entscheidung des preußischen Königs nennen, seinen einheimischsten Dichter dennoch nicht mehr zu adeln, sonst hätte es künftig in den Deutschstunden fünfmal am Stück geheißen: »John Maynard. Von von Fontane!«) Der zweite Handschuhabhörer war ein Spätaussiedler aus Polen, der es schwer hatte mit uns. »Ich euch kenne!« rief er aus, »Ihr nicht wollt lernen!« So war es.

Aber im Innern dieses Lernens, das so sauer fiel, saß, süß und fest wie ein Nußkern im Brot, ein stellenweises müheloses Zueigenwerden. Im Ring des Polykrates saßen zum Beispiel: »Er stand auf seines Daches Zinnen«; und: »Hier wendet sich der Gast mit Grausen«; und: »Doch einer lebt noch, sie zu rächen«; und: »Noch keinen sah ich glücklich enden, auf den mit immervollen Händen die Götter ihre Gaben streun« − düstere Warnungen zumeist, aber ich liebe sie trotzdem, namentlich die letzten beiden, weil sie mir die Personen, die sie im Munde führten, so überaus deutlich hörbar machen.

Daß einer noch lebe, sie zu rächen, rief mein Vater immer aus, wenn beim Schafkopf, der bei uns daheim jeden Sonntag zwischen Kirche und Mittagessen stattfand, der Punkt erreicht war, wo noch ein Ober oder ein As ausstand, die nun das Spiel entscheiden würden. Seiner unaufmerksamen Familie war es entfallen; nicht aber ihm. Das Behagen an diesem Satz, der so vorhersagbar den ihm zubestimmten Ort finden würde, der Stolz auf die eigenen analytischen Fähigkeiten (er war beruflich Staatsanwalt), die Freude am Spiel mit seiner Familie, wenn sie auch so viel schlechter spielte als er selbst, das alles trat hier zusammen; es war eine Manifestation. Ich erinnere mich gern daran, er lebt mir in diesem Zitat.

Den letzten Spruch hingegen zitierte ebenjener Deutschlehrer, der die Ballade lernen ließ − nicht der berühmte Deutschlehrer, dessen sich der nachmalige Germanist so dankbar entsinnt, weil er ihm das Tor zum Reich der Literatur aufgestoßen habe; sondern ein ausgesprochener Neurastheniker, reizbar, der gegen Ende der Stunde in ein hospitalistisches Bewegungsmuster verfiel, weil er es nicht mehr bis zur nächsten Zigarette aushielt. Er zitierte ihn auf eine merkwürdige Weise als Zitat, er sagte: Früher pflegten die Lehrer dies den übermütigen unter ihren begabten Schülern warnend vorzuhalten, denen sie die eigentlich unverdiente gute Zensur nur widerstrebend erteilt hatten. Was veranlaßte ihn, da er das Zitat offenbar nicht zu unterdrücken vermochte, es auf so indirekte Art anzuführen? Sah er den Anwendungsfall, wo es »saß«, bei uns nicht gegeben? (Denn ein Zitat muß unbedingt »sitzen«.) Oder − und darauf deutete das »Früher« hin, womit er es fast elegisch versah − scheute er vor dem Pathos dieser nur im Dreierpack lieferbaren Verse zurück, als ob er sich mit dem Eingeständnis seiner Neigung zu ihnen eine Blöße gegeben hätte? Jedenfalls trat es so von Anfang an als etwas Vergangenes in meine Gegenwart und gehört mir heute in ein eigentümliches Plusquamperfekt.

 

Es ist ein Maß in den Dingen

»Geflügelte Worte« heißen oder hießen diese Gnadengeschenke an ein Gedächtnis, das sich ausnahmsweise einmal nicht zu plagen brauchte, seit Georg Büchmann ihnen vor rund anderthalb Jahrhunderten diesen Namen gab, ziemlich willkürlich, aber nicht ohne tieferen Grund. Er entstammt dem Urbild alles Geschriebenen und ums Auswendige Werbenden, dem Werk Homers. »Welches geflügelte Wort, o Tochter, entfloh da dem Gehege deiner Zähne?« − so ähnlich, wie Zeus hier Athene anredet, kommt es dutzendemale in Ilias und Odyssee vor. Im geflügelten Wort genießt das Gedächtnis, befreit zur Unwillkürlichkeit, sich selbst; und läßt gern die Anderen an diesem Genuß teilhaben. Wo es gesprochen, gehört, verstanden wird, hat ein kleines Fest statt, kleiner als bei einem gut erzählten Witz, aber vom selben Schlag. Eigentlich ist es schade, daß es heute aus dem Gebrauch gekommen ist.

Einen großen Teil der Kraft, die einmal ihm zugeflossen ist, hat heute die Reklame aufgesaugt, und es bleibt kaum noch jemandem Energie, sich unabsichtlich etwas zu merken, das kein Markenzeichen trägt. Nirgends sonst läßt sich die schrankenlose Unverschämtheit des modernen Kapitalismus so mit Händen greifen wie bei diesem abgefeimten Kidnapping unseres arglosesten mentalen Vermögens. Man muß, um zu begreifen, was geschieht, einem dreijährigen Kind zugehört haben, wie es stundenlang über das Thema »Liebe ist, wenn es Landliebe ist« improvisiert. Beispiele werde ich sonst nicht geben, sie liegen jedem nahe genug, und es liefe, selbst wenn mit dem Stempel der Mißbilligung versehen, wider Willen doch auf ein Product Placement hinaus. Denn so verhält es sich mit dem Gedächtnis: Es ist absolut, und die Vorzeichen nach Plus und Minus kommen hinzu und bedeuten ihm wenig.

