Merkur, Nr. 338, Juli 1976

Hand an sich legen*

von Jean Améry

 

*Unter diesem Titel legt Jean Améry in Kürze einen »Diskurs über den Freitod«
im Ernst Klett Verlag vor. Der Text bringt ein Kapitel daraus.

Ein Wort, von der Sprache der Realität abgezogen, dann von ihr weitergeführt, zuletzt wieder vernachlässigt, so daß es heute schon fast archaischen Charakter hat: Hand an sich legen. Mir ist es freilich immer so überaus eindringend erschienen, durchdringend auch, daß ich es immer noch zu gebrauchen aufgelegt bin, wie abgelebt es auch klinge. Hand an sich legen. Eine fürchterliche suizidäre Handlung fällt mir dabei ein, von der Gabriel Deshaies in seinem 1947 erschienenen Werk »La psychologie du suicide« spricht.

Ein Schmied legte seinen Kopf zwischen die Blöcke eines Schraubstocks und drehte mit der Rechten das Gerät zu, bis der Schädel zerbrach. Von anderen Todesarten — »Todesarten«, hätte nicht dies der Titel des letzten Buches von Ingeborg Bachmann sein sollen? — ähnlich grausamer Art hat ein jeder schon vernommen. Der Mann, der sich mit dem Rasiermesser die Kehle durchschneidet. Der japanische Dichter und Krieger Mishima stößt sich die Spitze seines Säbels in den Bauch, wie das Ritual es befiehlt. Ein Strafgefangener dreht aus seinem Hemd, das er zerreißt, eine Schnur, windet sie um seinen Hals, erhängt sich an den Gitterstäben seiner Zelle. Gewaltsame Todesarten, die Hand wird tatsächlich angelegt. Woran? An einen Körper, der für den Suizidanten Teil des Ich ist. Von diesen beiden, dem Ich und dem Körper, alsogleich. Sie sind eins und sind zweierlei. Objekt des Suizidärs und des Suizidanten und Subjekt, als solches unüberschreitbar, wenn auch vulnerabel und vernichtbar. Kein Zweifel, daß der den Freitod Suchende zu beiden, die Einheit und Zweiheit sind, ein besonderes Verhältnis haben muß — vielleicht würde die Psychologie es ein »narzißtisches« nennen. Hier stehen wir vor dem nackten Faktum, daß ein Ich und ein Körper zerstört werden — vom gleichen Ich, demselben Körper.

Die Beziehung von Körper und Ich ist vielleicht der mysteriöseste Komplex unserer gelebten Existenz oder, wenn man es lieber will: unserer Subjektivität oder unseres Für-sich-Seins. Wir sind unseres Leibes nicht gewahr im Alltag. Er ist unserem In-der-Welt-Sein das, als was Sartre ihn bezeichnete: »le négligé«, »le passé sous silence«, vernachlässigt, man spricht kaum von ihm, denkt seiner nicht. Eingeschlossen ist der Leib in ein Ich, das seinerseits wieder draußen ist, anderswo, im Raum der Welt, wo es sich »nichtet«, sein Projekt zu verwirklichen. Wir sind unser Körper: wir haben ihn nicht. Er ist das Andere, ist Außenwelt, gewiß. Ebenso gewiß aber wird er uns als Fremd-Körper erst dann bewußt, wenn wir ihn mit den Augen der Anderen sehen (also etwa: auf wissenschaftlichem Wege uns über seine Funktionen informieren) oder wenn er uns Last wird. Doch noch in diesem Fall, wenn wir zum Beispiel vor Schmerzen »aus der Haut fahren möchten«, ist er feindlich und eigen zugleich: die Haut, deren wir uns entledigen, die wir abwerfen wollen, ist ja immer noch unsere, ist Teil des Ich. »Le négligé« ist der Leib nur dann, wenn er uns Welt vermittelt. Im Hochsprung ist er Luft und Fliegen; beim Skilauf wird er zu staubendem Schnee und eisigem Wind.

