MERKUR, Nr. 818, Juli 2017

Politik der Form. Autosoziobiografie als Gesellschaftsanalyse

Von Carlos Spoerhase

 

Weshalb Trump, Brexit, Front National und AfD? Derartige Fragen richten sich jüngst auffällig häufig an Autoren wie Didier Eribon, Edouard Louis oder J. D. Vance, die allesamt aus schwierigen Verhältnissen stammen, einen atemberaubenden akademischen Aufstieg erlebt und darüber in autobiogra­fischer Form berichtet haben. Ohne dass es in ihrer Absicht gelegen hätte, haben sie es mit diesen Texten – deren beachtlicher Erfolg schon als Gattungsphänomen bemerkenswert genug wäre – erreicht,1 dass sie im öffentlichen Diskurs nun als Experten für die aktuelle politische Situation wahr­genommen werden.2

Wie ist das zu erklären? Die Autobiografien, oder genauer die Autosoziobiografien, von Eribon und Louis situieren sich im Kontext einer von Pierre Bourdieu konstruier­ten Sozialtheorie.3 Bourdieu hat 2001 selbst einen knappen Text dieser Art vorgelegt. Seine letzte Vorlesung am Collège de France schließt mit einer »auto-socioanalyse«.4 Das Problem der literarischen Form exponiert Bour­dieu dort im ersten Satz, wenn er darauf besteht, dass es sich bei seinem »Selbstversuch« nicht um das Genre der »Autobiografie« handle. Das trifft einen wichtigen Punkt: Denn Bourdieu geht es nicht um die extensive Ent­faltung einer persönlichen Lebensgeschichte, sondern um die Bestimmung der sozialen Voraussetzungen seiner eigenen epistemologisch-methodologischen Haltung. Zentral für diese Bestimmung ist das Konzept des »gespaltenen Habitus« (»habitus clivé«), das Bourdieu bereits 1997 in den Méditations pascaliennes entwickelt und dann in seinen letzten Vorlesungen am Collège de France wieder aufgreift.5

Als extremer sozialer Aufsteiger weise er selbst einen gespaltenen Habitus auf: Er fühle sich weder der Provinz seiner Herkunft am Fuße der Pyrenäen voll zugehörig noch der radikal anderen Ankunfts-welt des Collège de France im akademischen Zentrum Frankreichs. Dies bringe eine spezifische Grundhaltung mit sich: Er könne sich nie einfach als Teilnehmer selbst alltäglicher sozialer Handlungen verstehen, sondern müsse diese immer auch zugleich distanziert beobachten. Der »gespaltene Habitus«, der dem von Alfred Schütz eindringlich beschriebenen Habitus des »Fremden« durchaus ähnelt,6 erbringt für Bourdieu einen fundamentalen Reflexivitätsgewinn, der sich in seiner akademischen Karriere in spezifischen Erkenntnishaltungen und methodischen Perspektiven ausprägt. Die meisten autosoziobiografischen Schriften, die später an Bourdieus vielschichtige Vorgaben anknüpfen, beschränken sich aber nicht auf die bloße soziologische Rekonstruktion, sondern handeln von Subjektivität in einem umfassenden Sinn. Theorie des »Transclasse« Die philosophische Erkundung autosoziobiografischen Schreibens im Dienst einer allgemeinen Theorie des Subjekts hat niemand so umfassend betrieben wie die 1956 geborene französische Philosophin Chantal Jaquet.