Man muß das Verschwinden des Bildungshorizonts, vor dem das geflügelte Wort einmal entstand, nicht beklagen, seiner geistigen Weite, seiner Kraft des Verbindlichen, seiner Tiefe in die Geschichte hinein − es war genügend stupide Plackerei dabei, gewiß auch Hochmut, und am Ende hatte man vielleicht doch nicht mehr in der Hand als die holzige Frucht eines Schillerschen Langgedichts. Es ist ein gesellschaftliches Ritual, das verlorenging − »Gesellschaft« im damaligen Sinn genommen, als man entweder dazugehörte oder nicht −, nicht unähnlich der Sitte, als Besucher Blumen mitzubringen. Einige freuen sich an den Blüten und ihrem Duft, andere ärgert das Mechanische des Vorgangs (und insgeheim vielleicht auch die erforderliche Ausgabe). Wie allen vergangenen Moden haftet auch dem geflügelten Wort heute ein leicht verstaubter Liebreiz an; hier und da möglich wird es wieder, gerade weil es so unmöglich ist. Ein Gespräch, das Zitate schwängern, denke ich mir wie die Atmosphäre eines Salons, wo in den Vasen ein halbes Dutzend mitgebrachter Sträuße steht, ein wenig drückend, aber charmant.

Es kommt bei uns nichts um. Was immer man sonst gegen den heutigen Zustand der Kultur auf dem Herzen haben mag, dies wird man ihr bestätigen müssen. Und so gibt es auch den Büchmann immer noch lieferbar in mehreren Editionen. Aber sein Ort hat sich gewandelt. Er steht heute nicht mehr dort, wo Ewigkeit und Schönheit sich umfaßt, wie der Dichter sagt, sprich an der Schnittstelle, an der das atmende Gedächtnis seinen Austausch mit dem Vorrat des Wissens regelt; wo die großen Werke der Toten den Lebenden ihre Pfänder überlassen, klein genug, um mit einer Hand und einem Satz umspannt zu werden. Der Büchmann selbst ist tief hinab in den Vorrat getaucht, aus dem erst ein Anderer ihm wieder ans Licht helfen müßte, sollte es denn die Mühe lohnen. Regungslos und ungefährdet liegt er da, ein Ziegelstein im geschlossenen Mauerverband des Beliebigen und Vielzuvielen. 81 Zitate von Horaz gibt er immer noch an, deutsch und lateinisch. 81! Ich kenne nur einen einzigen Menschen, der ein einziges Zitat von Horaz sein eigen nennt − so sehr allerdings, daß es ihm eine akustische Physiognomie gibt, einen Studenten älteren Semesters mit so ausgeprägter sächsischer Mundart, daß selbst seine Mitsachsen ihn zuweilen nicht verstehen. Das Zitat lautet »Es ist ein Maß in den Dingen«, »est modus in rebus«, und es paßt immer.

 

Der reine Büchmann

Zwei neue Büchmänner habe ich vor mir liegen. Der eine, ein Taschenbuch Von Knaur, ist etwas dürftig, aber soweit in Ordnung, er begnügt sich im wesentlichen mit einer gekürzten Fassung des Klassikers. Der andere, von Bassermann, gibt sich den Anschein der neuen Überarbeitung. Schon sein Äußeres überzeugt mich nicht. Bei einem Umfang von rund siebenhundert Seiten hat er nicht einmal ein Lesebändchen. Offenbar setzt er kein Vertrauen in seinen Leser, in dessen Geduld und Bereitschaft, dort nach einiger Zeit wieder anzufangen, wo er aufgehört hat. Auch sonst mangelt es ihm an jenen Gesten, mit denen ein Buch sich in die Hand legen und empfehlen sollte. Ein dicker Band ist herausgekommen, aber einer von denen, die schon durch ihren bloßen Anblick verraten, daß etwas mit ihrem spezifischen Gewicht nicht stimmt; daß sie, wenn man sie aufnimmt, zu leicht sein werden. Einen Schutzumschlag besitzt er nicht, dafür einen Einband mit Glanzkaschierung, abwischbar wie eine Klosettkachel. Was immer du vorhast, o Leser, tu es rasch! Mit Händen zu greifen ist der Vorsatz, den alten Büchmann abzustauben, in des Wortes doppelter Bedeutung − also nicht nur den Staub wegzublasen, sondern ihn auch bei dieser Gelegenheit auf halblegale Weise an sich zu bringen, indem man frech behauptet, das jucke ja sowieso keinen.

Leider entspricht das den Tatsachen: Denn der Büchmann ist frei im urheberrechtlichen Sinn und ermutigt so die Halbherzigen, es auch bei gesunkener Nachfrage mit dem Merchandising der Vergangenheit zu versuchen. Damit vergleiche man nun den Büchmann von 1907! Es ist die 23. Auflage, 140. bis 150.Tausend. Das will uns heute gar nicht so viel vorkommen, es bedeutet im knappen halben Jahrhundert seiner Existenz bis dahin pro Jahr rund dreitausend verkaufte Exemplare. Möglicherweise liegen die heutigen Auflagen sogar höher. Aber der alte Büchmann hat ein Gefühl seiner Würde und Maßgeblichkeit, das sich nicht an Zahlen mißt, sondern am Habitus. Reiche ornamentale Goldprägung weist der Einband auf, und rings um den Block der Seiten läuft ein zarter Marmorschnitt. Selbstverständlich führt er ein Lesebändchen, gewirkt aus Rot und Orange. Und er weiß auch, wie man ein solches Werk anhebt: Wenn man ihn aufschlägt, steht auf der ersten Seite rechts der Titel, Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, gesammelt und erläutert von Georg Büchmann. Links aber findet sich ganzseitig sein Porträt. Es ist mit jenem hauchzarten Papier überdeckt, mit dem das ganze 19.Jahrhundert noch lang nach Erfindung der Fotografie seine Ehrfurcht vor jeder Art von Bild bekundet hat, als etwas, das man sich durch Abheben der knisternden Verhüllung erst verdienen muß. Alles Individuelle scheint geradezu vorsätzlich daraus getilgt; man sieht den typischen Frack der Zeit und dazu das gestärkte Vorhemd, einen Vollbart, der den Mund ganz und gar zum Verschwinden bringt (merkwürdig für einen Mann der Aussprüche), und die unvermeidliche Brille; es ist der Gelehrte seiner Zeit auf den fast karikaturhaften Gipfel getrieben. Und doch hat man nicht das Gefühl eines Mangels, so wenig wie bei den Personendarstellungen des Mittelalters.

