Merkur Nr. 546/547, September 1994
Über moralische Souveränität, Erinnerung und Nation
von Helmut Dubiel
Wenn wir in wenigen Jahren die Akte über dieses Jahrhundert schließen, dann wird aller Voraussicht nach ein sehr ambivalentes Gefühl unser rückblickendes Urteil bestimmen. Da ist vor allem das unstillbare Entsetzen über totalitäre politische Ordnungen, in deren Namen unzählige Menschen geschunden und ermordet wurden. Aber da ist auch die vorsichtige Hoffnung auf die Ausdehnung und Festigung von demokratischen Ordnungen, von Ordnungen, in denen Bürger sich als Gleiche wechselseitig anerkennen. Beides, dieser äußerste Schrecken wie diese schwache Hoffnung, entspringt der Erfahrung eines Jahrhunderts, das unaufhaltsam modern darin geworden ist, daß keine Transzendenz und Tradition der Politik mehr ihre Grenzen vorzeichnen.
Daß diese politische Ambivalenz der Moderne im gegenwärtigen Deutschland in besonderer Schärfe empfunden wird, ist nicht selbstverständlich. In der unmittelbaren Nachkriegszeit standen die totalitäre Gewaltherrschaft und die Demokratie als historische Ereignisse im Bewußtsein der Deutschen unverbunden nebeneinander. Erst im Verlauf der weiteren Geschichte der Bundesrepublik traten die öffentliche Erinnerung des nationalsozialistischen Terrors und die allmähliche Demokratisierung der Gesellschaft in ein Verhältnis zueinander. Einige Aspekte dieses widersprüchlichen, konfliktreichen und historisch offenen Verhältnisses werden im folgenden beschrieben.
Moralische Souveränität
Im Winter 1959/60, ein Jahrzehnt nach Gründung der Bundesrepublik, kommt es in Köln, Bonn, München und Frankfurt zu einer Welle von Hakenkreuzschmierereien und zu Schändungen jüdischer Friedhöfe. Diese Häufung antisemitischer Vorfälle erregt nicht nur die Aufmerksamkeit des Auslands, sie führt auch innerhalb der Bundesrepublik zu einer grundsätzlichen Debatte über die politisch-kulturelle Festigkeit der neuen Demokratie. Am 18. Februar 1960 gibt die Bundesregierung eine Erklärung ab. Im Anschluß an diese von Innenminister Schröder vorgetragene Erklärung debattiert das Parlament über mögliche Zusammenhänge zwischen der demokratischen Reife der Deutschen und ihren Schwierigkeiten, mit einer schuldbelasteten Vergangenheit umzugehen. Es war nicht die erste Debatte dieser Art im Bundestag, und zahllose andere werden ihr folgen. Aber in nur wenigen wurden die kontroversen Argumente, die sich im übrigen in vier Jahrzehnten kaum gewandelt haben, derartig prägnant zugespitzt.
Der Innenminister kommt nach einer Dokumentation der Vorfälle rasch zu seiner Diagnose und zu den Ansätzen einer daraus folgenden Therapie. Sofern er überhaupt politische Ursachen für diese Vorfälle zu erkennen glaubt, sieht er sie im »Fehlen eines allgemeingültigen deutschen Geschichtsbildes«, eines »allgemeinen verbindlichen pädagogischen Leitbilds« und einer »angesichts der scheinbaren ideologischen Überlegenheit des Ostens« vielleicht nötigen »Gegenideologie«.
Das von Schröder angesprochene Desiderat einer weltanschaulichen Halt gebenden »Gegenideologie« prägt auch seinen Therapievorschlag. Letztlich lokalisiert er die Ursache für die Vorfälle nicht etwa in der Fortdauer eines latenten Antisemitismus, sondern in der historisch-moralischen »Unausgeglichenheit« im deutschen Bewußtsein, die durch den ungeheuerlichen Vorgang der fabrikmäßigen Vernichtung der europäischen Juden entstanden ist: »Vom 30. Januar 1933 trennen uns nunmehr 27 Jahre. Vom Zeitpunkt des Zusammenbruchs beinahe 15 Jahre. 15 Jahre, das sind bereits drei Jahre mehr, als das ganze sogenannte tausendjährige Reich gedauert hat. Es ist, wie mir scheint, an der Zeit, daß wir nun endlich ein ausgeglicheneres Verhältnis zu unserer Vergangenheit gewinnen.« Das Ziel, dessentwegen die Deutschen ihr Verhältnis zu ihrer nationalsozialistischen Erblast in eine »ausgeglichenere« Form bringen sollen, ist das der Stabilität der neuen Demokratie. Der Abgeordnete Kurt Georg Kiesinger hatte schon sechs Jahre zuvor das später dann im Parlament immer wieder zitierte Primat der »innerdeutschen Integration« formuliert. Dieses Programm einer Aussöhnung der Deutschen mit sich selber implizierte eine Zurückhaltung in der öffentlichen Kritik an den zahlreichen nationalsozialistisch belasteten Bürgern und auch eine demonstrative Zurückhaltung im öffentlichen Lob der Gegner und Opfer des Nationalsozialismus. An diese Argumentationsfigur knüpft der Innenminister an, wenn er sagt: »Wir brauchen Versöhnung und Toleranz nicht nur in unserem Verhältnis mit unseren jüdischen Mitbürgern, sondern innerhalb des gesamten Volkes.«
Der Sprecher der SPD, Dr. Carlo Schmid aus Tübingen, entwickelt in seiner Gegenrede eine direkt entgegengesetzte Position. Er glaubt nicht, daß die westdeutsche Demokratie an Stabilität gewänne, wenn die öffentliche Diskussion über den Nationalsozialismus eingeschränkt würde. Er rechnet die im Parlament unstrittige Labilität der westdeutschen Demokratie eben der unterbliebenen fundamentalen Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich zu. Freilich wird in seiner Definition von Demokratie deutlich, daß er andere Maßstäbe für ihre Stabilität anlegt. Er bemißt sie an dem Grundsatz der ungeteilten Gewährung von Grundrechten für alle Bürger. Und es ist eben dieses Prinzip, das Carlo Schmid durch die antisemitischen Vorfälle gefährdet sieht: »Demokratie heißt … jenseits aller Fragen nach der besten Technik der Willensbildung im Staate davon überzeugt sein, daß jedem Bewohner unseres Landes das gleiche Recht auf Achtung und Würde zusteht wie jedem anderen und daß diese Würde nur gewahrt ist, wenn ihm unverzichtbare Werte nicht nur formal zustehen, sondern auch in der gesellschaftlichen Umwelt, in der er lebt, zu Wirklichkeiten werden.« Und in Reaktion auf ihm zugeschickte Briefe und Artikel, die sich zwar von der Vernichtung der Juden distanzieren, aber doch deren »Andersheit« betonen, spitzt er seine Definition − unter allgemeinem Beifall des Parlaments − noch einmal zu: »Demokrat ist man dann, wenn man gerade dem, der als ›Anderer‹ empfunden wird, den Raum mitschaffen will, in dem er sich nach seinen Vorstellungen von sich selber frei entfalten kann.«