Darf man sagen, wir seien im Alltag, dem körperlich lastlosen, wenn wir eilig voranlaufen, wenn unser Arm den Auto-Schalthebel zu seiner Fortsetzung macht, unserem Leib entfremdet? Vielleicht. Da aber ein Ent-fremden ein Bei-sich-gewesen-Sein voraussetzt, was nicht unter allen Umständen der Fall ist, sprechen wir besser von Noch-nicht-Besitzen unseres Körpers. Er trägt uns, ein stummer Knecht, der auf leisen Sohlen verschwindet, wenn sein Dienst getan ist und wir in Schlaf fallen. Der Knecht revoltiert, wenn wir krank werden. Dann erfaßt uns Wut gegen ihn, beziehungsweise gegen den uns schmerzhaft kränkenden Teil. Und wir antworten. Der »verdammte Zeh« wird zum persönlichen Widersacher, von dem wir aufbegehrend verlangen, daß er uns »in Ruhe lasse«. Gleichwohl, der Zeh ist unser: wir wünschen nicht, daß man ihn amputiere, wollen ihn nur wieder »passer sous silence«. Selbst der Zahn, der uns in seiner spröden Materialität neurologisch gesprochen fremder ist als der Zeh — ich muß mir den verfluchten Zahn ziehen lassen, der mich quält, sagt man — wird im Moment der Extraktion und noch eine Weile danach etwas bestürzend Eigenes, dessen Nicht-Dasein, für das die Lücke zeugt, unser Ich herabmindert. Wir sind »weniger« nach der Extraktion, wir schämen uns der Lücke, und dies aus weit tieferen als bloß ästhetischen Gründen.

Aber geht es denn um einen Zahn, um einen Zeh, geht es sogar um Arm und Bein? Nein, leider: es geht, wenn wir Hand an uns legen, um den ganzen Körper, der Gestalt und Träger unseres Ich war, Fremdes und Eigenes, »le passé sous silence«, von dem aber fürderhin nicht nur wir nicht reden werden (denn wir werden nicht mehr da sein), das vielmehr selbst nicht mehr spricht, da keiner da ist, der seine Stimme zu hören vermöchte. Er wird zur Sache unter den Händen der Ärzte, die obduzieren, der Leichenträger, die ihn in die Grube fahren lassen. So kommt es, daß wir ihn, noch ehe wir unmittelbar vor dem Absprung stehen, mit nie zuvor erreichter Intimität wahrnehmen.

Eine besondere Rolle spielt hierbei der Kopf. Ich stehe oft auf dem Balkon eines sechzehnten Stockwerkes, steige dabei übers Gitter (erfreulicherweise bin ich vollkommen schwindelfrei), halte meinen Körper, den nur noch die Linke an die Eisenbarre klammert, weit hinaus ins Leere und starre in die Tiefe. Ich brauche nur loszulassen. Wie wird mein Körper hinabstürzen? In eleganten Korkenzieherdrehungen, wie ich sie bei Kunstschwimmern oft bewunderte? Oder wie ein Stein? Kopf abwärts, so bilde ich mir ein, und nehme in der Imagination das Zerschmettern des Schädels auf dem Asphalt voraus. Oder Ertrinken, irgendwo an der Nordseeküste. Wasser an den Beinen, das langsam steigt, zur Brust, über sie hinaus, an die Lippen. Der Kopf wird noch eine Weile oberhalb der Wellen bleiben wollen, voll bis zum Zerspringen von gurgelnder Flutenmusik. Bis er verschwindet, und was die Leute dann an den Strand ziehen, ist eine Sache, une chose, kein »Ertrunkener«, sondern ein Etwas, das mit Mensch und Ich nichts mehr zu tun hat. Die Guillotine: déjà le couperet tombe. Das Abhauen des Kopfes ist die drastischste Vorführung der Vernichtung. Den Kopf habe ich auch im Sinne, wenn ich daran denke, daß ich nur sehr mittelbar Hand an mich lege, wenn ich Tabletten schlucke, die nun den Schlaf wirklich zu des Todes Zwillingsbruder machten. Wird mein Kopf über den Bettrand hängen? Werden die Augen aufgerissen sein? Wie immer: mit des Kopfes definitiver Verdinglichung werde auch ich zum Ding. Und all dies, wohlvermerkt, hat keinen Bezug zum Wissen darum, daß der Kopf Sitz ist meines Cortex. Es ist ein Grundelement der Ich-Erfahrung, von dem ich spreche. Kein Zufall, daß Schläge auf den Kopf als die schmachvollste aller Erniedrigungen gelten. (Es ist bekannt, daß man Kinder niemals ins Gesicht schlagen soll.)