Wie ein Schlußstein mutet es an, in den der Baumeister nach Vollendung des Gewölbes sein eigenes Porträt eingrub. Er hat seinen Ort gefunden in einer glücklichen Mitte des Persönlichen und des Allgemeinen; in ihm fällt, so wie ein Duden das Wörterbuch und ein Colt das Schießeisen schlechthin bedeutet, ein Name mit der Sache zusammen, die man nicht entbehren kann. Es ist ein Werk: die umfängliche, doch umrissene Gestalt dessen, was ein Mann in seiner Lebenszeit vollbringen kann. Darum darf das Buch sich auch die kleine, aber tiefe Genugtuung gönnen, sich selbst als einen klassischen Fall dessen, was es meint, mit aufzunehmen: Der Büchmann enthält den Büchmann. Und wie die Person zum Begriff wird, so kann der Begriff sich unverhofft wieder in einem Menschen verkörpern. »Sie sind ja der reine Büchmann!« nennt das Buch als die typische Reverenz, die ihm im launigen Gespräch erwiesen wird. Auch die Neuausgabe beläßt diesen Satz und verrät dadurch vielleicht am deutlichsten, wie wenig Gedanken sie sich um ihren Platz in der Gegenwart macht.

 

Ein schöner Rücken kann auch entzücken

Was die Literatur der klassischen Moderne zu diesem Schatz beizutragen hat, fällt schmal und bescheiden aus. Ihre geringe Kraft, geflügelte Worte noch neu zu schaffen, konzentriert sie ganz auf die Buchtitel. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit erscheint gerahmt von Tiere sehen dich an und Krach im Hinterhaus, in der näheren Umgebung haben Hoppla, wir leben (Ernst Toller), Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (Fallada), Als wär’s ein Stück von mir (Zuckmayer) ihr Nest gebaut. Letzteres vermag wohl nur deshalb zu fliegen, weil es seinerseits einem schon ermatteten Vogel des 19. Jahrhunderts die Schwungfedern entleiht, Uhlands Ich hatt’ einen Kameraden. Was soll man davon halten, daß die drei zitatentüchtigsten Titelpräger des 20. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum Bert Brecht, Heinrich Böll und Johannes Mario Simmel heißen, mit sechs, neun und sechs Einträgen respektive? Es ist ein Rundgang durch eine Bibliothek, bei dem kein einziges Buch herausgenommen und geöffnet werden muß; ein schöner Rücken kann auch entzücken.

Ich gäbe übrigens was drum, wenn ich wüßte, wer dem Rücken das zum Erstenmal nachgerühmt hat! Der Büchmann bietet es nicht; und doch hat jeder, der es im Munde führt (was oft geschieht), das deutliche Gefühl, daß es nicht in der namenlosen Volksweisheit wurzelt wie der Meister, der vom Himmel fällt, sondern daß es, ungeachtet seiner poetisch mäßigen Qualität, einen bestimmten Urheber hat. Es ist ein blöder Spruch, aber ein unwiderstehlicher, einer, der vom ersten Augenblick an, da man ihn hört, mit Klauen packt und nichtmehr losläßt; Gelegenheiten gibt es, wo man ihn anzuführen mit einem Kraftaufwand unterlassen muß, als ginge es um ein Gähnen oder Schlimmeres. Er teilt nichts mit, er beweist, da jeder ihn kennt, keine privilegierte Bildung, er hat, da ihn jeder völlig identisch verwendet, nicht den geringsten expressiven Wert − warum also macht sich dieser phraseologische Dämon mit solcher Hartnäckigkeit geltend, sobald eine Person einer anderen die Sicht vertritt, sich der Anblick von bäuchlings gelagerten Sonnenbadern bietet oder überhaupt nur irgendwie die rückwärtige Hälfte des Menschen zur Betrachtung oder Debatte steht? Es ist ein echtes Rätsel: eines des Gedächtnisses.