Das konservative Projekt einer »innerdeutschen Integration« wird von Schmid nicht unmittelbar kritisiert. Die von kommunistischen Abgeordneten in der ersten Legislaturperiode häufig vorgetragene Forderung nach einer radikalen Entnazifizierung, der Entfernung aller NS-Belasteten aus öffentlichen Ämtern und die Übertragung des Wiederaufbaus der Republik an Widerstandskämpfer, wird von ihm nicht aufgegriffen. Schmid will die ehemaligen Parteigänger des Dritten Reiches von der Zugehörigkeit zur neuen Demokratie nicht von vornherein ausschließen. Nur soll diese Integration der totalitären Vergangenheit in die demokratische Gegenwart nicht in der − den Konservativen vorschwebenden − Gestalt einer gnädigen Diskretion der Demokraten gegenüber den ehemaligen Nazis vollzogen werden, sondern dadurch, »daß einer öffentlich zum Ausdruck bringt: er ist sich bewußt, daß er durch sein Denken, sein Tun und Reden objektiv die Drachensaat mitgesät hat; und er muß durch die Tat beweisen − das Bekennen ist auch eine Tat −, daß er heute als ein Gewandelter mithilft, in diesem Staat und durch diesen Staat zu verwirklichen, was die Würde des Menschen ausmacht.«
Doch mit der öffentlichen Sühne der ehemaligen Parteigänger des Nationalsozialismus ist für Schmid das gestörte Verhältnis der westdeutschen Gesellschaft zur eigenen Vergangenheit noch nicht wieder in Ordnung gebracht. Hinzukommen müßte die kritische Selbstprüfung der gegenwärtigen Demokraten. Die ihm vorschwebende Utopie einer tatsächlich »bewältigten« deutschen Vergangenheit umreißt er mit einem Zitat, das er Eva Reichmanns Buch Flucht in den Haß entnommen hat: »Wir waren bequem und gleichgültig. Der Wille zur Freiheit lebte nicht in uns, und wir wußten nicht mehr, was Recht ist. Wir fühlen, daß unser Leben verarmt ist, weil wir unsere jüdischen Mitbürger entbehren: wir vermissen sie als Anreger im Geistigen und Wirtschaftlichen, als Menschen, die schon dadurch, daß sie wie wir und doch andersartig waren, uns eine ständige Mahnung hätten bedeuten sollen zum Fortschritt in der Gestaltung menschlicher Beziehungen, zur Rechtlichkeit und Menschlichkeit. Wir haben die Mahnung damals nicht gehört zu unserer Schande und zu unserem Schaden. Daß wir sie nicht mehr in unserer Mitte hören dürfen, beklagen wir als schmerzlichen Verlust.« Und diesem Zitat fügt Carlo Schmid dann noch hinzu: »Der Tag, an dem in solchen Aussagen die Gedanken der Mehrheit aller Deutschen zutreffend wiedergegeben werden, würde die Zuversicht begründen, daß sie von der Krankheit des Hasses genesen sind. (Lebhafter Beifall).«
Für Carlo Schmid gibt es also einen Zusammenhang zwischen der demokratischen Unreife der (West-)Deutschen und ihrer Unfähigkeit, moralisch nachzuvollziehen, was ihr Staat in einem politisch-rechtlichen Sinne längst getan hatte, nämlich die Verantwortung für das Erbe des Nationalsozialismus zu übernehmen. Es sollte noch gut ein Jahrzehnt dauern, bis Willy Brandt vor dem Mahnmal des Warschauer Gettos niederkniete. Sein Kniefall war freilich eine stumme Geste. Jeder Deutsche mochte in diese Geste hineindeuten, was er wollte. Erst 25 Jahre später wurde es möglich, daß Bundespräsident Weizsäcker − zur vierzigsten Wiederkehr des Tages der deutschen Kapitulation − mit der Autorität seines Amtes die Schuld der Deutschen stellvertretend annahm.
Wenn ich eine Schuld annehme, rechne ich die schuldhafte Handlung mir als Subjekt zu. Sie abzulehnen, läuft darauf hinaus, mich selbst als Zurechnungssubjekt zu leugnen. Die Berufung auf den Befehlsnotstand oder die im Parlament sehr häufige anonymisierend-existentialisierende Rede vom »Schicksal, in das man verwickelt gewesen« sei, sind gute Beispiele für diesen inneren Zusammenhang von Schuldabwehr und Subjektverleugnung. Nicht nur in der Wahrnehmung ihrer Mitsubjekte, sondern auch in der Wahrnehmung ihrer selbst ist eine Person nur in dem Maße imstande, autonom in die Zukunft hinein zu handeln, wie sie die aktuellen Folgen früherer Handlungen verantwortungsvoll übernimmt.1
Dieser elementare Zusammenhang von Schuldverleugnung und Autonomieverlust ist in prägnanter Weise in der Anerkennungsphilosophie des frühen Hegel und in Freuds Theorie der Psychoanalyse reflektiert worden. Bei Hegel wird durch die verbrecherische Tat nicht nur der sittliche Zusammenhang der Gemeinschaft zerrissen. Weil die schuldig gewordene Person sich zu einer mündigen nur durch die Teilhabe an dieser Sittlichkeit überhaupt erst gebildet hat, weil sie diese sozusagen in sich selbst nachbildet, hat sie durch die Tat auch sich selbst zerrissen. In Freuds Modell des psychischen Apparates steht das Ich im Spannungsfeld zwischen Triebnatur und den einsozialisierten Ansprüchen des Gewissens. Handlungsfähig ist das Ich in dem Maße, wie es ihm gelingt, diese konkurrierenden Ansprüche souverän zu vermitteln. Im Fall einer schweren Schuld gerät das Ich so sehr unter den Druck des strafenden Überichs, daß seine Handlungssouveränität beeinträchtigt wird.
