Merkur, Nr. 167, Januar 1962

Die Legende von den zwanziger Jahren

von Helmuth Plessner

 

Die zwanziger Jahre haben es zur Zeit sehr gut bei uns. Der Expressionismus steht wieder in hohem Ansehen. Die Drei-Groschen-Oper ist nicht totzukriegen und selbst die Schlager von damals erleben eine Renaissance. Kaum eine wissenschaftliche Disziplin —ich erinnere an die einflußreichen Schulen der Phänomenologie, der neukantischen Tradition und des Wiener Kreises in der Philosophie, an die Gestaltpsychologie und die Psychoanalyse, an Planck, Einstein und die rapide Entwicklung der Physik, an den Einfluß Georges auf Literaturwissenschaft und Geschichtsschreibung — keine künstlerische Disziplin, kein literarisches, bildnerisches, architektonisches, musikalisches Bemühen, das nicht die anderthalb Jahrzehnte zwischen 18 und 33 um ihre Ideenfülle, ihren Wagemut, ihre Ausstrahlungskraft beneidet.

Das ist insofern merkwürdig, als sich in dieser Zeit die katastrophale Entwicklung zum Nationalsozialismus vollzogen hat, für welche die Weimarer Republik in ihrer Rechtsprechung, Finanz- und Wirtschaftspolitik unmittelbar die Verantwortung trägt; mittelbar aber gerade auch das geistige Klima, dem wir die Ideenfülle, ihren Schwung und ihren Extremismus verdanken. Politisch ergibt sich die Anknüpfung an den ersten Versuch einer demokratisch-parlamentarischen Ordnung in Deutschland heute von selbst, eine Anknüpfung allerdings mit eingebauten Sicherungen, die eine abermalige Selbstzerstörung durch innere Kräfte unmöglich machen sollen. Psychologisch jedoch erklärt sich das Anlehnungs- und Orientierungsbedürfnis aus der Generationslagerung heute: geschieden von der fraglichen Epoche durch die Todeszone des Dritten Reiches, steht sie für die über Sechzigjährigen im Glanz ihrer eigenen Jugend und für die Jungen unter Vierzig im Lichte einer Zeit, die sie nur aus Erzählungen kennen. Beide Aspekte wirken im gleichen Sinne einer Übersteigerung und perspektivischen Verkürzung, welche die Fülle des Talents, den Reichtum der noch heute gültigen, ja erst recht wieder gültigen Namen auf ein seltsam begünstigtes Dezennium zusammendrängen und seiner Legende Vorschub leisten.

Begünstigt war es — wenn auch nicht eben glücklich, denn bis 23 dauerte die Inflation und 29 begann die große Krise — durch die plötzliche Entsicherung der Nation, welcher der Rückhalt an einer sie im Ganzen überzeugenden Staatsidee fehlte, genauer gesagt: zu einem Zeitpunkt wieder genommen wurde, in dem er sich gerade zu bilden begonnen hatte. Ohne diesen zu frühen Abbruch einer an sich verspäteten Entwicklung 1914 lassen sich die zwanziger Jahre nicht verstehen.

Denn wie tief die Erschütterung auch war, welche der erste Weltkrieg und sein Ende auslösten, nie hätte sie es vermocht, so viele begabte Kräfte auf den Plan zu rufen, wenn sie nicht schon dagewesen wären. Die Zäsur von 1918 markiert nicht den geistigen Umschwung und Neubeginn, der vielmehr schon eine zwanzigjährige Geschichte hinter sich hatte und ohne den verhältnismäßig rasch erworbenen Wohlstand des späten Industrialismus Deutschlands, seine Arbeiterbewegung und seine neue leisure class nicht zu denken ist. Wie die Hauptmanns und der Friedrichshagener Kreis, Friedrich Naumann und Max Weber, Heinrich und Thomas Mann und Frank Wedekind, die Jugendbewegung, Worpswede, der Darmstädter Rosenhügel und der Werkbund, Rilke und George, Brücke und Blauer Reiter nicht möglich waren ohne die neue Macht des jungen Reiches, seine kulturelle Desorientiertheit, seine gesellschaftlichen Widersprüche, so auch nicht nach 1918 die zornigen jungen Männer des Expressionismus und des Bauhauses, welche den politisch-ästhetischen Protest der Vorkriegsjahre um einen entscheidenden dialektischen Schritt voranbrachten. Ihr Radikalismus hätte jede Revolution begrüßt und doch zu keiner mehr gepaßt, weil er — sehr im Unterschied zum Erneuerungswillen ihrer Väter — die Gegensätze von rechts und links in einem politisch faßbaren und fruchtbaren Sinne, im Sinne von Beharrung und Fortschritt bereits hinter sich gelassen hatte.