 

 

Das Gedächtnis will, daß man ihm schmeichle. Darum waren das alte Gedicht, das alte Drama schön. Die neuere Literatur hat dies mit hoher Energie verweigert und dafür einen noch höheren Preis gezahlt. Es mag noch so nötig gewesen sein, daß Metrum, Strophe, Reim über Bord gingen − man sollte es nicht wie einen Sieg feiern, auch wenn das Gedicht durch seine gelungene Ausbootung vielleicht vorerst gerettet ist: sondern die Unabwendbarkeit des Schiffbruchs beklagen. Was für ein Schiff ist da gesunken! Der alte Pakt der Lyrik mit dem Ohr und mit der Erinnerung dahinter ist aufgekündigt; man kann sich, wie bereits Virginia Woolf vor achtzig Jahren festgestellt hat, keine drei Zeilen dieser neuen Gedichte hintereinander merken. Und mehr noch: Mit dem Raub, der am Klang geschieht, wird auch das intellektuelle Verständnis beschädigt; selbst wer aufmerksam zuhört, wird bei einer zeitgenössischen Lyriklesung in vier von fünf Fällen hinterher nicht sagen können, worum es ging. So sind es in den Gedichten der Moderne zwei traurig stumme Einsamkeiten, die des Schreibers und die des Lesers, die sich auf dem oft fast leeren Papier begegnen und aneinander vorüberziehen wie Wanderer im Schnee. Der schöne Rücken, wenn auch sonst nichts, reimt sich und haftet − das allein genügt schon zum Entzücken, wenn es anders nicht mehr erlebt werden kann. Von der Niedrigkeit des Ersatzes und dem Erfolg, den er dennoch hat, schließe man auf die Stärke des Bedürfnisses. Die schöne Lautung ist Einladung und Bedingung, sie ist das Tor zum Gedächtnis, so, wie die Zärtlichkeit zur dauernden Liebe.

 

Operation gelungen − Patient tot

Ich habe mir vorgenommen, bei der Abfassung dieses Textes kein einziges Zitat, außer solchen aus dem Büchmann, nachzuschlagen, sondern mich ganz auf das zu verlassen, was mein eigenes Gedächtnis hergibt. Durch Fahrlässigkeit hoffe ich dem Geist des Phänomens auf der Spur zu bleiben. Dem Gedächtnis inhärieren, bei aller Deutlichkeit, kleine oder auch größere Fehler. Zum Beispiel hätte ich Stein und Bein geschworen, daß der Titel von Falladas Roman lautet Wer einmal aus dem Blechnapf fraß. Meiner Meinung nach gewinnt er bei diesem langvokaligen, dunkeltonigen Präteritum, aus dem sich, wenn man will, Drohung und Bitterkeit heraushören lassen. Diese Art von oft produktiven, in jedem Fall individualisierenden Fehlern gilt, sobald Schriftlichkeit ins Spiel kommt, heute als nicht mehr akzeptabel. Der Autor hat etwas gedacht, der Leser denkt, ohne es zu merken, etwas hinzu − für dieses Spiel gibt es keinen Raum mehr. Genau hat das Zitat zu sein! Darin besteht das spanische Hofzeremoniell der Geisteswissenschaften. Schon im ersten Semester werden Germanisten und Historiker, Philosophen, Anglisten und Soziologen zum sogenannten wissenschaftlichen Arbeiten hingedrillt, was zu zwei Dritteln bedeutet, sich der kniffligen Kunst des richtigen Zitierens hinzugeben, dem Auffinden und hündischen Kopieren der Quellen.

Wenn es ja noch die Juristerei wäre! Aber wozu es gut sein soll, die Einsichten einer Promotion über die Droste aus dem Jahr 1950 so exakt wiederzugeben, als handelte es sich um eine Telefonnummer, das ist nicht zu begreifen. Im allgemeinen wird hier ein bißchen westfälischer Nebel aufs Geratewohl vollauf genügen. Es sollte einer schon ein recht bedeutender Geist sein, um Anspruch erheben zu dürfen, einigermaßen wörtlich angeführt zu werden. Dieses ganze sklavische Zitierwesen stiehlt in den Unibibliotheken der akademischen Jugend täglich Tausende von Arbeitsstunden, die mit Lesen und Nachdenken sinn- und lustvoller verbracht wären; es raubt ihnen den Mut zur Freiheit, es verdirbt sie für alles heitere Gefühl im Umgang mit dem Anderen und Früheren. Dienen soll der Geist lernen! Aller andere Ehrgeiz wirkt deplaziert und kommt höchstens als Kür in Betracht. In jedem Fall langt es zum Magister und oft genug zur Habilitation. So entsteht die erbärmliche Unlesbarkeit der ganzen zwischen Text und Fußnoten gespaltenen wissenschaftlichen Literatur, die das Vergnügen an einem schönen Gebäude gegen die Belästigungen einer immerwährenden Baustelle eingetauscht hat.

Welche Unlust hauchen diese Gebilde aus! Und keinen höheren Zweck scheinen ihre Autoren, Studenten und Koryphäen gleichermaßen, zu kennen, als diese Unlust ungefiltert weiterzuleiten an den, der die Produkte in die Hand nimmt − nehmen muß, denn keiner wird dies tun, für den nicht seinerseits die Pflicht besteht, den »Forschungsstand zur Kenntnis zu nehmen«, wie die sadomasochistische Formel lautet; in der Regel deshalb, weil er seinerseits ein ähnliches Produkt anzufertigen gedenkt, damit wiederum ein Dritter darum nicht herumkomme.

Die Forderungen des wissenschaftlichen Schreibens wären eigentlich eine Trübnis für sich und hätten mit dem Thema nichts zu tun, wenn in ihnen nicht das eigentliche Übel säße: Sie versiegeln die osmotische Membran zwischen Wissen und Gedächtnis. Das Gedächtnis erstickt, das Wissen verliert Bezug und Heimat. Das Lateinische hörte auf, eine lebendige Sprache zu sein, als die Humanisten das Gewohnheitsrecht des althergebrachten Mittellateins nicht mehr anerkennen wollten und die Erneuerung an den hohen Standards der Klassiker suchten. Das gelang ihnen auch, die Qualität der Sprache stieg aufs beeindruckendste; aber so ciceronisch, wie es nun erforderlich wurde, ließ sich ohne Anstrengung in ihr nicht mehr plaudern, und so trat der kleine Kollateralschaden auf, daß sie, ganz auf den Dienstweg verwiesen, darüber starb: Operation gelungen, Patient tot. (Ein schöner und gedankentiefer Satz, viel schöner als der vom Rücken! Wer ihn wohl als erster gesprochen hat? Ein Zyniker oder ein Ahnungsloser? Am liebsten stelle ich mir vor: ein Ahnungsloser, den ein Zyniker belauschte.)