Die kollektive Identität der Nachkriegsdeutschen war durch ihre Unfähigkeit zur Schuldakzeptanz oder auch durch die objektive Schwierigkeit, eine so große Schuld anzunehmen, nachhaltig gestört. Doch weil die Nachkriegsdeutschen und ihre politischen Repräsentanten nicht umhin konnten, in schwierigen Situationen der weiterlaufenden Geschichte auf das orientierende Potential irgendeiner kollektiven Identität zurückzugreifen, bedienten sie sich eines widersprüchlichen Musters erborgter Identitäten. Wer unter dieser Perspektive die die Nazivergangenheit Deutschlands betreffenden Bundestagsdebatten der fünfziger bis siebziger Jahre durchliest, ist immer wieder verblüfft von der anscheinend unübersteigbaren Schwierigkeit, in der ersten Person Plural (»wir haben das getan«) von den »im deutschen Namen« begangenen Menschheitsverbrechen zu sprechen. Weil die Nachkriegsdeutschen außerstande waren, sich als Täter, das heißt als verantwortliches Subjekt ihrer eigenen Geschichte, zu begreifen, identifizierten sie sich in der öffentlichen Reflexion dieser Vergangenheit geradezu zwanghaft entweder mit den Siegern oder den Opfern des Krieges. Dieses Muster der heteronomen Identifizierung finden wir sowohl bei soziologisch befragten wie bei klinisch untersuchten Individuen. Am ersten Jahrestag der Eröffnung des Bundestags spricht Adenauer zum Beispiel von Deutschland ausschließlich in Opferkategorien: »Deutschland ist zerstampft«, »es liegt am Boden«, es war »in einen tiefen Abgrund gestürzt«. In diesen Jahren entsteht ein rhetorisch-rituelles Muster, das bis in unsere Tage reicht. Noch in der Gestaltung des Mahnmals an der Neuen Wache in Berlin im Winter 1993 finden wir das obsessive Bemühen wieder, die Täter in einer vorgeblichen existentiellen Gemeinsamkeit mit ihren Opfern verschwinden zu lassen. Nicht weniger verbreitet ist das Muster, sich in die Position der Sieger des Krieges zu versetzen. Die Figuren des westdeutschen Antitotalitarismus und des ostdeutschen Antifaschismus prägten über vier Jahrzehnte lang das Bewußtsein ganzer Generationen: Ost und West gemeinsam war das Muster einer heteronomen Selbstidentifikation als »siegreicher Verlierer«.
Es kann nicht zufällig sein, daß dieses eigentümliche Muster der heteronomen Selbstidentifikation der Deutschen als »Opfer« und als »siegreiche Verlierer« erst nach dem Ende der deutschen Teilung, besonders in den Tagen des zweiten Golfkrieges reflexiv greifbar wurde.2 Obwohl die Deutschen gar nicht unmittelbar in den Krieg verwickelt waren, schlugen die Wogen der öffentlichen Erregung höher als sogar im unmittelbar bedrohten Israel. Vielen Diagnostikern ist sofort aufgefallen, daß die Ereignisse am Golf den Deutschen eine äußere Leinwand oder eine Bühne für ein Drama boten, das sich in ihrer Seele offenbar schon seit Jahrzehnten abspielte. Dies wurde offenkundig in den zahllosen und fast immer abwegigen Parallelen, die zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Golfkrieg gezogen wurden. Der genannte Typus der heteronomen Opferidentifikation dominierte das Bewußtsein der Pazifisten: Feministinnen weigerten sich öffentlich, »wieder Trümmerfrauen« zu sein, das Neue Deutschland berichtete ganz im Stil des Völkischen Beobachters von »angloamerikanischen Bombergeschwadern, die ihre tödliche Last abladen«; auf zahllosen von Jugendlichen hoch gehaltenen Schildern wurde »Bagdad« zu »Dresden«. Das Bewußtsein der Bellizisten hingegen war vielfach okkupiert von der heteronomen Identifikation mit den »Siegern« des Zweiten Weltkrieges. Hans Magnus Enzensbergers suggestive Parallele zwischen Saddam Hussein und Hitler bot vielen die Chance, ein längst bereitliegendes und nur im Kontext der eigenen Geschichte verständliches Reaktionsmuster auf ein Ereignis zu projizieren, das sachlich damit wenig zu tun hatte.
Jene mit Hegel und Freud skizzierte Selbstlähmung eines individuellen Subjekts, das seine Schuld nicht anzunehmen vermag, äußerte sich bei den Deutschen in Gestalt einer moralischen Souveränitätseinbuße. Die in den Parlamentsakten gut dokumentierte Unfähigkeit ihrer politischen Repräsentanten zur stellvertretenden Schuldübernahme beeinträchtigte zugleich ihre demokratische Kultur. Gerade in den ersten Jahrzehnten unterentwickelt war jene von Carlo Schmid angesprochene Tugend einer inklusiven Demokratie, die darin besteht, das Bürgerrecht des Anderen im politischen Raum zu ertragen. Die von den Besatzungsmächten verfügte politische Souveränitätsbeschränkung hatte somit ihr Gegenstück in einem moralischen Souveränitätsmangel der Deutschen und ihrer repräsentativen politischen Elite. Die historische Parallelität beider Souveränitätsbeschränkungen kam mit der deutschen Vereinigung an ihr Ende. Während die staatsrechtlichen Beschränkungen der Bundesrepublik Deutschland aufgehoben wurden, dauert der moralische Souveränitätsmangel − in einer historisch veränderten Form − fort. Und diese Ungleichzeitigkeit ist das Schlüsselproblem bei der Neuorientierung deutscher Politik nach der Vereinigung. Alle Kontroversen über die neue Rolle Deutschlands in der Welt, etwa in der Frage der Einsätze »out of area« oder der Neujustierung der Außenpolitik, lassen sich in ihrem normativen Kern auf das Schema eines alternativen Umgangs mit dieser Ungleichzeitigkeit bringen. Während die einen nach der Wiedergewinnung der politischen Souveränität nicht mehr den Sinn von spezifisch deutschen Skrupeln im Gebrauch dieser Souveränität einsehen, verlangen die anderen − im Namen des noch fortdauernden moralischen Souveränitätsmangels − eine freiwillig erbrachte Selbstbeschränkung in der Außen- und Militärpolitik.