In dem philosophischen Essay Les transclasses ou la non-reproduction skizziert sie, ebenfalls ausgehend von Bourdieu, wie das literarische Genre der Autosoziobiografie für eine Philosophie der Subjektivität fruchtbar gemacht werden kann. Auch Jaquet hat einen bemerkenswerten sozialen Aufstieg durchlaufen. In einer armen savoyardischen Familie aufgewachsen, konnte sie die Provinz aufgrund ihres schulischen Erfolgs verlassen und an der ENS de Fontenay Saint-Cloud studieren. Die darauf folgenden intensiven wissenschaftlichen Studien in Paris führten sie schließlich auf eine Professur für Philosophie an der Sorbonne. Diese durchaus persönliche Dimension ihres Themas findet sich in ihrem Essay aber nur beiläufig erwähnt.7

Mit den »Klassenüber-schreitenden « (Transclasses) möchte sie einen blinden Fleck in der Sozio-logie Bourdieus ins Auge fassen: Die Transclasses seien keineswegs bloße Ausnahmeerscheinungen, die eine allgemeine Theorie der Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen nicht berücksichtigen müsste. Es handele sich vielmehr um äußerst aussagekräftige Anomalien, die als Ausgangspunkt für eine generelle Theorie der Subjektivität dienen könnten. Wo Untersuchungen zur sozialen Mobilität sonst Zahlenreihen aufführen und statistische Korridore angeben, bedient Jaquet sich in ihrem philosophisch-soziologischen Essay immer wieder literarischer Texte wie Jack Londons Martin Eden, John Edgar Widemans Brothers and Keepers, Stendhals Le Rouge et le Noire, Annie Ernaux’ La Place oder eben Eribons Retour à Reims. Vor allem fokussiert Jaquet auf das Genre der literarischen Autosoziobiografie. Dabei verfährt sie in zwei Schritten: In einem ersten werden die objektiven Voraussetzungen analysiert, die den gesellschaftlichen Übergang von einer »Klasse« in eine andere »Klasse« ermöglichen: Maßgebliche Faktoren, die auch in soziologischen Studien bereits umfassend diskutiert wurden, sind einer seits Vorbilder und Paten in der Familie (also Eltern, Geschwister, Großeltern) sowie Vorbilder und Mentoren in der Schule (also Lehrer, Mit-schüler, Eltern von Mitschülern); andererseits auch institutionelle Strukturen, die den Aufstieg erleichtern wie zum Beispiel Stipendien und andere staatliche Fördermechanismen.

Im zweiten Schritt wird die subjektive Realität der Transclasses unter-sucht. Diese ist nicht nur geprägt von positiven Gefühlen wie der Verehrung der Vorbilder oder der Liebe der Mentoren. Die soziale Mobilitätserfahrung ist nämlich zumeist leidvoll. Die Transclasses machen die Erfahrung einer doppelten Nichtzugehörigkeit: Ihre Herkunftsklasse verlassend, erreichen sie die angestrebte Ankunftsklasse niemals wirklich. Das Gefühl, immer zwischen den Stühlen zu sitzen, wird als permanente innere Spannung, ja als geradezu existentielle Verspanntheit erlebt. Jaquet zeichnet hier also nicht das Bild eines glücklichen Hybriden, der Widersprüchliches als beleben-de Bereicherung zu empfinden vermag. Ein Transclasse ist für sie meist ein Zerrissener, dem die Vereinigung des Inkompatiblen nicht wirklich gelingen kann – auch weil die unaufhebbare Widersprüchlichkeit seines Selbst eine nicht versiegende Quelle der Scham ist. Zwar ermöglicht ihm dies einen privilegierten Einblick in die faktische Hybridität aller Individualität, überraschenderweise bleibt er selbst jedoch häufig von einer Vorstellung der harmonischen Identität besessen. Jaquets Essay zeigt deutlich, wie stark unsere Konzeptionen von sozialer Mobilität durch mehr oder weniger literarisch vermittelte Imaginationen geprägt sind: von Imaginationen des Transclasse als sozialem Aufsteiger, der ein »homo novus« oder »selfmademan« ist (oder ein »Neureicher«, »Parvenu« und »Emporkömmling«). Hier sind auch mehr oder weniger fiktionale Narrative anzuführen: Geschichten des Aufstiegs »from rags to riches«, vom »Tellerwäscher zum Millionär« oder von der heruntergekommenen Vorstadtgarage zum Weltunternehmen. Es handelt sich dabei nach Jaquet um ideologische Konstrukte einer Gesellschaft, die sich als eine fundamental meritokratische verstehen möchte. Der soziale Aufstieg erscheint vor diesem Hintergrund als eine Frage des blanken Willens: Ist jemand erfolgreich, muss es am Ehrgeiz gelegen haben; wer scheitert, dem hat es daran wohl gefehlt – eine Pseudo-Erklärung. Der Neologismus des »Trans classe « soll den Untersuchungsgegenstand aus dieser Ideologie der Meritokratie und das Analysevokabular von allen wertenden Aspekten befreien.