Ähnliches wie von der schönen Leiche Latein läßt sich vom Wissen sagen, an dessen Ritualen der Einzelne nur dann noch teilhaben darf, wenn er es mit Überschärfe reproduziert. Er darf es nur abschreiben; gemerkt haben gilt nicht. Spontane Aneignung und Wiedergabe sind als unwissenschaftlich verpönt. Niemals zwar konnte ein Einzelner sich alles merken − aber vielleicht doch so ungefähr einen bedeutenden Teil davon. Wenn dieses schöne Ungefähre des Landes verwiesen wird, wenn sich keiner mehr einfach so an etwas halb und vage erinnern und darauf in dem, was er äußert, Bezug nehmen darf, wenn er jeden kleinen Brosamen dessen, was von Anderen überkommen ist, auf Letter und Komma an der schriftlichen Quelle aufzusuchen und nachzuweisen hat − dann gibt es niemanden mehr, in dem das Wissen tatsächlich Bewußtsein erlangt. Es fließt aus dem Gelesenen in den Laptop hinüber, in unkontrollierbaren und maßlosen Quantitäten, ohne daß es eine Chance bekäme, dazwischen in einem Kopf zu verweilen und eine Perspektive zu bekommen. Neuere Techniken kommen diesem zwischenstationslosen Übergang von Schrift in Schrift entgegen: die Fotokopie, die das Exzerpt überflüssig macht und damit den körperhaften Weg vom Auge in die Hand, der physiognomischer Ausdruck wurde; der Scanner, das Internet.

Zu den sympathischsten Eigenheiten der antiken Literatur gehört es, daß Zitate dort grundsätzlich als erinnerte erscheinen. Das ist leicht darzutun, denn sie stimmen nie. Der Kommentar zu Senecas Epistulae Morales weist es ihm in jedem Fall nach. Aber Seneca wußte diese ganzen Stellen, wenngleich ungenau, auswendig, während der Philologe die Differenz der Lesarten, die er heute herausstreicht, morgen aus dem Sinn verloren haben wird. Seneca ist der Behälter seiner Kenntnisse; der Kommentator nur die Wasserleitung, durch die es hindurchrauscht, um − ja, wohin eigentlich zu fließen? Nur das Papier hat noch, was es zu haben gibt; manchmal, bei den großen Sonderforschungsbereichen, über viele Jahre hinweg nicht einmal das Papier, sondern nur der Abgrund der Dateien. Mit Menschenzeit läßt er sich füttern, wie der Minotaurus im Gehäus mit dem Fleisch der Athener Jünglinge und Jungfrauen. O daß ihm ein Theseus erstünde! Ein Schwert in der rechten Hand und einen Leitfaden in der linken müßte er haben. Es ist spukhaft. Das ungewußte Wissen äfft seine Beschaffer und Bewahrer durch die Fata Morgana, sie kämen jederzeit sofort heran, und alles wäre insgesamt so gut wie ihr Eigentum. Aber obwohl das für jedes Detail natürlich zutrifft, wird es am großen Ganzen dennoch zur Lüge. Denn es ist einfach so viel, was hier liegt, daß immer nur der kleinste Bruchteil aufgesucht werden kann − und unverzüglich wieder in den Orkus hinabtaucht.

Antike Bücher spiegelten ihren Lesern niemals diese beliebige Benutzbarkeit vor: Dazu gab es von diesen stets handgefertigten Schriftrollen einfach zu wenige, und sie auseinanderzustrecken war ein mühseliges Geschäft, nicht unähnlich dem Tapezieren, das den Einsatz beider Arme erforderte. Mal eben nachschauen ließ sich so gut wie nichts, denn an Stelle des kursorischen Blätterns stand das lineare Abwickeln. Bücher erschlossen sich nur von vorn nach hinten, die Durchstecherei eines Registers hätte nicht funktioniert. So trat jedes Buch und jede Lektüre an den Leser heran mit der Mahnung: Lies mich gut und merk es dir! Wo heute in den wissenschaftlichen Propädeutiken das richtige Zitieren gelehrt wird, dort verwandte die Antike ihre Kräfte an die Ausbildung der Gedächtniskunst. Nur eine abkürzende Praxis gönnte die antike Bildung sich zuweilen, roh, aufwendig, aber verblüffend.

Seneca erwähnt sie (oder war es Petron? Zu ihm würde es eindeutig besser passen). Ein Neureicher kauft sich Sklaven, die jeweils die ganze Odyssee oder die ganze Ilias auswendig kennen; diese Sklaven sind teuer, denn in ihr Programm wurde viel investiert. Der Herr ruft sie nach dem Gelage herbei und läßt sie vor seinen Gästen rezitieren, voll Stolz. Denn, so sagt er, das Gedächtnis des Sklaven ist der Besitz seines Herrn. So sah er aus, der reine Büchmann vor zweitausend Jahren. Solch innige Formen des Outsourcing gibt es heute nicht mehr, und fast möchte es einem leid tun: Nie wird uns ein Buch in dieser Weise, mit derart brutaler Überwältigung des Stoffs gehören, wie diesem Parvenu sein »instrumentum vocale« (so definierte der ältere Cato den Sklaven): sein stimmbegabtes Gerät. Es mahnt daran, wie erschrekkend allein jeder ist mit dem, was ihm erinnerlich bleibt, und was für ein zarte Ding dein Gedächtnis ist.