Die Feststellung dieses Zusammenhangs zwischen der Unreife der demokratischen Kultur der Deutschen und ihrer Unfähigkeit eines angemessenen öffentlichen Umgangs mit der Schuld an Menschheitsverbrechen schließt Ralph Giordanos These von der »zweiten Schuld« nicht ein. Ich frage mich, ob es den politischen Repräsentanten in den fünfziger oder sechziger Jahren überhaupt in einer authentischen Weise möglich gewesen wäre, die kollektive Schuld anzunehmen. Anders gefragt: Könnte man sich die Weizsäcker- Rede schon am 8. Mai 1955 vorstellen? Die Psychoanalyse lehrt uns, daß dem schuldbeladenen Subjekt die moralische Akzeptanz der Schuld nicht einfach zu Gebote steht. Die Fähigkeit zur Schuldannahme wird begrenzt durch die Größe der Schuld und durch den Zeitraum, der für eine angemessene Sühne veranschlagt wird. Warum hätte die Schuld, und sei es nur die indirekte Mitschuld an der ungeheuerlichen Tat der fabrikmäßigen Vernichtung unzähliger Menschen schon innerhalb weniger Jahre Gegenstand eines bewußten subjektiven Schuldgefühls sein können? Woher hätten bei denen, die selbst biographisch der Tätergeneration angehörten, die authentischen Motive zur Schuldannahme kommen sollen und die symbolischen Formen ihrer öffentlichen Artikulation? Zugänglich wird die Schuld erst den nachkommenden Generationen, die sich zwar familialer und nationaler Herkunft nach der Tätergeneration verwandt fühlen, aber zugleich keinen biographisch zu verantwortenden Anteil an deren Schuldzusammenhangmehr haben. Nur so würde auch die paradoxe Dynamik der öffentlichen Beschäftigung mit den Hypotheken der nationalsozialistischen Vergangenheit verstehbar. Nicht nur an den hier zu Rate gezogenen Protokollen des Bundestages, sondern auch anhand anderer Dokumente der Zeitgeschichte, besonders psychoanalytischer Berichte, gewinnt man den Eindruck, daß die öffentliche Aufmerksamkeit für das, was in Auschwitz geschah, mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu-, statt abnimmt. Offenkundig ist das Projekt einer solchen Schuldannahme einzig in der Form einer äußerst konflikthaften Kooperation mehrerer Generationen möglich.
Niemand freilich hätte die diagnostische Kompetenz und moralische Autorität festzustellen, wann jener von Eva Reichmann visionär antizipierte Zeitpunkt einer gelungenen Schuldübernahme überhaupt eintritt. Heute jedenfalls wäre es völlig absurd, den bei weiten Kreisen der Bevölkerung in Gang gekommenen Prozeß des Wachstums an moralischer Souveränität gegenüber der nationalsozialistischen Vergangenheit unter Hinweis auf die wiedergewonnene staatliche Souveränität für überflüssig zu erklären. Wenn die konservativen Politiker der frühen Nachkriegszeit Angst davor hatten, die öffentliche Schuldreflexion zu forcieren, hatten sie immerhin ein empirisches Argument auf ihrer Seite. Sie standen vor der paradoxen Aufgabe, im Rahmen eines politischen Systems, das als demokratisches von den Mentalitäten seiner Bürger nicht vollends abstrahieren konnte, eine Bevölkerung zu integrieren, die in ihrer großen Mehrheit ein antidemokratisches System gestützt hatte. Weil die Tätergeneration allmählich ausstirbt und die mentale Verankerung der Demokratie bei nachwachsenden Generationen hoch ist, vermag ich das neuerdings vor allem von Wolfgang Schäuble beschworene Risiko des Zukunftsverlustes bei der öffentlichen Vergegenwärtigung der deutschen Schuld nicht zu erkennen.
Erinnerung
Die skizzierte Dynamik einer erst nach Generationen einsetzenden, vielfach unbewußten Auseinandersetzung mit der Schuld der Deutschen heißt nun überhaupt nicht, daß die nachfaschistische Politikergeneration die ihr vorausgehende Epoche schlicht verschwiegen hätte. Dies gilt schon gar nicht für die politischen Eliten der DDR. Für sie war die öffentliche Erinnerung der Opfer des kommunistischen Widerstandes die Grundlage einer staatlich gepflegten antifaschistischen Zivilreligion. Und in einem zwar schwächeren Sinne und zu einem späteren Zeitpunkt gehörte auch für die politischen Eliten Westdeutschlands die kritische Bezugnahme auf die nationalsozialistische Vergangenheit zum festen Repertoire der politischen Rhetorik. Zunächst war es nur der stumme Zwang des Kalenders. Der 30. Januar, der 8. Mai, der 17. Juni, der 20. Juli boten die zeitlichen Vorgaben für eine kommemorative Liturgie, der sich die Parlamentarier im Laufe der Jahre immer deutlicher unterwarfen. Aber die objektive Nötigung, sich diesem Kalenderzwang zu beugen, hatte sich ergeben aus der Rechtsnachfolgerschaft, in die die Bundesrepublik gegenüber dem Deutschen Reich eingetreten war. Nicht nur bei den großen Debatten im Bundestag anläßlich der Wiedergutmachung für Israel, der Entschädigung für Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, der Aufhebung der Verjährungsfrist für NS-Mörder, sondern auch bei den eher ephemeren Anlässen wie der Neufassung des bundesdeutschen Ordensrechts oder des Streits um das niedersächsische Schulrecht ließ sich die Diskussion kaum auf die rechtstechnische Dimension der jeweiligen legislativen Entscheidungsmaterie beschränken. Diese Debatten wurden − meist gegen den Widerstand vieler Abgeordneter − auch zu Auslösern grundsätzlicher politisch-moralischer Diskurse, deren Dynamik sich im Laufe der Jahre immer weniger auf das Parlament beschränken ließ.