Die Wilhelminische Ära: Für einen politischen Radikalismus waren bei aller Kritik an der Politik des neuen Reiches und seinen nouveau-riche-Manieren die Voraussetzungen um die Jahrhundertwende weder bei der Arbeiterschaft noch bei der geistigen Schicht mehr gegeben. Diese fühlte sich in ihrer angestammten Staatsgläubigkeit zu politischer Aktivität um so weniger aufgerufen, als der Einfluß des Parlaments auf die eigentlichen Entscheidungen gering war. In der Generation ihrer Väter und Großväter, die sich für oder gegen die kleindeutsche Lösung hatte entscheiden müssen, war das parteipolitische Interesse noch lebendig gewesen. Das galt auch für die Väter der Sozialdemokratie in der Zeit des Sozialistengesetzes. Nach seiner Aufhebung wuchs die Partei mitsamt ihrer Bürokratie, welche sich, nicht zuletzt durch ihre Ideologie, von der Mitverantwortung ausgeschlossen sah. Dank der sozialen Gesetzgebung, dem Ausbau des Parteiapparates und der günstigen Wirtschaftslage traten die negativen Wirkungen nach außen wie nach innen nur mehr gedämpft in Erscheinung. Der preußische Hegemonialstaat mit seinen Standesprärogativen in Heer und Verwaltung war machtmäßig zu gut verankert, um in den Augen der Opposition mehr als ein Thema platonischer Reformwünsche zu sein. Sein widersprüchliches Zusammengehen mit der rasch in die alte Sozialstruktur vordringenden Industriearbeiterschaft verstärkte die Trennung von kultureller und politischer Gedankenwelt, gestützt auf das Argument der Besserung der sozialen Zustände bei der Industriearbeiterschaft und den steigenden Wohlstand in der bürgerlichen Schicht.

So standen im neuen Reich Staat und bürgerliche Wirtschaftsgesellschaft von vornherein unter verschiedenen Zeichen. Die Gesellschaft bejahte den Nationalstaat als die für den ökonomischen und kulturellen Fortschritt unumgängliche Machtorganisation. Darüber hinaus hatte er für sie nur den gewissermaßen rein demonstrativen Wert einer Verkörperung des deutschen Volkes. Er stand nicht für eine der großen Menschheitsideen wie Freiheit, Zivilisation und Demokratie, er legitimierte sich nicht durch sie, er wollte für sich nichts anderes als den Platz an der Sonne. Die Formel Weltbürgertum und Nationalstaat war elastisch genug, um die Erinnerung an die gescheiterte Revolution von 1848 in ein mildes Licht zu tauchen und den Zustand politischer Wirkungslosigkeit von Dichtern, Literaten und Gelehrten, den das vormärzliche Deutschland als das Kernübel seiner Misere erkannt hatte, wenn nicht direkt zu verewigen, so doch als einen fruchtbaren Antagonismus für kommende glückliche Synthesen hinzustellen.

Bismarck hatte geglaubt, Deutschland nur in den Sattel setzen zu müssen, reiten werde es schon können. Aber er hatte den Einfluß der verstärkten Industrialisierung und des weltwirtschaftlichen Expansionsstrebens in ihrem Gefolge auf die Zunahme politischer Gleichgültigkeit nicht vorausgesehen, wohl auch nicht voraussehen können. Während in Frankreich und England der Industrialisierungsprozeß schon älter war und das jahrhundertealte Staatsfundament nicht mehr antasten konnte, dem bürgerliche Revolution und Aufklärungsgeist ihren Stempel aufgedrückt hatten, lagen die Dinge für das neue Deutschland viel ungünstiger.

Es trat zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt in den Kampf um die Märkte ein und sah seine junge Staatskonstruktion sofort mit dem Gegensatz von Kapital und Arbeit in Konflikt geraten, und zwar in einer Phase ihrer Entwicklung, zu welcher frühsozialistische Aspekte nicht mehr passen wollten. Ich glaube, nicht zu weit zu gehen, wenn ich sage, daß die innere gesellschaftliche Labilität und Traditionslosigkeit des neuen Reiches und die in wenigen Jahrzehnten der Zollvereinspolitik errungene Weiträumigkeit und äußere Macht für den hektischen Charakter unserer industriellen Entwicklung mit entscheidend waren, und nicht Kohle und Erz allein. Der jüngste nationale Industriestaat Europas hatte am wenigsten Hemmung, sich den führenden Mächten des späten 19. Jahrhunderts zu verschreiben, den titanischen Verlockungen der Technik und dem Positivismus in allen Zweigen der Wissenschaft, in seiner naturalistischen wie in seiner historistischen Form.

Im neuen Reich war — komplizierter noch als im Einheitsstaat Italien — eine Gemengelage zwischen alten, traditionsreichen Staaten und Städten entstanden, deren Überlieferung zu ganz verschiedenen Perspektiven gehörte. Ihr Einbau in ein kunstvolles bundesstaatliches System hegemonialer Struktur brachte vielfältige Überschneidungen zuwege, die zur herrschenden preußischen Staatsauffassung in Konkurrenz gebracht waren. Da Bismarcks kleindeutsche Lösung Österreich ausschloß und damit den Reichsgedanken in eine Zwischenregion versetzte, halb Gegenwart, halb Erinnerung, war ihre Wirkung auf das deutsche Nationalbewußtsein ambivalent, zweideutig und für die in keiner Staats- und Standestradition verankerten Schichten verfälschend. Gerade den vom Industrialismus am stärksten betroffenen Unternehmern, Kleinbürgern und Arbeitern, den Emporkömmlingen und Neureichen wie den ins Proletariat absinkenden Massen bot die neue nationalstaatliche Existenz ein in sich gebrochenes Geschichtsbild, dem von vornherein ein ideologischer Zug, ein Element von Unechtheit anhaftete. An ihm entzündete sich die Opposition der Jugend in den achtziger Jahren.