 

Rumms! Da geht die Pfeife los

Geflügelte Worte sind keine Weisheiten, sondern Gewohnheiten. Es steckt in ihnen, wie in jeder Gewohnheit, viel entlastende Faulheit. Sie sind wie die Ornamente an den Häusern, denen es vor neunzig Jahren anfing an den Kragen zu gehen: Zu bedeuten haben sie eigentlich nichts, aber wenn man sie herabschlägt, erweist es sich im nachhinein, daß die Zierde doch eine Hauptsache war. Dann tritt ein, was das Lied von der Glocke sich nur als Brandruine ausmalen mochte: In den leeren Fensterhöhlen wohnt das Grauen. Beim Anblick eines Ornaments muß man nichts denken, das macht es so angenehm. So auch kann ein geflügeltes Wort ruhig mittelmäßig intelligent bis ausgesprochen dumm sein, ja übermäßige Klugheit schadet ihm eher. »Aus einem kühlen Grunde«, »Alter Freund und Kupferstecher«, »Singe wem Gesang gegeben«, das schleppt auch noch der neue Büchmann mit, obwohl man sich die altertümliche Stimmung von Bonhomie, in der allein solche Nichtse gesprächsweise zu gedeihen vermögen, gar nicht mehr recht vorstellen kann.

Wie gerne sähe ich es zum Beispiel, wenn statt dessen der Satz von Johann Nestroy: »Der Mensch ist das einzige Tier, das ein Wadel hat«, Flügel bekäme. Damit wäre ein dauerndes humoristisches Gegengewicht geschaffen zu allen hochfahrenden Behauptungen von der einzigartigen Stellung des Menschen in der Welt, die ihn bald als das einzige Tier, das spricht, bald als das einzige, das lacht oder weint, aus seiner natürlichen Umwelt heraushebeln wollen. Es hilft nichts, man muß zu viel überlegen dabei, der Witz muß sozusagen zwei Stufen auf einmal nehmen, um kapiert zu werden; der darin enthaltene Gedanke wird es nicht schaffen, so kurrent zu werden, daß er die gesellige Freude des Wiedererkennens erweckt. Ihn in Gesellschaft zu äußern, heißt jeden für sich an die relative Schärfe des eigenen Kopfs zurückzuverweisen; es ist ein asozialer Akt. Abgesehen davon läßt Nestroy, was ihm gehört, niemals ganz los, es schmeckt immer nach Nestroy, und die Ersetzung des österreichischen Wadels durch eine hochdeutsche Wade zerstört leider, ohne daß sich begreifen ließe wie, sofort den ganzen Satz. »Zwei Blinde wollen einander Tabak geben« − das stammt von Jean Paul, und es verlangt dem Anschauungs- wie dem Empfindungsvermögen im Verhältnis zur Kürze des Wortlauts so absurd viel ab, daß es tausendmal von Einzelnen gefunden werden mag und doch nie den Rang des Allgemeinen erlangen wird.

Das geflügelte Wort, als es blühte, war ein Accessoire; es zu zitieren lag auf derselben geschwungenen Schönheitslinie wie das Aufsetzen des Kneifers, das Stopfen der Pfeife oder das Ablesen der Zeitmittels der aus den Tiefen der Tasche erst hervorzusuchenden Taschenuhr. Umständlich hatte es zu sein, aber nicht unbequem; gemütlich, mit einem Wort.

Stets geflügelt wird der Genius dargestellt. In diesem Sinn hat die deutsche Dichtung zwei Genies hervorgebracht, und um es vorwegzunehmen: Goethe ist nicht darunter. Zwar nimmt Goethe im Büchmann insgesamt doch das größte Volumen ein; aber selbst beim Faust I, dem deutschen Werk mit der höchsten Trefferdichte, dieser Orgie des Auswendigen, hat man das Gefühl, daß er gewissermaßen nichts dafür kann, daß ihm vor lauter Größe seine Lieferanteneignung unbewußt bleibt − selbst dort, wo »Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube« und »Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind« einander die Staffel in die Hand geben.

Anders Friedrich Schiller und Wilhelm Busch. Sie unterscheiden sich sehr voneinander; aber beide wissen sie genau, wann sie zum Flug ansetzen, sie plustern kurz, holen Luft und geben dem Publikum zu verstehen: Jetzt kommt’s! Und es kommt: »Die Axt im Haus erspart den Zimmermann«, »Ich bin der letzte meines Stamms«, »Ich hab getan, was ich nicht lassen konnte«, 34 Stichworte allein für Wilhelm Tell noch in der jüngsten Ausgabe, wenngleich zu meinem Bedauern »Auf diese Bank von Stein will ich mich setzen« nicht mehr darunter ist − es war für mich der Inbegriff des Zitierens im Leerlauf, eines Gedächtnisses, das nur noch um sich selbst kreiste und sich auf jedem x-beliebigen Ding niederließ. Schiller verlangte dabei immer noch den kleinen Akt der Zubereitung, wodurch sich der schnaubende Idealist in den von Polypen in der Nase geplagten Schwaben zurückverwandelte, der er von Haus aus war. Wie man eine Weinflasche mittels eines Korkenziehers öffnen muß, bevor man einschenken kann, so mußte man auch Schiller erst leicht ironisch knicken, ehe er mundet; aber das ging nahezu automatisch, und der kleine Handgriff trug zum Behagen bei.

