Merkur, Nr 752, Januar 2012

Hegemon wider Willen. Zur Stellung Deutschlands in der Europäischen Union

von Christoph Schönberger

 

Die Nachrichten überstürzen sich. Jeder Monat, jede Woche, bald schon jeder Tag ruft alle Grundfragen der Nachkriegsordnung Europas gleichzeitig auf. Nichts von den mühsam-kunstvollen Konstruktionen, die Westeuropa nach 1945 entwickelt und der wiedervereinigte Kontinent nach 1989 bestätigt und vertieft hat, erscheint in der europäischen Staatsschuldenkrise noch selbstverständlich. Diese grundlegende Verunsicherung trifft die Bundesrepublik besonders, war doch der erstaunliche Wiederaufstieg Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Eingliederung in ein verdichtet integriertes europäisches Staatengefüge untrennbar verknüpft. Zugleich zeigt sich jetzt deutlicher denn je, wie sehr die Bundesrepublik zur Hegemonialmacht Europas geworden ist. Sie muss führen, wenn überhaupt geführt werden soll. Diese unausweichliche Führungsrolle gewährt große Möglichkeiten zu Gestaltung und Einwirkung, geht aber auch mit erheblichen Pflichten und Lasten einher.

Weder die deutsche Politik noch die deutsche Öffentlichkeit sind freilich darauf vorbereitet. Ganz im Gegenteil scheint hierzulande mit dem wachsenden Abstand zur Zeit des Ost-West-Konflikts und der deutschen Teilung die Sensibilität für die prekäre Situation der Bundesrepublik im Herzen Europas rapide abzunehmen. Die neuartige Lage des Landes, das an seinen vielen Grenzen nur noch von anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Bündnispartnern und freundlichen Nachbarn umgeben ist, schlägt sich in einer bemerkenswerten Selbstprovinzialisierung nieder. Dies betrifft nicht allein die Außenpolitik, zumal beim Einsatz von Militär, die man weiterhin gern an die erschöpften Vereinigten Staaten delegiert oder innerhalb Europas Frankreich und Großbritannien überlässt. Es betrifft auch und gerade die Europäische Union, wo die deutsche Führungs- und Gestaltungsaufgabe mit ähnlicher Tatkraft, Phantasie und Leidenschaft wahrgenommen wird wie die Unterstützung der revolutionären Freiheitsbewegungen in der arabischen Welt. Deutschlands politische Eliten und mehr noch seine Öffentlichkeit verhalten sich so, als ob es jetzt gelte, eine unendliche Friedensdividende zu verzehren und sich von den Händeln dieser Welt so weit wie möglich fernzuhalten. Sie tun dies vielleicht umso mehr, als es nicht großer Phantasie bedarf zu erahnen, dass dem Land das – durchaus nicht schlechthin zu verachtende – Glück des Krähwinkels nicht vergönnt sein wird. Im Gegenteil wird zunehmend deutlich, wie sehr es gerade deutscher Staatskunst bedarf, um die Ordnung Europas auch im unruhigen 21. Jahrhundert leidlich stabil zu halten.

 

Die deutsche Hegemonie

Die deutsche Hegemonie in Europa ist kein bequemer Gegenstand. Unsere europäischen Nachbarn weichen dem Thema aus verständlichen Gründen aus – was sie nicht daran hindert, von der Bundesrepublik ebenso selbstverständlich Initiative und Orientierung zu erwarten. Auch die Deutschen sehen dem Problem nicht gern ins Auge. Zu sehr erinnert es an die missglückten Versuche des Deutschen Reiches, Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu dominieren, und die Katastrophe der Hitlerei.[1. Vgl. Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler. Stuttgart: DVA 1995.] Aber es hilft nichts. Der mit Abstand größte, bevölkerungsstärkste und wirtschaftskräftigste Mitgliedstaat der Europäischen Union kann seiner Stellung nicht ausweichen. »Jamais y penser, jamais en parler« ist keine Option. Von der deutschen Hegemonie muss gesprochen werden. Dies zu tun, heißt nicht einer deutschen Dominanz Europas das Wort zu reden. Es heißt zunächst wahrzunehmen, was ist.