Baustil und Kunstgewerbe dieser letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts sind ein guter Spiegel des bürgerlichen Geschichtsbewußtseins der Nation, weil der unnatürlich rasche materielle Aufstieg unverhältnismäßig große Kreise instand setzte, nach ihrem Geschmack sich neu einzurichten. Wie jeder Neureichtum sich mit Tradition zu verdecken sucht, entstand hier ein Verlegenheitshistorismus, der in dem Verwandtschaftsgefühl zum 16. Jahrhundert insofern nicht einmal fehlgriff, als es in der deutschen Vergangenheit die letzte Epoche einer blühenden bürgerlichen Städtekultur bedeutet. Man merkt der Kraftlosigkeit und Unsicherheit des Butzenscheibenstils seine Ersatzfunktion nur allzu deutlich an. Dieser Verlegenheitshistorismus war in einem noch tieferen Sinne wurmstichig, weil er zugleich mit der politischen Funktionslosigkeit des neuen Bürgertums die völlig neuartige, im eminenten Sinne traditionslose Erwerbsart des Kapitalismus und Industrialismus zu verdecken hatte. Er konnte darum auch gar nicht auf Baukunst und Inneneinrichtung beschränkt sein, sondern war eine Antwort auf das ganze Leben, die das Selbstbewußtsein des Bürgers in romantischen Kategorien festhalten wollte. Weil niemand wußte, wohin er gehörte, suchte er im Bild einer vergangenen Epoche Halt zu gewinnen. Bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts dauerte die Suche nach einer historischen Rechtfertigung des Lebens und demzufolge nach einem Stil in Kunst und Handwerk.

An dieser Stelle sei an zwei Ereignisse des Operntheaters erinnert, welche das historische Lebensgefühl zu Anfang und zu Ende des Hohenzollernreiches reflektieren: Wagners Meistersinger von 1867 und Richard Straußens Rosenkavalier von 1911. In den Meistersingern findet sich das bürgerliche Selbstbewußtsein bestätigt — der Junker Stolzing heiratet die Bürgertochter und unterwirft sich, wenn auch als Revolutionär, dem bürgerlichen Wettbewerb — und die Ansprache von Hans Sachs: Verachtet mir die Meister nicht, sein Appell an die heilige deutsche Kunst gibt ihm die Krönung. Im — österreichischen — Rosenkavalier ist von bürgerlichem Selbstbewußtsein nichts mehr zu merken und die Identifikation mit der letzten Glanzepoche feudaler Reichskultur in das Silberlicht der Erinnerung an das unwiederbringlich Dahingegangene getaucht. Die selbst schon eine versinkende Adelswelt reflektierende Epoche des Rokoko mit der Figur des Emporkömmlings Faninal — seine Tochter heiratet den Aristokraten Octavian — wird zum Spiegel einer bürgerlichen Gesellschaft, welche die Gefährdung ihres ständischen Rückhalts an Monarchie, Adel und Patriziat längst erkannt hat. Die Ariadne dann von 1912 ironisiert bereits mit dem Spiel des Bourgeois gentilhomme von Moliere auf dem Theater und dem Mittel des in Klammern gesetzten Stils die doppelte Reflektion des sich am Vergangenen als vergangen wissenden und genießenden Publikums. (Es sollte nicht schwer sein, Parallelen zum ironisch gelehrten Musiktheater in der Dichtung des anderen großen Wagnerianers, Thomas Mann, zu erkennen.)

Zweifellos gehören Historisierung und Industrialisierung janusgesichtig zusammen — und das läßt sich für alle europäischen Völker belegen —, weil nur der durch den Fortschritt der Industrie bewirkte Traditionsverlust das Vergänglichkeitsgefühl und die rückgewandte Sehnsucht aus der persönlichen Sphäre des individuellen Schmerzes loslöst und den Aspekt der Geschichte als einer ständig wachsenden, ständig versinkenden Welt freigibt. Wird dieser Traditionsverlust durch ein starkes politisches Geschichtsbild, durch tief verwurzelte gesellschaftliche Gepflogenheiten gebremst oder wenigstens verlangsamt, wie das bei den klassischen Nationalstaaten Großbritannien, Holland und Frankreich der Fall war, dann bringt er das nationale Selbstbewußtsein der Leute nicht aus dem Gleichgewicht.

Die Historisierung wird sich in Grenzen halten und die Geschichtsschreibung den Rahmen einer Wissenschaft nicht sprengen. Für Deutschland dagegen lag es anders. Es hat nie über eine eindeutige, für die Nation maßgebliche Tradition, über ein starkes politisches Geschichtsbild verfügt und sich tief in einem solchen verwurzelter gesellschaftlicher Gepflogenheiten erfreuen können. Dieser Mangel, den schon Goethe zu der bekannten Kontrastierung des Deutschen in der Masse und des Einzelnen veranlaßte, ist selber das Werk der deutschen Geschichte und nicht aus einem Zuwenig, sondern aus einem Zuviel, aus dem Wettstreit zu vieler, gegeneinander nicht ausgeglichener Traditionen bzw. Geschichtsbilder entstanden.