Daneben tritt das Konzept der »complexion«. Jaquet entwickelt es aus-gehend von Spinozas Begriff des »Ingenium« und schlägt damit eine Alter-native zum »Habitus« Bourdieus vor. Für dessen Soziologie ist das Konzept einer inkorporierten Disposition, auf bestimmte Weise zu denken, zu sprechen, zu urteilen, zu fühlen oder sich zu bewegen, zentral: Es soll erklären, wie das Individuum zur Reproduktion sozialer Strukturen beiträgt. Aus der Perspektive Jaquets ist damit aber eine zu einheitliche, monolithische und geschlossene Konzeption des Subjekts verbunden; diese vermag aufgrund ihrer Rigidität nicht, der Nichtreproduktion (»non-reproduction«) von sozialen Strukturen Rechnung zu tragen. »Complexion« soll dagegen die Veränderlichkeit, Pluralität und Instabilität des Subjekts fassen. Mit dieser Begriffswahl ist sowohl die soziale Pointe der Multidimensionalität des Individuums (das heißt der pluralen Determiniertheit durch Schicht, Bildung, Religion, Eltern, Geschwister, sexuelle Orientierung, politische Ausrichtung) als auch die metaphysische Pointe verbunden, dass das Individuum gar nichts anderes ist als die Vielfältigkeit seiner Verknüpfungen mit der Welt. Personen sind nach Jaquet komplexe Arrangements und konstante Rearrangements einer unüberschaubaren Vielzahl von heterogenen sozialen Beziehungen. Soziale Identitäten fluktuieren permanent. In einer polemischen Passage ihres Essays hebt die Autorin des-halb hervor, dass sie Schwierigkeiten mit gängigen Anerkennungstheorien hat, insofern diese auf die Anerkennung von fixen Identitäten abzielen, mithin auf die Anerkennung einer persönlichen »Eigentlichkeit«.

Der Begriff der »complexion« ziele dagegen weniger auf eine Politik der Identitäten ab als auf ein Denken der sozialen Singularitäten. Bildungserfolge sind für Jaquet immer nur singuläre Ereignisse, die in keiner Weise verallgemeinert und deshalb politisch auch nicht programmatisch werden können. Die Aufstiegsgeschichten, die in ihrem Essay im Vordergrund stehen, sind individuelle Bildungsgeschichten. Immer wieder nutzt sie diese Geschichten, um die Plastizität der Personen in den Vordergrund zu rücken und damit die stets gegebene Potentialität einer sozial vermittelten Arbeit an der Transformation des eigenen Selbst. Zentral ist bei Jaquet aber, dass es sich dabei nicht nur um Geschichten der Liebe, der positiven Affekte, der Identifikation und des Nachahmungsdrangs handelt. Vielmehr sind es auch solche des drastischen Liebesverlusts, der Desaffektion, der Desidentifikation und der Antimimesis. Jaquet entwickelt einen konfliktorientierten Bildungsbegriff, der Bildung als eine Kategorie auch der Abstoßung und Ausstoßung, der Ausgrenzung und Abgrenzung zu fassen erlaubt – ein aggressiver, nicht selten auch autoaggressiver Prozess.