Das Problem war also nicht die schlichte Ignoranz der NS-Vergangenheit, sondern der Umstand, daß ihre öffentliche Erinnerung in der DDR und der Bundesrepublik immer schon durch das Prisma der ideologischen Konkurrenz beider Staaten gebrochen war. Beide stritten sich im Kern darum, wer aus der Erfahrung des Nationalsozialismus die richtige Konsequenz gezogen hatte. Die Erinnerung an diese Epoche sollte zwar wachgehalten werden, aber vornehmlich zu dem Zweck, die historische Verantwortung für die deutschen Verbrechen − genauer: für die Fortdauer ihrer Ermöglichungsbedingungen − der jeweils anderen Seite aufzubürden.
Der westdeutschen Strategie, das Erbe des Nationalsozialismus durch eine antitotalitäre »freiheitlich-demokratische Grundordnung« zu bewältigen, setzte die politische Führung der früheren DDR das Konzept einer antifaschistischen Präventivdiktatur entgegen. Für das marxistisch-leninistisch geprägte Selbstverständnis dieser Führungseliten der SED bot die unterstellte historische Kausalbeziehung zwischen Kapitalismus und Nationalsozialismus ein Deutungsschema, das es erlaubte, die historische Verantwortung für die deutschen Menschheitsverbrechen pauschal abzulehnen und sie dem kapitalistisch gebliebenen deutschen Teilstaat aufzubürden. Mit der sozialistischen Transformation war nach diesem Deutungsschema dem Nationalsozialismus die Basis entzogen.
Im Fall der Bundesrepublik vollzog sich die öffentliche Anrufung der nationalsozialistischen Vorgeschichte durchweg im Rahmen einer für politische Kampfzwecke umgeschmiedeten Totalitarismustheorie. Schon in den allerersten Debatten des Bundestags taucht das Argument auf, das dann für fast 25 Jahre zu einem alles erklärender Topos werden sollte. In seiner Sitzung am 23. Februar 1950 diskutiert der Bundestag ein von der FDP eingebrachtes Gesetz zur Beendigung der Entnazifizierung. Schon in dieser frühen Phase findet sich in großer Prägnanz das »antitotalitäre« Argument, womit die politische Klasse der Bundesrepublik sich eine historische Legitimitätskonstruktion zurechtzimmerte: Die »Abwehr des Bolschewismus« erlaubte es, sowohl die Westbindung der neuen Republik zu betonen als auch die historische Kontinuität zur vordemokratischen Kommunismusfeindschaft, war doch der Antikommunismus ein zentrales Element der deutschen Ideologie unter aber auch nach Hitler. Dies erlaubte vielen Konservativen, die Illusion zu nähren, die Deutschen hätten bereits zur westlichen Allianz gehört, als sie Hitlers Kampf gegen Rußland unterstützten. Mit großer Emphase betont der freidemokratische Abgeordnete Euler: »was uns am Herzen liegt, das ist, diese Beendigung der Entnazifizierung zu einer Grundlage des Weststaates werden zu lassen, durch die die neue Demokratie um so besser legitimiert wird, den Kampf gegen jede Art von Totalitarismus in der Zukunft aufzunehmen.« Ein eigentümliches Argument: Durch den Abbruch einer Beschäftigung mit dem eigenen totalitären Erbe soll die deutsche Bevölkerung instand gesetzt werden, »totalitären Bestrebungen jeder Art mit Entschiedenheit entgegenzutreten«. Bis in die siebziger Jahre konnte man kaum einen konservativen oder liberalen Politiker finden, der das Wort »Nationalsozialismus« oder gar »Faschismus« überhaupt in den Mund nahm. Die außerordentlich verbreitete vage Rede von der »totalitären Herrschaft« war letztlich eine nicht ungeschickte semantische Operation: Die eigene nationalsozialistische Vergangenheit wurde hinter dieser deklamatorischen Abkehr vom Totalitarismus abgeschattet, und die gesamte Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die noch gegenwärtige Form des Totalitarismus in Gestalt des Systems jenseits des Eisernen Vorhangs.
Die auf den Nationalsozialismus und Stalinismus bezogene klassische Theorie des Totalitarismus hat nach der Erosion des kommunistischen Imperiums ihre Realitätsgrundlage verloren. Schon für die »liberalisierten« Varianten nachstalinistischer Regimes war die empirische Triftigkeit dieser Theorie angezweifelt worden. Und völlig unbestritten ist, daß jene Theorie zur Entschlüsselung des nachtotalitären Szenarios nichts mehr beizutragen hat. Der Plausibilitätsschwund dieser alten, letztlich antikommunistisch geeichten Totalitarismustheorie betrifft freilich nur seine erklärende Kapazität. Auf fatale Weise fort wirkt die ideologische Funktion, die sie im Rahmen des antikommunistischen Bewußtsein übernommen hatte. Eben weil die deutsche Haftung für den Nationalsozialismus hinter der generalisierenden Formel des Totalitarismus verschwunden war, eben weil man im antikommunistischen Kampf Sühnearbeit für die eigenen Kollektivverbrechen zu leisten behauptete, glaubten jetzt manche mit dem kommunistischen Imperium sei auch die NS-Vergangenheit endgültig zur Geschichte geworden.
Der Antifaschismus des ehemaligen SED-Staates hinterläßt eine ähnliche Hypothek. Die darin ursprünglich angelegte strategische Selektivität der Erinnerung, besonders in Gestalt der Monopolisierung des Opferstatus für den kommunistischen Widerstand, wird in der historischen Dialektik nach der deutschen Vereinigung ihrerseits zum Vehikel des Vergessens. Weil der kommunistische Antifaschismus das Erinnern monopolisiert hatte, könnte er in seinem Sturz das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus mit sich in die Tiefe reißen. Wenn heute in der ehemaligen DDR Aufforderungen zum Gedenken an die Opfer des Naziterrors gelegentlich als SED-Propaganda abgewehrt werden, zeigen sich noch einmal die Spätfolgen dieser infamen Instrumentalisierung einer nur zum Teil erzählten Geschichte.