Auch in der Gründungsgeschichte des neuen Reiches sind Ansätze zu einer Überwindung dieses Mangels aus Fülle nicht zu erkennen. Das Kaiserreich der Hohenzollern war nicht das Ergebnis einer wirklichen Verschmelzung der deutschen Staaten und Stämme, sondern ein kunstvoller Ausgleichsversuch zwischen preußischer Überlieferung und gesamtdeutschem Anspruch. Die ausschlaggebende Beamtenschaft, das Militär und das einflußreiche ostelbische Junkertum Preußens machten andere geschichtliche Perspektiven geltend als der Reichstag, die süddeutschen Staaten und die ökonomischen städtischen Zentren. Beiden, als den staatstragenden Kräften, stand ein sich sehr rasch bildendes, entwurzeltes Industrieproletariat gegenüber, das seiner wirtschaftlichen Funktion entsprechend völlig traditionslos war.

Ohne Rückhalt an einer übergreifenden Staatsidee neigte jede dieser Schichten zur Verabsolutierung ihrer besonderen Tradition oder Traditionslosigkeit. In dem eigentümlich geöffneten deutschen Kulturbewußtsein vertieften sich diese Aspekte auf die Vergangenheit zu Weltauffassungen von religiös-metaphysischem Charakter. Ein Ausgleich mit dem Katholizismus fehlte. Die westlichen Ideen des aufgeklärten Humanismus blieben auf das an der liberalen Wirtschaft interessierte städtische Bürgertum beschränkt. So behielt der Volksgedanke seine imaginäre Anziehungskraft. Als Volk war man eins. Nur wie sollte diese Einigkeit sich dokumentieren, wenn ihr die politische Realität versagt war? In seinen angestammten Lebensäußerungen war es landschaftlich gebunden. Sie taugten dafür nicht und konnten nur wieder in Vergangenheitsromantik führen. Was die geistigen Schichten wollten, war eher das Gegenteil davon, Zukunftsromantik, Lebensreform für das heraufziehende technische Zeitalter. Vom Leben her und für das Leben verlangten sie eine Erneuerung, geistig und materiell, welche den Anforderungen der industriellen Welt gewachsen war. Stand und Kaste, Eigentumsordnung und Klassengegensatz waren nicht aus den Angeln zu heben. So blieb nur der Weg einer Gesellschaftsreform durch Reform der Kultur und ihres sinnlich faßbaren Ausdrucks in Kunstgewerbe und Architektur, einer Erneuerung des Lebens durch die Reform seiner Formen und Gefäße.

Diese Wendung war durchaus nicht auf Deutschland beschränkt, läßt sogar bezeichnenderweise Ursprünge in England, dem industriell ältesten Lande, erkennen, bei Morris und Ruskin. Aber, sagt Ahlers-Hestermann in seinem Buch Stilwende, „weder die Arbeiten der führenden deutschen Künstler sind in irgendeiner Weise Nachahmung des englischen Vorbildes noch ist es die Erneuerungsbewegung selbst. In England handelt es sich um eine langsame, traditionell gebundene Entwicklung, die gerade zum Stillstand kam, als in Deutschland die mit jeder Tradition und Stilkonvention bewußt brechende Umwälzung einsetzte, zunächst noch vereinzelt, kaum beachtet, von wenigen für wenige, dann mit der Gewalt eines Frühlingssturms . . . “ Und er fährt mit dem Blick auf Frankreich fort: „Das, was als art nouveau bezeichnet wird und ungefähr dem entspricht, was wir Jugendstil nennen, erwuchs zwar letztlich dem gleichen Antrieb, ging aber, besonders in Frankreich, nicht annähernd so tief wie in Deutschland und auch in Österreich. Denn in Frankreich hat es nie die Orgien an Geschmacksverwilderung gegeben, die Künstler zum Widerstand herausforderten; es waren mit Maßgefühl und in handwerklicher Vollendung die alten königlichen Stile jeweils nur ein wenig variiert worden…“