 

 

Diese Aufstiegsgeschichten sind aber auch immer Bildungsgeschichten: Bildung ist etwas, das erzählt werden muss. Bildung ist immer schon romanesk. Das bringt im Bereich der von Jaquet untersuchten literarischen Autosoziobiografien bestimmte Probleme mit sich: das Problem, dass Autobiografien im Gegensatz etwa zu Tagebüchern immer Ex-post-Rationalisierungen implizieren. Das Problem, dass nur bestimmte Individuen der heterogenen Gruppe der Transclasses überhaupt einen autobiografischen Impuls verspüren und ein »désir du recit« entwickeln. Und schließlich das Problem, dass Erzählweisen privilegiert werden, die eine singuläre Figur als Protagonisten haben und nicht etwa eine Generation oder eine Familie. Im Zentrum von Jaquets Essay steht der Transclasse als soziale Singularität. Im Gegensatz zu dem Panorama individueller Ausweglosigkeit, das Bourdieu in seinen späten Schriften wie etwa den dunklen Méditations pas-caliennes entwickelt, wird hier ein weniger düsteres Bild von der individuellen Handlungsmacht des sozialen Subjekts entworfen.

Die gesellschaftliche Situation der Gegenwart lässt demnach durchaus zu, dass der Einzelne sich aus den Mechanismen der sozialen Reproduktion löst. Nur dürfe man diesen Vorgang nicht als rein strategisches Handeln eines den sozialen Aufstieg rational planenden Subjekts verstehen. Entscheidend sei vielmehr das affektive Verhältnis der Transclasses zu ihrer sozialen Umwelt. Wer sich von seiner sozialen Herkunft löse, müsse überhaupt erst den Affekt des Begehrens nach sozialer Bewegung verspürt haben. Die soziale Mobilisierung der Individuen setzt für Jaquet eine tiefgreifende und verschlungene affektive Mobilisierung voraus, die bei jedem Transclasse einzigartig sei.

 

Der Hillbilly als Transclasse

Weshalb also Trump? Wer sich während der Vorwahlen und dann im Anschluss an seine Wahl zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika diese Frage stellte, wurde von einer Vielzahl von Nachrichtenmedien auf das Buch eines Transclasse verwiesen: Hillbilly Elegy, die gut 250 Seiten starke Autobiografie von J. D. Vance, die zuerst im August 2016 und noch einmal im Januar 2017 auf dem ersten Platz der Bestsellerliste der New York Times stand. Auch in Deutschland wurde Vance als jemand vorgestellt, der über ein vertieftes Verständnis der Mentalitätsstrukturen der weißen amerikanischen Unterschicht verfüge; also genau der Bevölkerungsgruppe, die Trump zu seinem unerwarteten Sieg verholfen habe.8

Profilierte Journalisten versprachen sich von dem »amerikanischen Eribon« Aufschlüsse über die aktuelle Politik.9 Anerkannte Wissenschaftler bezogen sich in ihren politischen Analysen auf sein Buch.10 Der Buchumschlag der jüngst erschienenen deutschen Übersetzung verspricht ganz in diesem Sinne, dass Vance »den Wahltriumph eines Donald Trump« zu erklären vermag. Woher aber sollte die Expertise stammen, die man Vance unentwegt zuschreibt? Vance wurde 1984 geboren und ist in Ohio und Kentucky aufgewachsen. Aufgrund der desolaten Situation seiner Eltern wurde er von seinen Großeltern aufgezogen. Nach der High School verpflichtete er sich beim Marine Corps. Im Anschluss besuchte er zunächst das College an der Ohio State University und dann Yale. Der erfolgreiche Abschluss der Yale Law School erlaubte ihm, eine attraktive Stelle bei einem Venture Capitalist im Silicon Valley anzutreten. Vance war Anfang dreißig, als er die Schilderung seines Lebenswegs publizierte.