Mit Hegemonie ist dabei nicht das diffuse Schlagwort eines antiimperialistischen Diskurses à la Gramsci gemeint. Hegemonie ist vielmehr ein leidlich präziser verfassungsrechtlicher Begriff für ein Phänomen, das nicht selten in föderativen, bündischen Systemen auftritt.[1. Vgl. Heinrich Triepel, Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten. Stuttgart: Kohlhammer 1938.] Immer wieder hat man in der Geschichte die Erfahrung gemacht, dass in föderativen Zusammenschlüssen einzelne Bundesgenossen durch Größe, Macht und Einfluss herausragen und formell wie informell eine besondere Führungsfunktion ausüben können. So stach Athen im zweiten Attischen Seebund der Antike hervor, hatte die Provinz Holland eine besondere Stellung innerhalb der neuzeitlichen Republik der Vereinigten Niederlande und gab es schließlich die Hegemonie Preußens in Deutschland bis hinein in das 20. Jahrhundert.

Die Hegemonie beruht auf einem grundlegenden Spannungsverhältnis. Die Gliedstaaten eines Bundes sind einander zunächst formal gleichgestellt wie die Staaten im allgemeinen Völkerrecht. Luxemburg oder Malta sind Mitgliedstaaten der Europäischen Union ganz so, wie es auch die Bundesrepublik ist. Bedeutende Unterschiede in den Größenverhältnissen der beteiligten Staaten führen aber dazu, dass dieser formale Ausgangspunkt in den Institutionen und deren Praxis zurücktritt. Föderative Gebilde sind immer dann anfällig für Hegemonie, wenn es nicht gelingt, eine von den Gliedstaaten weitgehend autonome Bundesgewalt zu etablieren. So ist etwa in der Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten oder der Schweiz trotz erheblicher Größenunterschiede zwischen den Einzelstaaten und Kantonen das Problem der Hegemonie niemals aufgetreten, weil sich dort auf Bundesebene frühzeitig eine solche relativ eigenständige Gewalt herausbilden konnte. Die Eigengewalt von Präsident und Kongress in Washington verhinderte es beispielsweise, dass der große Bundesstaat New York in den jungen Vereinigten Staaten eine hegemoniale Stellung erlangte.

In der Europäischen Union liegen die Dinge hingegen eher so wie in der älteren deutschen Verfassungsentwicklung. Damals prägten die Einzelstaaten über einen Gesandtenkongress – erst den Frankfurter Bundestag, dann den Berliner Bundesrat – maßgeblich die Bundesgewalt; der Bundesrat des Grundgesetzes erinnert noch von fern an diese Ausgangssituation. Auch die europäische Unionsgewalt hat sich nicht besonders stark verselbständigt; sie bleibt vielmehr über den Ministerrat und den Europäischen Rat eng mit den Regierungen und Bürokratien der Mitgliedstaaten verknüpft. Auf der europäischen Ebene gibt es keine starken, eigenständig legitimierten Akteure. Weder die Kommission noch das Europäische Parlament kommen dafür in Frage, zu technokratisch die eine, zu wenig mit den nationalen politischen Öffentlichkeiten vernetzt das andere. Das populäre Europa-Bashing möchte in Brüssel und vor allem in der Europäischen Kommission ein übermächtiges Regulierungsmonstrum sehen; es äußert sich gern in der schon etwas angejahrten Klage über die kleinteilige Normierung von Gurkengrößen oder Traktorensitzen, wie sie jüngst etwa Hans Magnus Enzensberger nochmals angestimmt hat.[1. Hans Magnus Enzensberger, Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas. Berlin: Suhrkamp 2011.] Dabei wird aber übersehen, wie wenig in Brüssel ohne die Regierungen und Verwaltungen der Mitgliedstaaten geschieht. Die Europäische Union ist immer noch in starkem Umfang ein Klub der Regierungen. Die intergouvernementalen Züge der Union gewinnen in der derzeitigen Staatsschuldenkrise sogar noch dramatisch an Bedeutung hinzu; ein europäischer Krisengipfel nach dem anderen führt das vor Augen.