Dagegen vertiefte sich in den deutschen Verhältnissen des ausgehenden 19. Jahrhunderts das Ursprünglichkeitsverlangen im Jugendstil zu einer Architektur, Kunstgewerbe, bildende und sprachliche Kunst revolutionierenden Bewegung, welche die Erneuerung des ganzen Lebens zum Ziel hatte. Mit ihr gleichzeitig, ausdrucksmäßig allerdings von ihr geschieden, zivilisationsfeindlich, naturburschenhaft und gewollt primitiv, begann die Jugendbewegung als Ausbruchsversuch aus der industrialisierten Gesellschaft. Beiden Bewegungen gemeinsam war die Gegnerschaft zur Geschichte, beide wollten sich von ihr befreien und nahmen sentimental vorweg, was in den zwanziger Jahren zentrales Thema der philosophischen Reflexion wurde: Überwindung des Historismus, Destruktion der Geschichte bis in den Boden der Existenz. Aber beide, Jugendstil und Jugendbewegung, haben die Industrie als die formbestimmende Macht des Zeitalters erkannt und versucht, jede auf ihre Weise, die Konsequenz aus dieser Erkenntnis zu ziehen. Die Viktorianische Epoche, die Zeit des deuxème empire und noch der Wilhelminismus in seinen Anfängen lebten mit der Industrie und ihren Kräften als einer Gegenwelt, die es zu zähmen galt und auf deren Einbau in die überkommene Gesellschaftsordnung es letztlich ankam. Mit dieser Vorstellung ist man um die Jahrhundertwende in der jungen Generation jedenfalls fertig. Deshalb löste sich auch das feindliche Zwillingsverhältnis zwischen Industrialismus und Historismus in dem Maße, in welchem die Gesellschaft sich mit der Industrialisierung zu versöhnen begann. Mögen die entsprechenden Markierungen für die anderen europäischen Industrieländer England und Frankreich weniger deutlich sein — mit Belgien steht es übrigens bezeichnenderweise anders, und es ist gerade unter diesem Aspekt kein Zufall, daß es in dieser Zeit Victor Horta, den genialen Architekten in Eisenkonstruktionen, van de Velde, aber auch Maeterlinck hervorgebracht hat —, für Deutschland war die Grenze scharf. Seine Jugend begriff, daß es ihr um mehr gehen mußte als um die Erneuerung von Kunstgewerbe und Architektur. Ihr zeigte sich darin die große Möglichkeit der Wiedereroberung einer harmonischen Kultur. Ahlers-Hestermann: „Man war auf dem Wege, eine ausgesprochen deutsche Form zu finden, die dem internationalen Hotelstil französischer Prägung, dem angepaßten Louis XIV.—XVI., ihren Charakter würdig entgegenstellen konnte.“

Dieser Stil, aus dem Jugendstil konsequent weiterentwickelt, der nach einem Wort von Richard Hamann „wie ein Missionar ein Opfer seiner Mission und von denen erschlagen wurde, die die Früchte seiner Mission geerntet haben“, unter Ausmerzung seines sentimentalen Elements, als Widerspruch zu ihm und als seine Erfüllung, sollte in den zwanziger Jahren als Stil der neuen Sachlichkeit seinen Siegeszug über die Welt antreten.

Die nach Neuformung aus dem Prinzip der Materialechtheit, der funktionellen Formgerechtheit strebenden Kräfte verfolgten ein ethisches, kein ästhetisches Programm mehr. Im Werkbund fanden sich Künstler, Architekten und Politiker der nationalen Erneuerung wie Friedrich Naumann mit Theodor Heuss zusammen. Sie waren beileibe keine Nationalisten alter Prägung. Sie sahen nur endlich die große Möglichkeit, die Unfertigkeiten und Unausgeglichenheiten unseres Lebens, die man nach 1918 unter die Formel des Geistes von Potsdam und Weimar gebracht hat, an den sozialpolitischen Aufgaben der Kultur zu überwinden. Wie der Architekt Künstler und Ingenieur, Organisator und Städtebauer, Landesplaner und gestaltender Volkswirt sein mußte, so sollte die Sozialpolitik sich ihrer unmittelbar kulturschöpferischen Möglichkeiten bewußt werden und die Brücke zwischen den Geistigen und dem Volke bilden. Ob sie tragfähig für den Ausgleich zwischen Kaisertum und Demokratie gewesen wäre, steht allerdings dahin. Eins aber ist sicher, Deutschland war um die Jahrhundertwende im Begriff, von innen her, nicht durch äußeren Zwang, eine europäische Nation zu werden, die ihre überständigen Anachronismen kastenmäßiger Vorurteile und Partikularismen aus eigener Kraft zu überwinden begonnen hatte. Deutsch sein war keine nur historische Kategorie mehr, sie füllte sich mit zukunftsoffener Gegenwart.

In der Werkbundausstellung 1914, unmittelbar vor Kriegsausbruch, schaffte sie sich vor der machtvollen Kulisse des alten Köln zum letzten Mal ihren unvergeßlichen Ausdruck. Ausdruck zweifellos einer Minorität, deren Einfluß auf die politische Willensbildung des Kaiserreichs null war, Ausdruck aber auch einer Opposition, welche die Krankheit des Reichs längst erfaßt hatte, nur nicht über die therapeutischen Mittel verfügte, bevor der furchtbare Verlauf des Krieges und die Niederlage die Unhaltbarkeit des Wilhelminismus an den Tag gebracht hatten. Immerhin, und darin hegt der entscheidende Grund für die zwanziger Jahre (und für das Vakuum nach 1945), es gab einen großen Fonds, einen mächtigen Stau aus der Zeit vor 1914, dessen Energien, in glücklichen Zeiten gespeichert und unter staatlich-gesellschaftlichem Druck gehalten, nun, da der Druck plötzlich gewichen war, mit überraschender Gewalt sich entfalten konnten.