Dieser Weg führt von einer schwierigen Kindheit und Jugend im Rust Belt zu einem erfüllten Leben in Kalifornien – mit einer erfolgreichen Frau, einer gutdotierten Stelle, einem schönen Haus und zwei großen Hunden, wie der Autor hervorhebt. Die Expertise, über die Vance verfügt, ist keine primär wissenschaftliche, sondern eine persönliche. Gleichwohl lässt sich dem Endnotenapparat seines Buchs entnehmen, dass er sich darum bemüht hat, bei der Darstellung seines Lebenswegs sozialwissenschaftliche Arbeiten zu berücksichtigen: Er ist zwar kein ausgebildeter Sozialwissenschaftler, versucht seine Perspektiven aber durch regionalsoziologische Studien abzusichern. Als Transclasse kann Vance einen Lebensweg vorweisen, der zwei vollkommen voneinander abgekoppelte soziale Welten verbindet. Seine Erkenntnishaltung ist diejenige eines Zeugen, der selbst in der weißen Unterschicht des amerikanischen Rust Belt aufgewachsen ist, die entsprechenden sozialen Verhältnisse also am eigenen Leib erfahren hat und diese Erfahrungen mittels seiner Erzählung an eine soziale Gruppe übermittelt, die all das nicht aus eigener Anschauung kennt. Das Buch zielt einerseits darauf ab, dass die »Leute verstehen sollen, wie sich Aufwärtsmobilität wirklich anfühlt«.11

Andererseits möchte der Autor mit seinen empathischen Schilderungen der Lebenswelt seiner Familie das Leid der weißen ruralen Unterschicht des Rust Belt verständlich machen. Es ist die eingehende Schilderung dieser Lebenswelt, die Hillbilly Elegy zu einem Erfolgsbuch gemacht hat. Ein im amerikanischen politischen Diskurs nunmehr fest etabliertes Erklärungsmodell für die Niederlage der Demokraten bei den Präsidentschaftswahlen lautet nämlich, dass diese der Ignoranz einer politischen Elite geschuldet sei, die das Leid der weißen Unterschicht im Rust Belt und im Mittleren Westen schlichtweg übersehen habe. Die Ge-schichte des ehemaligen »Hillbilly« mit Yale-Abschluss erfährt vor diesem Hintergrund eine hohe publizistische Aufmerksamkeit und öffentliche Wertschätzung, weil sie aufgrund ihrer literarischen Form eine Innenperspektive verspricht: sowohl des einzelnen Aufsteigers als auch all jener Abgehängten, die man durch seinen Bericht überhaupt erst verstehen zu können meint. Vance’ Prosa-Elegie weist bestimmte Merkmale der Autosoziobiografie auf.

An erster Stelle fällt die Kulturalisierung des Beschreibungsgegenstands auf. Der gesellschaftliche Aufstieg des Individuums muss auch hier jene kulturellen Hindernisse überwinden, die Bourdieu in einer Studie La Distinction (1979) umfassend beschrieben hat. In Yale fühlt Vance sich deplatziert, weil er nicht weiß, wie er sich auf Empfängen verhalten, wie er in Restaurants mit dem Besteck umgehen und wie er sich für ein Bewerbungsgespräch anziehen soll. Als Transclasse ist er auf Mentoren, Freunde und Partner angewiesen, die ihn bei der kulturellen Integration unterstützen. Aber nicht nur sein eigener Aufstieg, auch der Abstieg jener Schicht, der er entstammt, wird als ein kulturelles Phänomen charakterisiert. Für Vance ist der Niedergang der weißen Arbeiterschicht im Rust Belt nicht die Folge falscher politischer Programme, negativer makroökonomischer Trends und damit einhergehender Zunahme der sozialen Segregation. Als Hauptursache wird vielmehr eine Kultur der Verantwortungslosigkeit ausgemacht: Für die  eigene desolate Situation werde immer ein anderer (sehr häufig Washington) verantwortlich gemacht. Defätistisch werden die eigenen Entscheidungen als irrelevant angesehen – auf den eigenen Lebens-weg kann man sowieso keinen Einfluss nehmen. Diese Kulturalisierung der Problemlage geht mit einer Reifizierung einher.