Gerade diese Situation bietet den eigentlichen Entfaltungsraum für Hegemonie. Denn in den quasidiplomatischen Aushandlungsprozessen der Brüsseler Räte bringt sich das Gewicht des mit Abstand stärksten Mitgliedstaats gleichsam natürlich zur Geltung. Zugleich bleibt diese hegemoniale Stellung im europäischen Alltag meist verdeckt, weil sich die Brüsseler Verhandlungsmaschinerie durch eine hohe Konsensorientierung auszeichnet. Einstimmige Beschlussfindung bleibt häufig das Ziel und nicht selten die Praxis auch in den Fällen, in denen Mehrheitsentscheidungen rechtlich möglich sind.[1. Vgl. Philipp Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus. Eine Studie zum Verhältnis von föderaler Ordnung und parlamentarischer Demokratie in der Europäischen Union. Berlin: Springer 2004, S. 95ff.] Unwillige Mitgliedstaaten werden eingebunden, umgarnt, bezirzt, durch Konzessionen an anderer Stelle immer wieder ins Boot geholt. Es gilt der schon aus dem Bundesstaat Bismarcks bekannte Grundsatz: »nicht überstimmen, sondern sich verständigen«.[1. Anschaulich formuliert in den Memoiren des langjährigen bayerischen Bundesratsbevollmächtigten in der Zeit des deutschen Kaiserreichs: Vgl. Hugo Graf Lerchenfeld-Koefering, Erinnerungen und Denkwürdigkeiten. Berlin: Mittler 1935, S. 194] Hier liegt eine besonders anspruchsvolle Aufgabe für die Hegemonialmacht. Sie muss auf umstrittenen Feldern nicht nur ihr eigenes Interesse definieren, sondern auch die Interessenlagen ihrer Partnerländer gut kennen und erkunden, um konsensfähige Lösungen zu befördern. Hegemonie gelingt nur als dienender Einfluss auf die föderativen Partner, die es immer wieder zu überzeugen und mit denen es Kompromisse zu finden gilt. Sie setzt gerade beim führenden Mitgliedstaat eine bewusste Selbstbändigung voraus. Die Hegemonialmacht kann sich nicht jene Primadonnenhaftigkeit erlauben, die manch kleinerer Mitgliedstaat gerade wegen offenkundiger Unterlegenheit gelegentlich an den Tag legt.

Deutschland ist in seine hegemoniale Position erst langsam hineingewachsen, und in diesem fast unmerklichen Hineingleiten liegt einer der Gründe dafür, warum es diese Rolle bis heute kaum selbst wahrnimmt und reflektiert. In den frühen Jahrzehnten der europäischen Einigung hatten die Dinge noch anders gelegen. Aufgrund der Nachkriegssituation und der deutschen Teilung konnte Frankreich damals mit Erfolg den Anspruch erheben, der Bundesrepublik politisch ebenbürtig und symbolisch-zeremoniell überlegen zu sein. Helmut Kohls bekanntes Wort, die Trikolore sei stets zweimal zu grüßen, war auf diese Ausgangslage gemünzt. Durch den Ost-West-Konflikt und die militärisch-strategische Führungsrolle der Vereinigten Staaten in der gesamten westlichen Welt waren die politischen Gestaltungsräume ohnehin stark eingeschränkt. Wiedervereinigung und Öffnung der Europäischen Union nach Mittel- und Osteuropa haben die alten Gewichte dann langsam, aber doch grundlegend verschoben. Die militärisch-außenpolitischen Sonderinsignien Frankreichs, sein ständiger Sitz im Weltsicherheitsrat und sein Status als Atommacht, sind nicht länger von prägender Bedeutung. War die Bundesrepublik zunächst noch über längere Zeit durch die großen politischen, ökonomischen und mentalen Aufgaben der Wiedervereinigung absorbiert, so ist sie nun unübersehbar der stärkste Mitgliedstaat der Europäischen Union. Zugleich sind die Vereinigten Staaten durch kriegerische Überdehnung stark geschwächt, wenden sich vom europäischen Schauplatz zunehmend ab und konzentrieren ihre schwindenden Kräfte auf andere Weltgegenden. Die Einbindung Deutschlands in die Nato lockert sich angesichts des Wegfalls der russischen Bedrohung gleichfalls. Innerhalb der Europäischen Union nähert sich die Aufgabenverteilung zwischen der Bundesrepublik und Frankreich damit der Situation an, die im Deutschland Bismarcks das Verhältnis Preußens zu Bayern kennzeichnete. Bismarck achtete sorgfältig darauf, Bayern durch symbolische Auszeichnung und bürokratische Abstimmung an der Seite Preußens zu halten. Durch die vorherige Koordination mit Paris lassen sich deutsche Vorstellungen nach wie vor leichter durchsetzen.