Wesentlich für die Art ihrer Entfaltung war die Halbheit der Revolution, die nach einer kurzen Periode des Schwankens in eine parlamentarische Republik bürgerlicher Prägung mündete, zwar nicht alles beim alten Heß, aber doch eine Mittelstellung zwischen dem östlichen Radikalismus und der westlichen Demokratie bezog und dadurch mit besonderem Nachdruck geistig sich beiden Welten öffnete. Die Doppelmonarchie war gefallen, und ihr deutsches Element — war ihm auch die politische Eingliederung versagt geblieben — inklinierte, nun nicht mehr allein aus antiklerikalen Motiven, zum Reich. Wien, im national freigelegten Horizont zur Randstadt geworden, nicht mehr Metropole und Umschlagplatz eines übernationalen Völkerstaates, trat gegen Berlin an die Peripherie. Berlin, nicht zuletzt durch die Verstärkung der Reichsbehörden nach dem Fortfall der Dynastien in den deutschen Staaten, fiel die Aufgabe zu, Mittelpunkt der Verwaltung und — für das deutsche Sprachgebiet — der geistigen Auseinandersetzung zu werden.

Die Residenzstädte hatten ihre Rolle ausgespielt. Dresden und München, Darmstadt und Weimar konnten ihre modernen Ansätze, Brücke und Blauer Reiter, Rosenhügel und van de Velde gegen die Anziehungskraft Berliner Möglichkeiten nicht mehr weiterentwickeln. Dazu reichte ihre gesellschaftliche Kapazität als bloße Landeshauptstädte ohne das Charisma des Hofes nicht aus. Im Zentrum eines politisch sich umformenden Großstaates, in seiner preußisch-nüchternen, schneidig-frischen Atmosphäre, nobel geprägt, aber nicht belastet von künstlerischer Vergangenheit, konnte sich eben jenes Experimentierfeld bilden, welches der junge, ironisch bittere Radikalismus zu seiner Entfaltung brauchte, ein Spielplatz der Superlative, den ihm die alten, vergangenheitsgesättigten Zentren des Westens, Südens und Südostens nicht zu bieten vermochten. Zu den extremen Temperaturen des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit taugte nur die scharfe, schnoddrige, kesse Geste Berlins, Deutschlands einziger Zitadelle der Aufklärung. Von Anfang an eine Stadt der Fremden, ungefähr so alt wie Amsterdam, sandigem Kolonialboden abgewonnen, ein Werk zur Hauptsache dreier ehrgeiziger, begabter calvinistischer Hohenzollern, frühe Heimstatt für Franzosen, Holländer und Juden, seit den Gründerjahren rücksichtslos und ungebremst durch ein Zuviel an Bodenständigkeit gewachsen, verfügte allein Berlin über die Kraft der Assimilation und die vollendete Vorurteilslosigkeit, die seiner äußeren Größe und den Anforderungen internationaler Weite entsprach.

Hören wir Heinrich Mann (Berlin 1921): „Die große Stadt ist tiefer eingefühlt in die Zeit als die Länder, ist zugleich nachgiebiger und stärker. Trotz ihrer Vielfältigkeit und wenn auch mancher Irrsinn sie beleckt, bleibt sie das stärkste Bollwerk unserer Vernunft. Die große Stadt ist wesentlich vernünftig. Hier sind Millionen Menschen, so viel wie ein mittleres deutsches Land zählt, von der Erde losgemacht und auf sich selbst gestellt. Zu ihnen sieht kein Land mehr hinein, und sie begegnen keinem Bauern. Ihr Acker liegt nicht mehr unter dem Himmel, sie bebauen nur noch den Menschen und ziehen aus ihm, was er irgend trägt. Und diese Welt Gleichlebender liest täglich dasselbe, hat dieselben Schauspiele vor Augen, im Ohr dieselben Laute. Unermüdlich beurteilt einer den andern, beim Vorübergehen im Meer der Straßen, — bis alle einander ähneln in ihren verfeinerten, kritischen und tapferen Gesichtern, bis alle die unverkennbare, besondere Sprache sprechen, die man nirgends im Land spricht: eine überaus durchgebildete Schriftsprache, zugleich höflich und unerbittlich scharf, geschärft an Menschenbeobachtung. Neue Worte entstehen eben hier, die Sprache lebt überwach hier, wie der Mensch. Gebildete Wendungen, Literatur, wie man sagt, finden sich im Alltagsgebrauch selbst der kleinen Leute. Überall blüht die eigentlich menschliche Form, Eindrücke zu überwinden: die Ironie. Deutschland sah früher in Berlin vor allem eine Verstärkung, fast eine Verzerrung seiner eigenen Eigenschaften: Tüchtigkeit und Selbstgefühl. Verdient wurde nie genug und der eigene Wert nie dick genug aufgetragen. Da das ganze Deutschland früher beides übertrieb, sah es sich in Berlin entlarvt und liebte es nicht, trotz Bewunderung. Jetzt liegt alles anders. Ernst und Selbstprüfung haben angefangen. Der Zweifel kam, erworben ward das Bewußtsein der dauernden Gefahr; das Zeitweilige, die mühselige Übereinkunft unseres Daseins und Bestandes ward begriffen. Aber das Zeitweilige und die Übereinkunft des Lebens begriffen zu haben, ist erst wahre Zivilisation. Auf solchem Grunde erst gedeiht das gereinigte Wesen der großen Stadt, ihre eigenste Schönheit.“