Vance schreibt von Verschwörungstheorien, die sich im Unterschichten milieu des Rust Belt verbreiten und den Leuten erlauben, dunkle Kräfte für das eigene Schicksal verantwortlich zu machen. Dass diese Theorien verfangen, soll durch den Hinweis auf eine Mentalität erklärt werden, die bis zu den schottisch-irischen Vorfahren der Hillbillys zurückverfolgt werden könne. Eine derart ahistorische Betrachtungsweise lässt offensichtlich wichtige Rahmenbedingungen für eine solche Mentalitätsbildung außer Acht: Schließlich sind die kursierenden Verschwörungstheorien auch das Produkt einer von konservativen Eliten gesteuerten Medienlandschaft, die auf rurale Mentalitäten seit langem prägend einwirkt. Die Erklärung von Trumps Er-folg dürfte sich deshalb nicht auf ein Verständnis der weißen Unterschicht beschränken, sondern müsste auch die Strategien derjenigen umfassen, die diese für ihre Politik instrumentalisieren.

Diese eingeschränkte Perspektive verleiht der autosoziobiografischen Charakterisierung der weißen Unterschicht des Rust Belt einen antipolitischen Zug: So sympathisch die sturen Hillbillys auch seien – letztlich könne man politisch nicht viel für sie tun. Die öffentlichen amerikanischen Schulen seien auch im Rust Belt gar nicht so schlecht; die Situation der gesundheitlichen Versorgung kein vordringliches Problem; auch müsse dort niemand hungern. Veränderungen sind für Vance also nicht auf bildungspolitischer oder sozialpolitischer Ebene zu bewerkstelligen. Die umfassende Krise des Rust Belt lasse sich vielmehr also nur durch eine von dort ausgehende umfassende moralische Erneuerung lösen. Das Subjekt dieses moralischen Umschwungs kann aus Sicht des Autosoziobiografen aber kein Kollektiv, sondern immer nur das einzelne Individuum sein, das sich als Transclasse aus seiner Herkunftskultur zu lösen vermag. Vance formuliert damit eine Position, die man als mitfühlende libertäre Politik charakterisieren könnte. Veränderungen zum Positiven können sich demnach nur durch ein Verhalten ergeben, das den Durchsetzungswillen des Einzelnen mit Nächstenliebe verbindet.

Als Vance die Hillbilly Elegy publizierte, war er bei Mithril Capital Management angestellt, der Investment-firma des libertär orientierten und der Weltanschauung Ayn Rands anhängenden Milliardärs Peter Thiel (auch Vance schreibt in seinem Buch ebenso beiläufig wie bewundernd, seine Ehefrau hätte durchaus die Heldin in einem Roman von Ayn Rand abgeben können). Aus dieser Perspektive steht nicht kollektives Handeln im Zentrum, sondern das Handeln von Einzelnen, die mit Hilfe ihrer persönlichen Netzwerke gesellschaftlich reüssieren können.

 

Politik der literarischen Form

Woher kommt das große, gegenwärtig in ganz unterschiedlichen Ländern beobachtbare Interesse für eine Gattung, die autobiografisches Erzählen mit einer soziologischen oder soziopolitischen Perspektive verknüpft? Mir fallen drei Gründe ein. Erstens ist der Transclasse der paradigmatische Intellektuelle. Eine Haltung, die die Welt auf Armeslänge hält, scheint Erkenntnischancen zu bergen. Laut Jaquet sind die Transclasses prädestiniert, eine anthropologische Wahrheit zu erkennen: dass das Ich als etwas grundlegend Soziales keine tiefere Substanz hat. Ganz in diesem Sinne hat auch Didier Eribon den »Klassenüberläufer« als jemanden beschrieben, der schon von Haus aus Soziologe ist.12 Die soziale Nichtreproduktion des Transclasse findet dann also idealerweise ihr Telos in einer Intellektualität, die im Rückgriff auf das Instrumentarium der soziologischen Theorie ihren eigenen Werdegang als mühevolle soziale Emanzipationsgeschichte zu erzählen vermag.