Bei Wilhelm Busch dagegen ist das schmunzelnde Behagen schon vorab eingebaut, er ist in mancher Hinsicht praktischer als Schiller. Er glitscht ins Gedächtnis als die reine Hinterlist. »Enthaltsamkeit ist das Vergnügen / an Sachen, welche wir nicht kriegen« − das ist so wahr, daß der, der es zitierte, hätte abstürzen müssen, wäre er dabei aus dem Schlafwandeln der Pläsierlichkeit erwacht. »Das Gute, dieser Satz steht fest / ist stets das Böse, wasman läßt«. Welch ein Januskopf von einer Maxime! Sie gibt dem Philister, dem sie sich zur gefälligen Benutzung empfiehlt, so sehr recht, daß er darin kenntlich wird. Und wenn einer sich in seinem Sorgensitz zurücklehnt und es heißt: »Ach! spricht er, die größte Freud / ist doch die Zufriedenheit!«, dann wüßte man auch ohne Rückgriff in die Kindheit, die es auswendig kennt, daß hier nur eine einzige Fortsetzung möglich ist: Rumms, da geht die Pfeife los! Max und Moritz haben sie mit Schießpulver gefüllt, das Anzünden aber hämischerweise dem Lehrer Lämpel selbst überlassen.

O, das geflügelte Wort konnte auch produktiv werden! Aber es bekam ihm nicht. Wie jede starke Konvention verlieh es selbst der schwachen Abweichung, da sie vor den Horizont des allgemein Bekannten trat, sogleich Bedeutsamkeit. Karl Kraus baut einen großen Teil seines Werks aus solchen Minimalvariationen, aus wehmütigen Vertiefungen des Abgenutzten, aus Anrufungen Schillers und Goethes, wo man sie nicht vermutet hätte. »Wenn ein Denkmal renoviert wird, kommen unfehlbar die Spinnen und Kellerasseln zum Vorschein und rufen: Denn er war unser!«, gesprochen zu Schillers hundertstem Todestag. Kann man das bis zum heutigen Tag ungeschmälert grassierende Jubiläumswesen besser charakterisieren und verspotten als durch diesen einen Satz? Aber man muß ihn sich selbst entwenden, mit einem Griff, der als sein Kennzeichen die Letztmaligkeit an sich trägt. Den Ersten Weltkrieg packt Kraus wie mit den zwei Backen einer Zange, indem er den Kontrast von August 1914 und November 1918 auf die Formel des Wortes aus der Braut von Messina bringt: »Ein andres Antlitz zeigt, eh sie geschehen, ein anderes die vollbrachte Tat«; er legt dabei Wert auf die leichte aber entscheidende Verlängerung um eine Silbe, die »anderes« gegenüber »andres« aufweist, worin für sein Ohr die ganze Differenz von frischem Draufgängertum und lang währender Reue enthalten ist. Schon bei Schiller wiegt dieses Wort fast zu schwer, um noch fliegen zu können. Kraus aber belastet es noch mehr; er verleiht ihm einen welthistorischen Ernst, der ihm ein für allemal die gute Laune austreibt, welche für die Zitiererei ein so unvergleichlicher Humus ist. Ganz zu eigen macht er es sich, flügelt es aber nicht neu, sondern bannt es in die Gelegenheit fest, zu der er es benötigt; er braucht es auf. Er denkt zuviel dabei und macht damit die Biedermänner kopfscheu, die sich nicht mehr trauen, nach dem vormaligen Gemeinbesitz zu langen. Kraus gehört jener Moderne an, die das Alte, das 19. Jahrhundert, überwindet, indem sie es frißt. Nur dadurch kommt sie zu Kräften − im Fall von Kraus: zur Erinnerlichkeit, die er dem ephemeren Zeitschriftenwerk seiner Fackel abzwingt.

 

Hier steh ich nun, ich armer Tor

Ich bedauere das Entschwinden des geflügelten Worts; aber ich bedaure es nicht zu sehr. Der Punkt, auf dem ich es gern festhielte, ist nicht sein Zenit, sondern sein Abend, in dessen schöne verzögerte Röte die langen und immer längeren Schatten von Busch und Kraus fallen. Aber auf sie folgt unvermeidlich die Nacht. In ihr darf alles schlafen, was einmal Gedächtnis war. Es kriecht unter ins vegetative Wissen. Vor diesem hat die erinnerungsarme Gegenwart einen merkwürdigen Respekt, nichts wirft sie weg, alles hebt sie auf. Es wäre eigentlich ein Zustand, mit dem man sich recht gut arrangieren könnte: Denn was spricht dagegen, im Schlummer Kraft zu sammeln für den nächsten Tag? Was heute als Ballast die wohlgehüteten Regale füllt, das kann ja morgen erwachen; und es ist nicht einmal auszuschließen, daß selbst Horaz noch einmal aus dem Reich der Gespenster zurückkehrt, um verstanden, erinnert, geliebt und zitiert zu werden. »Nachhaltigkeit«, dieses vielbemühte Schlagwort im Umgang mit den natürlichen Ressourcen, könnte bei den geistigen, und mit weit weniger Aufwand, einfach bedeuten, sich von den überkommenen Mengen nicht irremachen zu lassen und es künftigen Zeiten anheimzustellen, woran sie anzuknüpfen, woraus sie ihre Tradition zu schöpfen wünschen. Daß wir es nicht weggeworfen haben, daß es noch da ist, genügt. Denn Tradition ist ja nicht die Totalität der Überbleibsel, das Mobiliar einer Wohnung im Sterbefall, mit dem man sich herumzuschlagen hat; es heißt Vorliebe für dieses oder jenes, mit dem man sich einrichten und leben möchte. Auch mit der Pietät soll man es nicht übertreiben. Sarkophage haben Jahrhunderte als Wassertröge für das Vieh auf der Weide überdauert, und das sicherer als heute, wo sie in den Museen im Zentrum der großen Städte ihren bedenklich exponierten Platz gefunden haben.