Heinrich Mann erkannte 1921 die Chance Berlins, aber in der Beurteilung der „entfernten Reichsteile“ war er zu optimistisch. Sie hätten sich nach dem Fehlschlag des Münchner Hitler-Ludendorff-Putsches vielleicht zu der neuen Rollenverteilung Hauptstadt-Provinz bekehren lassen, wenn nicht schon 1929 die wirtschaftliche Deroute gekommen wäre, welche allen Ressentiments antiurbanen Charakters Auftrieb gab. Kein Zufall, daß München ihr Vorort wurde. Nach dem Räteexperiment Eisners und Tollers, sog. jüdischer Literaten, wie sie die antisemitische und antikommunistische Bilderbuchphantasie sich nicht wirkungsvoller hätte ausdenken können, schoß dort alles zusammen, was gegen Republik und Berlin war: bayrischer Partikularismus, Königstreue, Bodenromantik, Antisemitismus. Diese Gegenkräfte mußten in dem Maße an Stärke gewinnen, in welchem Berlins Anziehungskraft auf die mit der russischen Revolution und der Auflösung der Donaumonarchie verstärkte Zuwanderung aus dem Osten stieg. Auf den eingefahrenen Bahnen des Kulturgefälles von Czernowitz und Posen nach Prag und Wien, Breslau und Berlin ging es, so hatte man den Eindruck, lebhafter zu als in früheren Jahren. Das anpassungsbereite slawisch-jüdische Element wurde in den traditionellen Zwischenstationen seiner Wanderung nach Westen nicht mehr festgehalten, weil nur Berlin die großen Möglichkeiten bot. Hier konnte es die innere Mobilität und Begabungsreserve durch die Jüngsten der Literatur verstärken, auf welche Universität, Theater und Film ebenso angewiesen waren wie in den siebziger, achtziger Jahren die Ältesten der Kaufmannschaft.

Zuwanderer werden von einer Volkswirtschaft nur an den Stellen des geringsten Widerstandes aufgenommen, den das traditionelle Gefüge dem Eindringen fremder Menschen und neuer Ideen entgegensetzt. In der Zeit der jüdischen Emanzipation waren die loci minoris resistentiae für das Deutschland des 19. Jahrhunderts außer in Handel und Presse vor allem in den freien akademischen Berufen des Arztes und des Rechtsanwalts, im Musikleben und im Theater gegeben. Beamtete Positionen in Verwaltung und Rechtsprechung, Schule und Hochschule, das Heer, die an Familientradition gebundene Landwirtschaft sowie die aus dem Handwerk entstandene Industrie, insbesondere Schwerindustrie, waren Juden verschlossen. Mit dem Schwinden der christlichen Selbstauffassung des Staates und dem Wachstum des Kapitalismus, d. h. mit wachsender Liberalisierung von Staat und Gesellschaft, lockerte sich die Front der Exklusivität vor allem an den Stellen geringster Traditionsbindung. Wo lagen sie? Zunächst einmal in den jungen Industrien, nicht zu vergessen auch die neuen Zweige der Kulturindustrie wie Konzert- und Theateragenturen, Filmgeschäft und Rundfunk. Sodann in den jungen bzw. sich verjüngenden, auf ständige Verjüngung angelegten Zweigen wissenschaftlicher Forschung in den Universitäten, einer Forschung, die, angesteckt vom Arbeitsethos der Naturwissenschaft, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf allen Gebieten der Maxime überholender und Neues bringender Leistung zum Durchbruch verholfen hat. Schließlich im Gesamtbereich der literarischen und künstlerischen Produktion, soweit sie sich demselben Sog ins Niegesehene und Niegehörte ausgesetzt sah — und eben diese Neutönerei im Medium der Sprache, der Musik, des Theaters, der bildenden Künste und Architektur ist ein Stilmerkmal der zwanziger Jahre, und zwar aus folgenden Gründen:

Berlin war als Hauptstadt Forum dieses Dezenniums. Was nicht heißen soll, daß alles, was damals sichtbar wurde, auch in Berlin entstand. Das Bauhaus z.B. zog von Weimar nach Dessau. Werfel lebte meist in Wien. Prag war alles andere als tot für die deutsche Sprache, und die russische Experimentierfreudigkeit in der Zeit Lunatscharskis kann man für den Geist der Epoche nicht hoch genug einschätzen. Entscheidend war nur, daß ihm in Berlin ein neuer, ein gieriger Resonanzboden entstanden war, der es zum ersten Male seit hundert Jahren mit Paris, der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, aufnehmen konnte. Noch 1914 hörte ich Edvard Munch sagen: Deutschland und Paul Cassirer haben am meisten für meinen Ruhm getan, aber zufrieden war ich erst, wenn ich in Paris Erfolg hatte. Das schien sich zu ändern. Die jungen Franzosen und Engländer blickten nach Berlin.