Wir wissen von unserem Kopf und dessen Herrscherlichkeit lang, ehe wir die mindeste physiologische Kenntnis besitzen. Ist also er unser Ich? Nicht das gesamte, versteht sich, aber der phänomenal als ranghöchster urerfahrene Teil. Wer auf die Schwelle des Freitodes tritt, führt wie niemals zuvor mit seinem Körper, seinem Kopf, seinem Ich den großen Dialog. Es gibt da viele Stadien, zahllose Gesprächsnuancen, wechselnde Aspekte — viel mehr, als daß ich allen hier gerecht zu werden vermöchte. Weniges denn aus der Fülle. Erwachende Zärtlichkeit zu etwas, das doch abzuschaffen man im Begriffe steht, denn bald, in der Dekomposition, werden ein nicht mehr daseiendes Ich und ein zum Zeug gewordener Leib volleinig sein in der Nichtigkeit — für nichts und nichts. »Trennungsschmerz«, wie Freud es sagt, vor dem Abschied vom Fremd-Eigensten, dem Leib. Hand, die da die andere betastet, so daß Tastendes und Betastetes nicht mehr auseinanderzuhalten sind, sie wird zerfallen — »diese Hand da fällt«, wie es im Gedichte heißt. Noch fühlt sie sich und fühlt die andere. Die Hände streicheln einander, Liebende, die auf einem Provinzbahnhof stehen und im ehernen Getöse einander sagen: Vorbei und nie wieder — aber doch noch miteinander sind. Arme, Beine, das Geschlecht, wie werden sie aussehen in den Phasen der Auflösung? Noch sind sie da, fremd und ureigen, verachtet, verworfen schon, geliebt noch immer. Hals, den der Strick abwürgen wird: man muß gut zu ihm sein, bevor er nicht mehr Teil ist meines In-der-Welt-Seins, vielmehr nur noch in der Welt ist: der Welt der anderen, unverlierbare Materie des Weltganzen, diesem aber, das sich selbst nicht kennt, vollkommen gleichgültig.

Die Zärtlichkeit zum eigenen Körper, dem man schon abgeschworen hat, da doch das Ich, das er trug, nicht länger bestehen darf, ist von fernher der Masturbation verwandt. Gleich dieser bildet sie einen circulus. Die Linien, die nach draußen führten, auf Gegenstände trafen, auf andere Leiber, ihre Finalität hatten, sind alle rundgebogen und münden ineinander in sinnlosem Kreise, der sinnloser Tat entspricht. »Durch die menschliche Realität allein gibt es eine Welt«, sagt Sartre. Hier aber ist die noch seiende menschliche Realität ganz auf sich selber gestellt, hat auf die Welt verzichtet, so daß es also dahin kommt, daß man fragen muß: Ist es noch menschliche Realität, die da zärtlich umgeht mit ihrer Körperhaftigkeit? Auch hier gilt die unaufhörlich und monoton durch diese Meditationen sich ziehende Antwort: ja und nein. Sie ist menschliche Realität, da ja der Körper immer noch sich selber im Ich erfühlt, sei es in Wut (vor dem Durchschneiden der Gurgel), sei es im Trennungsschmerz, wenn der sanfte Schlaftod gewählt wird, den die chemische Industrie uns möglich macht. Sie ist es nicht mehr, wo noch ein Blick fällt hinein in die Welt, nach welcher unser Bewußtsein doch aufbrechen sollte, die aber im nächsten Augenblick fortgeworfen wird wie ein schäbges Gewand, womit dann sie und das Ich, welches die Welt anforderte und das sie in sich aufnahm, so wie, umgekehrt, das Ich von der Welt empfangen wurde, zu jenem Ende kommen, das beiden vom Anbeginn her als Gesetz vorgeschrieben war. Die Masturbation endigt ohne Orgasmus. Der Suizidant wird des Suchens nach seinem Körper müde. Die Hände streicheln einander nicht mehr, der Zug, der einen Liebenden dem anderen entführt, ist schon abgefahren, grell ertönte ein Pfiff. Der Zurückbleibende ist allein: ein Ich.

Und dieses konstituiert sich unermüdlich bis zum letzten Augenblick, auch wenn es nicht mehr als intentionales Bewußtsein sich nach seinen eigenen Möglichkeiten hin überschreitet; es sieht ja eben solche Möglichkeiten nicht mehr und ist nur noch bei sich. Was aber heißt das? Doch wohl: daß es — schon halb aus der Welt, ihr schon feindselig, sein eigenes Projekt schon abmeldend, sich setzt und wieder setzt. Ich bin; ich werde nicht sein, aber ich bin. Bin was? Bin Ich. Wer aber bin ich? Ich. (Und noch immer eine ganze Welt, die freilich zukunftslos und abgelebt ist, deren Schatten aber noch fliehend auftauchen: ein Kind im Park, blind und verwildert in des Haschens Hast, ein Kuß dem Knaben in einem nächtlichen Park gewährt und gegeben; Ausfahrt aus dem Yellowstone-Park, im Rücken den »Roaring Mountain«; aber alles schon ausgewaschen, gebleicht von der Zeit, die es im Hui hinter sich brachte.)