 

 

Die deutsche Hegemonie innerhalb der Europäischen Union ist nicht mit einer deutschen Dominanz in Europa gleichzusetzen. Für eine derartige Dominanz ist die Bundesrepublik weiterhin zu schwach. Es ist das altbekannte Dilemma der deutschen Mittellage, dass Deutschland stärker ist als jeder seiner Nachbarn, aber nicht stark genug, um seine Nachbarn insgesamt zu dominieren.[1. Vgl. Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte. Krefeld: Scherpe 1948. Das Dilemma lässt sich für die heutige Bundesrepublik eher als geoökonomisches denn als geopolitisches beschreiben: Vgl. Hans Kundnani, Germany as a Geo-economic Power. In: Washington Quarterly, Summer 2011.] Eine bedachtsam gehandhabte Hegemonie im Rahmen der föderativen Einbindung in die Europäische Union ist die einzig erfolgversprechende Antwort auf dieses Dilemma.

 

Mentale und institutionelle Barrieren kluger Hegemonie

Die Anforderungen, die sich aus der deutschen Hegemonialstellung innerhalb der Europäischen Union ergeben, sind groß; die Bundesrepublik wird ihnen aber nur unzureichend gerecht. Dabei verketten sich mentale und institutionelle Faktoren auf unglückliche Weise. In mentaler Hinsicht sind verschiedene intellektuelle Hinterlassenschaften und Sehnsüchte miteinander verschlungen. Zum Erbe der alten Bundesrepublik gehört es, dass die deutsche Orientierung auf die europäische Integration kaum problematisiert wird. Zu bestimmend war über Jahrzehnte hinweg das Grundmotiv gewesen, auf dem Weg über die europäische Einigung in den Kreis zivilisierter Völker zurückzukehren. Was aber nicht offen zum Thema gemacht, bestritten und verteidigt wird, das kann auch nicht krisenfest verinnerlicht werden. Es ist heute eines der Probleme der europäischen Integration in Deutschland, dass sie allzu lange als selbstverständlich galt. Seit der Wiedervereinigung kommt die Sehnsucht nach vermeintlicher nationalstaatlicher Normalität hinzu. Der latent beleidigte Tonfall, in dem immer wieder einmal davon die Rede ist, die Bundesrepublik solle doch bitteschön ihre Interessen endlich genauso entschieden wahrnehmen wie andere Staaten auch, ist Ausdruck dieser Sehnsucht, auch wenn sich diese weiterhin meist nur in verdruckster Form zu artikulieren wagt.

Beide Traditionsstränge bestärken eine deutsche Introvertiertheit, die keinen realistischen Blick auf die Situation Deutschlands in Europa erlaubt. Wie stark die Stellung der Bundesrepublik innerhalb der Europäischen Union ist, wie sehr sie ihre Interessen gerade im Rahmen dieses Institutionengefüges verfolgen kann, das nimmt die Öffentlichkeit unserer europäischen Nachbarländer sehr viel deutlicher wahr als die deutsche. Zur mentalen Hinterlassenschaft der Bonner wie der Berliner Republik tritt seit den neunziger Jahren noch etwas hinzu, das man die demokratische Sehnsucht nennen könnte. Es ist nichts völlig Neues, dass Länder ohne starke demokratische Tradition besonders von der Demokratie träumen. Und es überrascht angesichts der deutschen Geistesgeschichte auch nicht, dass man die blaue Blume der Demokratie bei uns gern jenseits aller institutionellen Erdenreste sucht. Die europäische Integration trifft diese demokratische Sehnsucht jedoch naturgemäß besonders empfindlich. Das unanschauliche Verhandlungssystem der Brüsseler Räte mit seinem komplexen Interessenausgleich lässt sich an die nationalen politischen Öffentlichkeiten kaum rückbinden, ja bedarf für sein geräuschloses Funktionieren im Alltag geradezu einer gewissen Öffentlichkeitsferne. Dem Europäischen Parlament fehlt, auch weil es dort keinen dramatischen Gegensatz von Regierung und Opposition gibt, weitgehend ebenfalls der Widerhall in der Öffentlichkeit der Mitgliedstaaten.