Weniger Interesse wird in diesem Zusammenhang für andere Figurationen des sozialen Aufstiegs aufgebracht, die sich nicht im Sinne eines Emanzipations-narrativs deuten lassen: Eine Gegenfigur zum Transclasse als musterhaftem Intellektuellen wäre hier der Arrivist, der gerade kein Distanzierungsheld, sondern vielmehr ein Identifikationsheld sein möchte, dem die Verschmelzung mit seinem Ankunftskontext vollständig gelingt. Zweitens sind die Erzählungen der Transclasses so interessant, weil wir zunehmend das Gefühl haben, dass wir bestimmte Teile der Gesellschaft, in der wir leben, nicht mehr verstehen. Es bedarf also intellektueller Übersetzer, die den uns fremden Teil der Gesellschaft verständlich machen. Diese Übersetzer sollen aber Authentizität und Emanzipation verknüpfen. Sie müssen die schwierigen sozialen Umstände, die der Erklärung des poli tischen Aufstiegs von Donald Trump oder Marine Le Pen dienen sollen, einerseits selbst erlebt haben; andererseits sollen sie als Emanzipierte dieses Erlebte in eine anspruchsvolle Beschreibung überführen können.

Der Transclasse erweist sich damit als Übersetzer des Sozialen. Er figuriert als Experte in einer meist implizit bleibenden Epistemologie des Sozialen, die Herkunft als uneinholbaren Erkenntnisvorteil begreift. Damit sein Verstehen als authentisch gelten kann, muss die Herkunft in dem Übersetzer aber noch weiterwirken: Häufig sind es starke Affekte wie Schmerz oder Wut, die in den Autosoziobiografien dafür bürgen, dass der Transclasse den intimen Bezug zu seiner Herkunftswelt nicht verloren hat. Deren Bewohner sind innerhalb dieses Kommunikationsmodells allerdings nicht Adressat der Übersetzungsleistung: So wie die Hirten in Arkadien keine Idyllen lesen, scheinen die Hillbillys in den Appalachen keine antizipierten Abnehmer von Hillbilly-Elegien zu sein. Drittens verdankt sich unser Interesse an diesen Figuren vielleicht auch einer pessimistischen Grundstimmung: Wir haben das Gefühl, dass die Veränderungen der Gesellschaft momentan nur auf der Ebene der Transclasses stattfinden können, weil ein umfassender Wandel nicht in Aussicht steht. Die Emanzipation des Einzelnen trägt dabei nichts zur Emanzipation der größeren Gesellschaft bei, sondern ist nicht mehr als ein individueller Nachweis der Plastizität des Subjekts und der Potentialitäten seiner sozialen Seinsweise.

Das Abschreiten des spekulativen Dreiecks von Philosophie,  Soziologie und Literatur dient selbst bei Jaquet am Ende eher metaphysischen Lektionen über die Handlungsmacht des Individuums als dem Entwickeln einer neuen politischen Perspektive. Sie schließt deshalb mit der pessimistischen Pointe, dass das große Versprechen der gesellschaftlichen Emanzipation heute nur auf der Ebene des Einzelnen realisiert werden und uns deshalb auch nur in den autosoziobiografischen Berichten Einzelner zugänglich gemacht werden könne. Wie Raymond Williams in einer knappen Reflexion hervorgehoben hat, begünstigt das nämlich eine politische Perspektive, für die das Individuum mit seinen Bedürfnissen und Begierden den theoretischen Fluchtpunkt darstellt.13