Hannah Arendt hat das Gebot eines nichtinstrumentellen Umgangs mit der Geschichte der Shoah in eindrucksvoller Schlichtheit formuliert: »Das Höchste, was man erreichen kann, ist zu wissen und auszuhalten, daß es so und nicht anders gewesen ist, und dann zu sehen und abzuwarten, was sich daraus ergibt.« (Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten) Das Gebot einer solchen nichtselektiven, abwartenden und politisch offenen Erinnerung ist durch die Legitimationsfiguren des Antifaschismus und Antitotalitarismus prägnant verletzt worden. Die moralischen Kosten dieser Instrumentalisierung einer grauenvollen Vergangenheit bestanden zum einen in der nur selektiven Kenntnisnahme der Vergangenheit. Sie bestanden darüber hinaus politisch darin, daß die antifaschistischen beziehungsweise antitotalitären Legitimationsmuster verknüpft waren mit spezifischen innerstaatlichen Feinderklärungen. Im Fall der DDR ist die innerstaatliche Abgrenzung vom nichtkommunistischen Lager in derartiger Schärfe praktiziert worden, daß eine Demokratie nicht einmal in Ansätzen entstehen konnte. Aber auch die Bundesrepublik, die sich zwar ohne Zweifel zu einer Demokratie westlichen Typus hat entwickeln können, war in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz mehr mit der Abwehr erfundener Feinde als mit der Öffnung gegenüber möglichen Freunden beschäftigt. Die westdeutsche Demokratie war eben nicht − wie das Modell Nordamerika, an dem sie sich orientierte − die Frucht einer demokratischen Gründung aller Bürger. Auf den Weg kam sie mit den Krücken eines primär antikommunistisch gemeinten Antitotalitarismus. Daraus sind ihr spezifische Haltungsschäden erwachsen. Der penetrante Antikommunismus der Nachkriegszeit hat das demokratische Bewußtsein vieler Linker zugleich mit geschädigt. Die großen politischen Auseinandersetzungen in der alten Bundesrepublik waren in ihrer Tendenz oft wechselseitige symbolische Ausbürgerungsversuche. Konservative Zweifel an der Verfassungstreue linker Kritiker beantworteten diese mit dem Faschismusverdacht.
Das konservative Konzept einer »wehrhaften Demokratie«, dem auf linker Seite die defensive Vorstellung von Demokratie als eines bedrohten Bollwerks entsprach, steht in krassem Widerspruch zu einem modernen Demokratieverständnis. Dieses Verständnis hatte Carlo Schmid in seiner zitierte Rede schon 1960 auf den Begriff gebracht, nämlich daß man Demokrat nur dann ist, wenn man den Bürgern, deren Interessen und Meinungen nicht den eigenen entsprechen, den politischen Raum mitschafft, in dem sie sich nach ihren Vorstellungen entfalten können.
Nation
In seinem berühmten Versuch, den Patriotismus zu rehabilitieren, definiert der Moralphilosoph Alasdair MacIntyre diesen zunächst in provozierender Schlichtheit als »Loyalität gegenüber einer Nation«. Diese Loyalität hat nach MacIntyre notwendig partikularistische Züge. Denn nur die Bürger, die eben diese bestimmte Nationalität innehaben, können dieser Nation gegenüber loyal sein. Damit ergibt sich sofort die Frage nach den Grenzen einer solchen Loyalität. Um dem naheliegenden Verdacht des »right or wrong, my country« zu entgehen, führt MacIntyre eine interessante Unterscheidung an. Er sagt, daß der Patriotismus, der ihm vorschwebt, nicht der jeweiligen Regierung gilt oder dem historisch-politischen Status quo einer Nation, sondern »der Nation, verstanden als ein Projekt«. Der Patriot fühlt sich also nicht der puren Tatsächlichkeit einer Nation verpflichtet, sondern ihrer »Idee« − ähnlich wie man vielleicht seine Liebe zu einer Person an den Vorbehalt bindet, daß diese dem Bild entspreche, das man sich in einer wohlwollenden Einstellung von ihr macht.
Diese Trennung zwischen Nation als historischer Faktizität und Nation als Projekt, so plausibel sie auch als Ausweg aus den Antinomien eines radikalen Kommunitarismus sein mag, ist gleichwohl aus deutscher Sicht schwer zu akzeptieren. Sie erscheint als naiv vor dem Hintergrund der Erfahrung des Totalitarismus. Der Totalitarismus ist definierbar als der Versuch, mit terroristischen Mitteln eine unmittelbare Einheit der Gesellschaft mit sich selbst herzustellen. Nationalsozialismus und Stalinismus unterschieden sich von konkurrierenden Ideologien nicht nur durch ihre spezifische Aggressivität. Totalitär waren sie, weil sie sich die Gesellschaft unterwarfen, um sie gemäß ihrem »Projekt« zu formen. Der totalitäre Gehalt der nationalsozialistischen Ideologie bestand eben darin, daß sie jeglichen Unterschied zwischen der deutschen Nation als Projekt und als Faktizität einebnete. In keinem anderen historisch vergleichbaren Fall waren Nation und Regime so eng miteinander verschränkt wie im nationalsozialistischen Deutschland.3
Regime und Nation waren nicht nur in der Propaganda, sondern auch im Bewußtsein des größten Teils der Bevölkerung ununterscheidbar, und deshalb wäre der Widerstand von 1944 auch dann ein Mißerfolg geworden, wenn er militärisch zunächst Erfolg gehabt hätte. Im Unterschied zum deutschen war der italienische Widerstand gegen den Faschismus vor allem deshalb erfolgreich, weil er imstande war, nationale Werte gegen das Regime Mussolinis zu mobilisieren. In dem Gründungsmythos der »Resistenza«, der zivilen Religion der zweiten italienischen Republik, wurde der Faschismus als Verrat an der Nation stilisiert. Vergleichbares wäre in der unmittelbaren Nachkriegszeit Deutschlands nicht möglich gewesen. Der Nationalsozialismus hatte das Projekt der deutschen Nation so geprägt, daß im Bewußtsein der historisch Beteiligten das eine vom anderen nicht ablösbar war.