Die intensiven Rückkopplungsprozesse mit der Bevölkerung, wie sie sich in den westeuropäischen Nachkriegsdemokratien herausgebildet haben, sind auf europäischer Ebene nicht vorstellbar. Man wird dort noch lange mit schwächeren, indirekteren, zudem ästhetisch wenig ansprechenden Formen demokratischer Rückbindung vorliebnehmen müssen. Die immer intensiver formulierten demokratischen Ideale lassen indes den Sinn dafür schwinden, dass die Brüsseler Verhandlungsmaschinerie die heutige Form jenes alteuropäischen diplomatischen Konzerts ist, das immer wieder den friedlichen Ausgleich der europäischen Mächte ermöglicht oder doch erstrebt hat. Dieses Verhandlungsgeflecht erlaubt auch die Einbeziehung der Interessen kleinerer Mitgliedstaaten, die sich in einem lehrbuchmäßigen System des »one man, one vote« einer schonungslosen Dominanz der bevölkerungsreichen Mitgliedstaaten ausgesetzt sähen.[1. So hat das Bundesverfassungsgericht 2009 in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon im Namen demokratischer Gleichheit an der Privilegierung kleinerer Mitgliedstaaten bei der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments grundsätzliche Kritik geübt: BVerfGE 123, 267 (371ff.).] Dass hierin auch eine föderative Rücksichtnahme großer Mitgliedstaaten auf kleinere Partner liegt, wird dort gar nicht erst wahrgenommen. Der gerade in Deutschland gern ertönende Ruf nach der europäischen Demokratie vernachlässigt diese Rücksichtnahme auf kleinere Partnerländer in der Regel.

Die Bundesrepublik ist für die Lasten der europäischen Hegemonie aber nicht nur mental schlecht gerüstet. Auch ihre Institutionen passen zu dieser Aufgabe immer weniger. Die Hegemonialmacht braucht Handlungsspielräume, um die nötigen Konsense zu organisieren. Nach Lage der Dinge muss diese Aufgabe in erster Linie die Bundesregierung wahrnehmen. Die Entwicklung des deutschen politischen Systems wie des deutschen Verfassungsrechts legt ihr hierbei aber zunehmend Steine in den Weg. Die politische Autorität der Bundesregierung erodiert schleichend. In Adenauers Kanzlerdemokratie beruhte sie auf den kompakten und stabilen Bundestagsmehrheiten, die sich in der frühen Bundesrepublik der fünfziger Jahre trotz des Verhältniswahlrechts rasch herausgebildet hatten. Die Entwicklung hin zu einem Vielparteiensystem, in dem der Wähleranteil der früheren »Volksparteien« CDU/CSU und SPD immer stärker abschmilzt, entzieht der Bundesregierung aber mehr und mehr die bisher selbstverständliche parlamentarische Basis. Innerdeutsche Kompromisszwänge mit dem Bundesrat, der ebenfalls immer bunter zusammengesetzt ist, schränken ihre Spielräume noch weiter ein. Zugleich entwickelt der Bundestag, teils aus eigener Initiative oder unter Druck der Öffentlichkeit, teils vom Bundesverfassungsgericht gedrängt und angestoßen, eine Tendenz, die außen- und europapolitischen Gestaltungsräume der Bundesregierung immer weiter förmlich einzuengen und an parlamentarische Mandate rückzubinden.

Das erinnert gelegentlich schon an die Epoche der konstitutionellen Monarchie, die die deutsche Verfassungsgeschichte bis in das 20. Jahrhundert hinein geprägt hat. Damals traten die parlamentarischen Kammern den monarchischen Regierungen häufig mit kleinlicher Ängstlichkeit gegenüber: Die Regierungen waren für sie ein Fremdkörper, den es möglichst engmaschig einzuhegen und zu kontrollieren galt. Das parlamentarische Regierungssystem mit seiner engen Verknüpfung von Parlamentsmehrheit und Regierung hat es gerade wegen dieser Vorgeschichte in der Bundesrepublik nie ganz leicht gehabt, und es hat gerade auch im deutschen Staatsrecht unter dem Grundgesetz immer wieder eine Neigung gegeben, das alte Gegenüber von Parlament und Regierung aus den Zeiten der Monarchie postum im Namen demokratischer Kontrolle zu perfektionieren.

Seit der Wiedervereinigung erfasst diese Tendenz nun zunehmend auch Bereiche wie die Außen- und Europapolitik, in denen man der Bundesregierung zuvor noch wie selbstverständlich bedeutende Gestaltungsräume zugebilligt hatte. Mit wachsendem zeitlichen Abstand von der Epoche des Ost-West-Konflikts nimmt die Bereitschaft ab, die spezifischen Schwierigkeiten des Handelns der Bundesregierung nach außen in Rechnung zu stellen. Zugleich verschärft das Bundesverfassungsgericht die Anforderungen an die parlamentarische Mitwirkung auch aus institutionellem Eigeninteresse. Denn je mehr sich politische Entscheidungen auf die europäische Ebene verlagern, desto weniger unterliegen sie der Kontrolle des Gerichts. Dieses bleibt an den Anwendungsbereich des Grundgesetzes gekettet und agiert deshalb aus der Defensive heraus nationalstaatlich introvertiert.[1. Vgl. Christoph Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe. In: Matthias Jestaedt u.a., Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 60ff.] Die möglichst effektive Wahrnehmung deutscher Interessen auf der europäischen Ebene und die spezifischen Aufgaben und Lasten Deutschlands als europäische Hegemonialmacht geraten hier gar nicht erst in den Blick.