Tatsächlich stehen im Zentrum der Autosoziobiografie meist Individuen und nicht mehr oder weniger anonyme soziale Prozesse ohne individuellen Protagonisten. Erzählungen, die ihren Protagonisten aus der armen ländlichen oder kleinstädtischen Provinz in die reichen städtischen Zentren führen, sind zweifellos packender als die abstrakte Darstellung von sozialen »Fahrstuhleffekten«. Zweifelsohne vermögen sie die Problematik der persönlichen Überwindung innergesellschaftlicher Segregation einem größeren Lesepublikum plastischer vor Augen zu führen als viele soziologische Studien. Es besteht aber die Gefahr, dass mit dem Erzählprinzip, die Gesellschaft der Gegenwart aus dem Blickwinkel des individuellen Sozialaufsteigers zu perspektivieren, auch ein politischer Individualismus gestützt wird, der den Blick auf kollektive Problemlagen und Lösungsansätze verstellt. Literari­sche Formen haben manchmal politische Folgeprobleme: Das individuelle Schicksal darf nicht schon deshalb, weil es sich am besten erzählen lässt, zur Leitgröße des politischen Denkens werden.

 


Weitere Beiträge der Reihe Zweite Lesung.

FUSSNOTEN & QUELLENANGABEN

  1. Didier Eribon, Retour à Reims. Paris: Fayard 2009 (Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp 2016); Edouard Louis, En finir avec Eddy Bellegueule. Paris: Seuil 2014 (Das Ende von Eddy. Frankfurt: Fischer 2015); J. D. Vance, Hillbilly Elegy. A Me­moir of a Family and Culture in Crisis. New York: Harper 2016 (Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise. Berlin: Ullstein 2017). Vgl. Dirck Linck, Die Politisierung der Scham. Didier Eribons »Rückkehr nach Reims«. In: Merkur, Nr. 808, September 2016.
  2. Gelegentlich weist Eribon die ihm zugeschriebene Rolle des Experten für aktuelle rechtspopulistische Entwicklungen programmatisch zurück, nimmt sie dann aber dennoch faktisch an. Vgl. Peter Rehberg, Interview mit Didier Eribon in diesem Heft.
  3. Vgl. Edouard Louis (Hrsg.), Pierre Bourdieu. L’insoumission en héritage. Paris: PUF 2013.
  4. Pierre Bourdieu, Science de la science et réflexivité. Cours du Collège de France 2000–2001. Paris: Raisons d’agir 2001 (Ein soziologischer Selbstversuch. Frankfurt: Suhrkamp 2002).
  5. Pierre Bourdieu, Méditations pascaliennes. Paris: Seuil 1997.
  6. Alfred Schütz, Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch (1944). In: Ders., Gesammelte Aufsätze 2. Studien zur soziologischen Theorie. Den Haag: Martinus Nijhoff 1972.
  7. Chantal Jaquet, Les transclasses ou la non-reproduction. Paris: PUF 2014.
  8. Vgl. Andreas Ross, Trump will ihre Stimme sein. Ein Hillbilly erzählt, wie seine Leute den Anschluss an Amerika verloren haben. In: FAZ vom 3. September 2016; Hubert Wetzel, Hillbillies. In: SZ vom 22./23. Oktober 2016.
  9. Vgl. Gustav Seibt, Die Unbeherrschtheit des Herrschers. In: SZ vom 15. November 2016.
  10. Vgl. Herfried Münkler, Bedeutet Trump Krieg? In: FR vom 18. Februar 2017.
  11. »I want people to understand how upward mobility really feels« (Hillbilly Elegy).
  12. Didier Eribon, La voix absente. Philosophie des états généraux. In: Edouard Louis (Hrsg.), Pierre Bourdieu. L’insoumission en héritage. Paris: PUF 2013 – »le transfuge de classe est spontanément sociologue«.
  13. Vgl. Raymond Williams, Desire. In: Neil Belton / Francis Mulhern / Jenny Taylor (Hrsg.), What I Came to Say. London: Radius 1990. Die Reflexionen von Williams, der für das Genre noch keine eigene Gattungsbezeichnung hat, nehmen ihren Aus-gang von der vieldiskutierten Autosoziobiografie der britischen Sozialhistorikerin Carolyn Steedman, Landscape for a Good Woman. A Story of Two Lives. London: Virago 1986.

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