Aber die Gegenwart fühlt sich unbehaglich vor der Masse des Gerümpels. Es fehlt ihr die Anmut, mit der auf alten Bildern Ziegenhirten ihre Herden durch die Trümmer der Tempel treiben; sie neigt zu Panik und Kanondebatten. Dabei kann nichts herauskommen als Anmaßung und ein schlechtes Gewissen, sprich die Liste aller Bücher, die zu lesen gewesen wären und es nicht wurden. (So erklärt sich wohl auch die Konzentration der Zitate des 20. Jahrhunderts auf die Titel.) Heuchelei wird zum Modus der Teilhabe am Vielzuvielen.

Da muß man dem geflügelten Wort ein erheblich höheres Maß an Eleganz bescheinigen. »Hier steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor«, das erweist dem Faust die Reverenz, die er verdient, und macht ihn lebendig in der Abkürzung. Gemünzt auf den Sprecher selbst, stimmt es und stimmt zugleich nicht; von Vergessenhaben und Erinnern bezeichnet es die holde Mitte. Es ist nun ein für allemal nichts mit dem »kulturellen Gedächtnis«, als wäre die Kultur ein vielzelliges einhelliges Lebewesen wie ein Schwamm, der das Triefende saugt, unersättlich. Das Gedächtnis gehört niemandem an als dem in Raum und Zeit begrenzten Ich, dieser winzigen einzigen Zelle, da paßt nur soundso viel hinein; und da die Massen, die es überhaupt gibt, so überreich geworden sind, so geht im Verhältnis immer weniger davon in das kleine Gefäß. Daß ein Bestand durch reine physische Beharrung auch für sich selbst soll sorgen können, geht der Gegenwart schwer ein; sie glaubt in ihrer Ängstlichkeit nicht daran. Die Pyramiden standen von neununddreißig ihrer vierzig Jahrhunderte nicht unter Denkmalschutz, sie waren nackt und sind doch geblieben, etwas ramponiert zwar,aber das gehört auch dazu.

Freilich trifft heute im erhöhten Maß zu, daß alles, künstlich oder natürlich, was nicht aus- und nachdrücklich gewahrt wird, sofort vom Untergang bedroht ist. Als Kind war ich in einem Dorf daheim, das bestand aus soundso viel Häusern, Wiesen, Feldern, Auwäldern und einem ausgedehnten Schilfareal. Inzwischen sind Schilf und Wälder unter Naturschutz gestellt, und es haben sich die Neubaugebiete und ein Atomkraftwerk unmittelbar an sie herangeschoben; Felder und Wiesen sind verschlungen. Nichts mehr gibt es hier, was zwischen dem ganz Genutzten und dem ganz Ausgesparten einfach so gelassen ländlich dauerte: Alle Dauer verdankt sich der unablässigen Anstrengung jetzt. Und führt man sich die Städte vor Augen, erschrickt man: soviel Glas! Das braucht nur ein halbes Jahr leer zu stehen, und alles ist im Eimer. Die Bürohäuser, diese Antipyramiden, bieten sich dar wie Seifenblasen, nicht einmal wie sie fertig durch die Luft segeln, sondern wie in der Sekunde, wo sie, noch am Ring hängend, unter dem behutsamen Atem zitternd ihre Gestalt gewinnen. Ein Augenblick des Nachlassens nur, und das Ding fällt zusammen. Und auch was noch von alters da ist, aber ruht, im Boden versenkt, schwebt in Gefahr; wird kein Bodendenkmalpfleger bestallt, nicht in aller Eile eine Notgrabung vom Zaun gebrochen, fressen die Tiefgaragen die verborgenen Schichten ohne Wiederkehr. Fieberhaft springt die Archäologie vor den Baggern her, sie fördert soviel zutage wie nie zuvor; aber sie findet keinen Frieden. So tragen sich heute in alle Überlieferung die hysterischen Züge der Schlaflosigkeit ein.

Man wird sie auch in den jüngsten Diskussionen um die Qualität der deutschen Schulbildung nicht verkennen. Aus dem Namen des Gebäudes, den die zugehörige Untersuchung zufällig führt, schöpft man nicht den Trost, den er bieten könnte, indem dieser Turm seit Jahrhunderten schief steht und niemals stürzt (wenngleich auch auf ihn in den letzten Jahren die Hast der Rettungsversuche eindringt). Aller »Transfer« ist pädagogisches Wunschdenken geblieben: Noch immer, und vielleicht mehr denn je, stellt die Schule eine Zwangsanstalt zur Nudelung des Gedächtnisses dar. Auswendig Gelerntes wird den Schülern abverlangt und schlägt sich in ihren Noten nieder. Und wenn die Leistung hierin der internationalen Vergleichbarkeit zugeführtwerden soll, damit auch die Schule ihre Noten kriegt (denn ohne Noten geht es nicht), dann muß die Abfrage noch schematischer vor sich gehen als gewöhnlich, noch mehr an starr erinnerten Splittern abverlangen. Wie heißt die Nadelwaldformation, die die kühle Zone auf der Nordhalbkugel bedeckt? Diese Frage wurde unlängst meiner dreizehnjährigen Nichte vorgelegt, die an der Pisa-Studie teilnahm. Frohgemut schrieb sie hin: Walhalla; und ließ auch nach erfolgter Korrektur keine Reue erkennen. Es ist ein Wort, würdig, einzuziehen in die Taiga bei Donaustauf.