 

Alternativen zur deutschen Hegemonie?

Wenn es aber so schwer geht mit der deutschen Hegemonie, wenn die Bundesrepublik sie kaum verstehen, leisten und ertragen kann, wäre es dann nicht besser, die Europäische Union ohne diese Hegemonie zu organisieren? Mit großer Geste wird hier gern empfohlen, man möge doch den Sprung in einen klar demokratisch legitimierten und strukturierten europäischen Bundesstaat machen. Aber solche Vorschläge sind meist nur phantasielose Reproduktionen der Bundesstaatstheorie des 19. Jahrhunderts. Entscheidend ist nicht der Staatscharakter des Gebildes, sondern seine institutionelle Verfasstheit. Hegemonie ist der Preis einer föderativen Struktur, die den Regierungender Mitgliedstaaten bestimmenden Anteil an der Bundesgewalt ein-räumt, der Preis all jener Brüsseler Räte also, die den Alltag der europäischen Integration prägen. Merkwürdigerweise spielt diese zentrale Ratskonstruktion in der Diskussion über die demokratische Ausgestaltung der Europäischen Union kaum eine Rolle. (Sie wird auch nur nebenbei gestreift in Jürgen Habermas’ jüngstem Essay Zur Verfassung Europas.) Wollte man die Hegemonie beseitigen, so müsste man die europäische Unionsgewalt unter Ablösung von den Regierungen und Verwaltungen der Mitgliedstaaten organisieren, also mit europäischen Institutionen, die völlig eigenständig von den Bürgern der Union legitimiert und getragen würden. Das ist aber nicht einmal innerhalb Deutschlands ganz gelungen, wo in Form des Bundesrates ein ähnlich opakes Ratssystem existiert wie in Brüssel.

Für die Europäische Union mutet eine derartige Ablösung erst recht wie verfassungsrechtliche Science-Fiction an. Gerade zugespitzte Krisensituationen wie die gegenwärtige lassen vielmehr deutlich werden, wie sehr die Union um einen mitgliedstaatlich-gouvernementalen Kern herum gebaut ist. Bei nüchterner Betrachtung wird man sich auch kaum der Erkenntnis verschließen können, dass die existierende Situation föderativer Hegemonie, wenn sie denn klug gehandhabt wird, dem größten Mitgliedstaat ein Maß an Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet wie kein anderes vorstellbares Institutionendesign. Es ist nicht ohne Ironie, dass dieser Zusammenhang gerade in der deutschen Öffentlichkeit so wenig verstanden und gewürdigt wird.

Die Hegemonie in der Europäischen Union fordert von den deutschen Eliten und der deutschen Öffentlichkeit im Grunde etwas, das Deutschlands Lage in der Mitte Europas von ihnen schon immer verlangt hat: den Verzicht auf nationale Introvertiertheit; die aufmerksame Kenntnis, Beobachtung und Beeinflussung der europäischen Nachbarn; die Definition des eigenen Interesses unter Einbeziehung der Interessenlage der Partner; das Voraus- und Mitdenken für Europa insgesamt. In Deutschland hat man sich damit in der Vergangenheit bekanntlich nicht selten schwergetan. Soll die Europäische Union nicht auseinanderbrechen, dann muss die Bundesrepublik diese Aufgabe aber in einem schwierigeren Umfeld weiterhin erfüllen. Auf besondere politisch-emotionale Ressourcen kann sie dabei kaum zurückgreifen, und der europäische Interessenausgleich wird meist nur mit Ach und Krach gelingen. Das Ende der langen europäischen Nachkriegszeit, das erst in unseren Tagen ganz spürbar wird, erzwingt indes ein bewussteres Vorgehen als in früheren Jahrzehnten.[1. Vgl. Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. München: Hanser 2006.] Ein mentales und institutionelles Sich-Einkrümmen, ein selbstbezogenes Verwalten der eigenen Besitzstände, zu dem ein alterndes Land vielleicht neigen mag, kann sich die Bundesrepublik nicht erlauben. Sie muss die Bürde der Hegemonie tragen, auch wenn sie diese schmerzhafter auf ihren Schultern spürt.