Um das Muster dieser Prägung besser zu verstehen, muß der Kern der nationalsozialistischen Ideologie benannt werden: die Trennung von biologisch definierten »Volksgenossen« und fremdvölkischen Reichsfeinden. Das NS-Regime fand seine Opfer entweder außerhalb der Reichsgrenzen, oder es grenzte sie von Geburt an aus. Die besondere Qualität des nationalsozialistischen Terrors, der in Auschwitz kulminierte, war nicht nur der kriminellen Energie seiner Führungsfiguren und der autoritären Folgebereitschaft der Bevölkerung geschuldet, sondern auch einer politischen Kultur, die durch eine extrem exklusive ethnische Definition nationaler Zugehörigkeit geprägt war. Diese ethnische Selbstdefinition der Deutschen hat sich historisch erst relativ spät durchgesetzt, nämlich im Staatsangehörigkeitsrecht von 1913.4
Die dort vorgenommene Definition des deutschen Volkes als einer vorstaatlichen (»völkischen«) Totalität ist seinerzeit gegen den Widerstand der Sozialdemokraten, der Liberalen und des Zentrums beschlossen worden. Ihre theoretische Verdichtung fand sie in der Weimarer Republik in der Staatsrechtslehre Carl Schmitts, die noch heute das Bewußtsein einflußreicher Staatsrechtler der Bundesrepublik prägt. Die in der »Ausscheidung des Nicht-Gleichartigen« konstituierte Nation begründet sich in ihrer puren Faktizität als unentrinnbare Schicksalsgemeinschaft. Wenn nur noch das »Blut« oder eine primordial verstandene Herkunft die Nation definieren, kann es die Spannung von »Projekt« und »Faktizität«, von der MacIntyre spricht, nichtmehr geben. Aufrechterhalten läßt sich diese Chance, die eigene nationale Zugehörigkeit im Lichte ihrer eigenen Idee zu kritisieren, nur in dem Maße, wie in den rechtlich-praktisch wirksamen Begriff der Nation universalistische, sozusagen menschheitliche Momente eingegangen sind.
Die gegenwärtige deutsche Staatsrechtslehre, die mit ihren Kommentaren zur Auslegung des Grundgesetzes, zur Ausländergesetzgebung und zur rechtlichen Ausgestaltung der europäischen Einigung mehr praktisch-politischen Einfluß ausübt als jede andere wissenschaftliche Disziplin, hat mit jener »völkischen« Tradition deutscher Selbstdefinition niemals deutlich gebrochen. Über eine neue Einwanderungspolitik, in der Fragen des politischen Asyls, der Einbürgerung, der Rechtsstellung der hier lebenden Ausländer umfassend geregelt würden, wird zur Zeit viel diskutiert.5
Mit guten Argumenten wird darauf hingewiesen, daß eine neue Einwanderungspolitik den Fakten einer längst existierenden multikulturellen Gesellschaft und den Realitäten der erst noch kommenden armutsbedingten Wanderungsbewegungen Rechnung tragen würde. Und an eine solche neue Politik knüpft sich auch die skeptische Hoffnung auf eine Eindämmung der Ausländerfeindlichkeit. Das ist alles richtig. Aber die Dringlichkeit einer neuen Einwanderungspolitik ergibt sich vor allem aus der Notwendigkeit eines demonstrativen Bruchs mit einer Tradition nationaler Selbstdefinition, die eine (von vielen) Voraussetzungen für den von Deutschen zu verantwortenden Völkermord gewesen ist.
Jenseits der Nation
Viele antifaschistische Intellektuelle der unmittelbaren Nachkriegszeit teilten den Gedanken, die destruktiven Tendenzen der Moderne hätten im Phänomen des deutschen Faschismus eine solche Verdichtung gefunden, daß dieser geradezu als negatives Modell einer guten Gesellschaft tauge. Adorno hat diese Ansicht einmal in der eindrucksvollen Formulierung zusammengefaßt, daß in die Erfahrung von Auschwitz die Spiegelschrift des guten Lebens eingeschrieben sei. Dies freilich ist im Laufe des vergangenen halben Jahrhunderts fragwürdig geworden: die Vorstellung einer aus der Anschauung des nationalsozialistischen Grauens sich unmittelbar ergebenden politischen Evidenz. Viele Jahre mußten vergehen, um der Versuchung zu widerstehen, die faschistische Epoche zum Anlaß einer negativen Sinngebung zu nehmen.
Vielleicht läßt sich erst heute der Gedanke denken und aushalten, daß der Faschismus so falsch war, daß nicht einmal sein Gegenteil richtig ist. Es ist ganz im Sinne dieser Tradition, wenn wir heute angesichts neuer Formen des deutschen Nationalismus − sei es des inszenierten Lobs des Vaterlandes, der wahlkampfstrategischen Instrumentalisierung nationaler Ressentiments und des besoffenen Rufs »Deutschland den Deutschen« − fast in der Form eines bedingten Reflexes nicht umhin können, einen radikal universalistischen Antinationalismus und ein abstraktes Weltbürgertum dagegenzusetzen. Die Pathologie des Nationalismus, für die es nicht nur in der deutschen Geschichte, sondern auch in unserer unmittelbaren Gegenwart viel Anschauungsunterricht gibt, läßt vielfach die nüchterne Frage gar nicht erst aufkommen, welch eine symbolische Funktion die Nation in modernen Gesellschaften haben und ob es für das Festhalten an ihr überhaupt eine sachliche Rechtfertigung geben könnte.