Sein naiver Snobismus — sehr verschieden vom gestählten Snobismus der alten englischen Kultur und der Mandarine von Paris — begünstigte und lockerte seine spezifischen Möglichkeiten eines Umschlagplatzes für höchste Ansprüche, eines Marktes mitleidloser Konkurrenz um den Absatz des Unerhörten, auf den die ihrer marktwirtschaftlichen Bedingtheit konforme, ihrer Marktgängigkeit bewußte und bewußt mit ihr spielende desillusionierte Generation des Nachkriegs angewiesen war; angewiesen durch die Rücksicht auf den Erfolg bei einem anonymen Publikum und durch die Rücksicht auf die von der Sache selbst geforderte innere Zeitgemäßheit.

Die reflexive Wendung in der gesamten künstlerischen Produktion jener Tage, ablesbar an einer Entschlossenheit zur Totalrevision der Darstellungsmittel, sprachlich, optisch, akustisch — angelegt in den Ismen der Vorkriegszeit, nun aber methodisch fortentwickelt —, bedeutete ein Sich-selber-in-die-Klammer-Setzen des Künstlers und seines Produkts. Das für die Fortführer des revolutionären Werkes vor dem Krieg in gewandelter Welt einzig noch übriggebliebene Verhältnis der Ironie zu einer in sich brüchigen, aber nicht niedergebrochenen Gesellschaft manifestierte sich in dem Zug zum Experiment und zur rationalen Kontrolle der bisher stillschweigend mitgeschleppten Voraussetzungen literarischen, darstellerischen, architektonischen, musikalischen Tuns. Schönberg, Brecht, Klee, Musil, Gropius markieren diesen aus dem ironischen Abstand neu gewonnenen Ernst, der die spätromantische Formkultur der ethisch-ästhetischen Revolution um 1900 in sich aufgehoben und überwunden hat.

Dieser Ernst war aus dem Feuer der Enttäuschung, der nationalen, der menschlichen Erniedrigung, der Verzweiflung und der endgültigen Entzauberung geboren, aus Verwundung und Revolte, nun nicht mehr des Künstlers allein, sondern des Menschen schlechthin. Die halbe Revolution von 1918 vollendete sich, da die Gesellschaft von einer Revolution zwar getroffen, aber nicht gestürzt war, in der Welt der Vorstellung und der Einbildungskraft. So konnte die neue Hauptstadt zehn Jahre nach dem Münchner Putsch von der Gegenrevolution überrannt werden, denn diese verfügte über die Macht des Hasses, den Willen und das Instrument der Gewalt.

Das Fascinosum der zwanziger Jahre, verdichtet in der Legende von ihrer einzigartigen Produktivität, ihrer unvergleichlichen Fülle an Talent und Wagemut, erklärt sich zu einem Teil aus der perspektivischen Verklärung, in der eine versunkene, jäh abgebrochene Zeit den Alten und den Jungen gerade heute erscheinen muß. Aber diese Wirkung des zeitlichen Abstandes erklärt nicht alles. Setzt man sie in die Klammer, kommt die geschichtliche Wahrheit zum Vorschein. Sie gibt sich als die einmalige Situation zu erkennen, deren auffallende geistige Dichte, deren ungewöhnliche innere Spannung aus dem Zusammentreffen verschiedener Faktoren resultierte. Da war das große menschliche Reservoir, dessen kulturellen Kräften in einer langen Friedenszeit wirtschaftlichen Aufstiegs, in einer Welt gefestigter Vorurteile und schwer zu erschütternder Maßstäbe genügend Druck, aber auch genügend Muße zuteil geworden war. Ruhe, materielle, staatliche, rechtliche Sicherheit, ungebrochene Konventionen der herrschenden Schichten hatten in den freien Geistern, die ihrer Zeit voraus waren, jene Kraft gespeichert, aus welcher die unverhoffte revolutionäre Nachkriegssituation 1919 sich ihre Energien holen konnte. Ohne den verhältnismäßig langen ungestörten Konsolidierungsprozeß einer zukunftsgewissen geistigen Schicht vor 1914 hätte es den Stau nicht geben können, der nach dem plötzlichen Fortfall staatlichgesellschaftlichen Drucks im Elan der zwanziger Jahre sichtbar wurde. Ohne den Übergang zur republikanischen Staatsform wiederum nicht die Chance einer Hauptstadt, eines Mittelpunktes für die entbundenen Energien, nicht die Chance einer dem deutschen Staat bis dahin versagten repräsentativen nationalen Urbanität.

Diese 1918 uns durch einen verlorenen Krieg gewonnene Chance haben wir seit 1933 wieder verspielt. Seit 1945 ein Volk ohne Hauptstadt, beginnen wir die verlorenen Möglichkeiten der zwanziger Jahre zu begreifen. Darin liegt ihre Aktualität. Der Stolz auf das, was wir einmal konnten, hat weniger mit einem verletzten Nationalgefühl zu tun als mit der allzu berechtigten Furcht, den Sinn für Maßstäbe zu verlieren und einer Provinzialisierung zu verfallen, deren Gefahren uns unsere Geschichte nur zu deutlich vor Augen stellt.[1. Auf zwei inzwischen erschienene Arbeiten sei besonders verwiesen: W. Conze, Deutschlands politische Sonderstellung in den zwanziger Jahren (in: Die Zeit ohne Eigenschaften, Stuttgart 1961) und Th. Schieder, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Köln-Opladen]