Ich habe den Eindruck, daß die artikulierten nationalistischen Einstellungen auch gar nicht das Problem sind. Im praktischen-politischen Effekt viel wichtiger sind jene eher latenten, auf die Bewohner meines nationalstaatlich umgrenzten Territoriums gerichteten Einstellungen, die es mir zum Beispiel als selbstverständlich erscheinen lassen, daß mein steuerlicher Lohnabzug zur Bewältigung von Flurschäden in der Lausitz und nicht zur Hilfe in einem Hungergebiet im Südsudan ausgegeben wird. Die Frankfurter Kulturdezernentin, die 1990 durch ihr Bekenntnis, daß ihr Mailand näher liege als Leipzig, einen Sturm der Entrüstung entfachte, hatte eben jene Ebene latenter Solidarität getroffen, die auch von Leuten geteilt wird, die sich selbst keineswegs als Nationalisten bezeichnen würden. Die Nation als ein symbolischer Mechanismus der Eingrenzung des Adressatenkreises meiner Solidaritätsbereitschaft nimmt auch jeder gewerkschaftlich organisierte Arbeiter selbstverständlich in Anspruch, ist doch die nationalstaatliche Schließung des Arbeitsmarktes eine unerläßliche Bedingung für das Tarifsystem. Daß sozial erträgliche Arbeitsmärkte nur in territorialer Einfriedung funktionieren können und daß ein auf dem Versicherungsprinzip aufgebautes Sozialsystem ohne eine symbolische Begrenzung des Kreises der Anspruchsberechtigten nicht funktionieren kann, mag uns darüber belehren, daß keine moderne Gesellschaft ohne ein solches solidaritätsgenerierendes und zugleich -schließendes Symbolsystem auskommt. Wer deshalb im Namen eines radikalen Antinationalismus für die kriterienlose Öffnung der Grenzen plädiert, muß zwangsläufig auch die Zwangsbewirtschaftung des Wohnraumes, die Deregulierung des Arbeitsmarktes und die drastische Reduzierung, wenn nicht den Zusammenbruch, des Sozialsystems hinnehmen. Kurzum: Der radikale antinationale Universalismus ist − vom Problem seiner demokratischen Akzeptanz einmal ganz abgesehen − normativ so sympathisch wie politisch-praktisch naiv.
Nun ist die nationale Imprägnierung von Solidarität in den Funktionssystemen moderner Gesellschaften nur die eine Hälfte der Wahrheit. Zunächst richtet sich intensive Solidaritätsbereitschaft auf subnationale Zugehörigkeitsbereiche, auf die unmittelbare lokale Nachbarschaft, die Kommune, die Region. Und zugleich finden wir ein erstaunlich wachsendes Maß an transnationaler Solidarität − zum Beispiel in der Spendenbereitschaft für internationale Hilfsaktionen, in der politischen Unterstützung von Entwicklungspolitik, in der Hinnahme von budgetären Maßnahmen zum Reichtumsausgleich innerhalb der Europäischen Union, in der Aufmerksamkeit für transnational agierende Organisationen wie Amnesty International, Greenpeace und Terre des hommes. Es gibt also durchaus politisch wirksame moralische Motivkomplexe von Bürgern, die schon auf gleicher Augenhöhe mit den realen Verflechtungen der Weltgesellschaft sind. Und es sind eben diese infrastrukturellen Verflechtungen der Weltgesellschaft, die letztlich die Hoffnung nähren, daß eine auf der Fiktion ethnischer Unterschiede basierende nationale Selbstdefinition und Solidaritätslenkung, die von den Deutschen in diesem Jahrhundert auf ihre äußerste, nämlich exterministische Spitze getrieben wurde, ihre motivierende Kraft verlieren könnte.
Ein philosophisch wie politisch gerade erst angedachtes Problem in den multikulturellen Gesellschaften wird sein, für das längst praktizierte widersprüchliche Muster von Exklusion und Inklusion neue und ethisch verantwortbare Formen zu finden. Ethisch zu rechtfertigen werden Formen der Schließung nur in dem Maße sein, wie die Interessen der jeweils Ausgeschlossenen in der sich abschließenden Einheit selbst eine virtuelle Repräsentanz finden. Praktisch vorgebildet sind solche schwierigen Überlegungen in dem politischen Räsonnement von Einwanderungsgesellschaften, die sich immer wieder neu überlegen müssen, welche Kontingente der Weltbevölkerung sie nach welchen Kriterien hereinlassen. Vorgegeben sind solche Kriterien zunächst in der eingeschätzten Funktionsfähigkeit von Sozialsystemen und Arbeitsmärkten, in dem Maß der Anerkennung der politischen Minimalprinzipien, das Neubürgern abverlangt werden soll. Ein weiteres Set von Kriterien ergibt sich aus der Antizipierung besonderer Notlagen von Gruppen, ob sie nun unmittelbar an Leib und Leben gefährdet sind oder in der Integrität ihrer Kultur, oder ob sie unter unerträglicher Armut leiden.
Die Praxis einer solchen reflexiv kontrollierten Inklusion könnte in ferner Zukunft zum Entwicklungsmedium einer Weltgesellschaft werden, die den überkommenen Konnex von Demokratie und Nationalstaat endgültig aufgesprengt hätte. Erst eine solche demokratische Weltgesellschaft wäre die Erfüllung jenes utopischen Anspruchs, der in den menschenrechtlichen Passagen nationaler demokratischer Verfassungen auch angelegt war − des Anspruchs nämlich, sich nicht abzuschließen gegenüber denen, die jetzt noch keine Stimme haben.
FUSSNOTEN & QUELLENANGABEN
- Vgl. dazu LutzWingert, Haben wir moralische Verpflichtungen gegenüber früheren Generationen? In: Babylon, Nr.9, November 1991. ↑
- Vgl. Karsten Stephan, Die Deutschen und der Golfkrieg. In: Gerda Lederer /Peter Schmidt (Hrsg.), Autoritarismus und Gesellschaft. Opladen: Leske + Budrich 1994. ↑
- Vgl. Dan Diner, Die Juden und Europa. In: Babylon, Nr.7, September 1990. ↑
- Vgl. Brun-Otto Bryde,Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg derDemokratietheorie. In: Staatswissenschaften und Staatspraxis, Heft 3, 1994. ↑
- Vgl. beispielsweise Werner Weidenfeld, Zwischen Einwanderungsdruck und Zuwanderungsbedarf. In: Merkur, Nr.536, November 1993. ↑
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