Wer bin ich? Der Leib, der auch schon entgleitet. Präziser noch: das Antlitz, das Leib ist und zugleich mehr als das. Es sucht, wenn einer Hand an sich legt, sich im Spiegel. (Leute, die sich erschießen, werden häufig vor Spiegeln in ihrem Blute aufgefunden.) Findet sich als Antlitz: Augen, die nun zu Vieren angestrengt gegeneinander starren, ein Mund, verzerrt von Angst. Das Gesicht, das sich begegnet, hat noch nicht das Ich. Das Ich hat im Gesicht noch nicht sich selber. Etwas wie Grauen steigt auf, das von der im Suizidär aufgestauten Angst sich unterscheidet. Wenn nämlich einer sich sagt: Das bin also ich. Wieso bin ich das? Es stellt auch im Alltag sich ein, kann übrigens kaum je durch willentliche Entscheidung herbeigerufen werden. Sobald es sich ereignet, hat es den Charakter des Absturzes. Das schauende, vom Spiegelbild gebannte Ich fällt von Klippe zu Klippe, eine jede ist wieder ein Ich, gibt aber keinen Halt, so daß der Sturz erst endigt, sobald der Mensch aufatmend, und doch auch wieder mit der Vermutung, mm sei er ärmer geworden, habe sich durch Ungeschick einer Kostbarkeit begeben, in den Werktag zurückkehrt.

Dem Suizidär freilich bringt seine Verfassung — Weltekel, Klaustrophobie infolge der gegeneinander rückenden vier Wände, Schädelgehämmer an diese — solcherlei Spiegelfechterei jedenfalls und immer bedrängend nahe. Denn nun ist es ja so, daß das Ich, wo immer es sich verberge und was es sei — »Bündel von Empfindungen« oder immanente Erscheinungsform des transzendentalen Subjekts — am Ende seiner selbst steht. Es hat die Welt verneint und mit ihr sich selber: es muß sich abschaffen und verspürt sich halb schon als Gewesenes, Verwesendes. Da versucht es ein letztes Mal zu sich zu gelangen.

Vier Augen starren, zwei Münder verziehen sich in grausamem Hohn oder großem Weh. Dem Ich, das in solchen Momenten nicht mehr Körper ist und kaum noch In-der-Welt-Sein, jedenfalls nicht mehr In-die-Welt-Schreiten, wird bange: es liebt sich momentweise, hätschelt das, was es war, will nicht glauben, es habe seine Sache gar so schlecht gemacht, um auf so unrühmliche Weise zu verschwinden. Aber da verliert es sich schon, gibt sich auf, richtet sich rückwärts, lauter Phasen zu, die es überwunden hat, wendet sich an ein bleiches Schattensein, das nicht mehr ist. Alles Bewußtsein, heißt es, sei Bewußtsein von etwas. Verliert das Ich des Suizidärs sich an seine Erinnerungen, ist es Bewußtsein eben dieser. Reines Bewußtsein seiner selbst war es vordem, im Sturz; der hatte schon etwas von Masturbation und Tod.

Etwas von Tod, welche Harmlosigkeit! Denn jetzt steht der Tod ja selber als äußerste Irreversibilität vor dem Suizidär, dem Suizidanten — es ist das Endergebnis, exitus letalis oder Rettung, hier fast ohne Belang — jetzt ist der Tod als Selbsttötung die Frage, vor der als Abiturient des Seins und Nichtseins ein Mensch sich zu bewähren hat. Nichts soll abgeschrieben sein von dem, was ich über das Grauen oder Grausen der vergeblichen Ich-Suche soeben vorbrachte. Der Schrecken ist groß in jedem Falle, auch dann, wenn er nicht Teil ist der Vorbereitungen zum Suizid. Wird dieser aber ins Werk gesetzt, dann ist das Entsetzen vor der Leere, ist der horror vacui angesichts des Rätsels Ich wohl scheußlich präsent, wird aber eingeschlungen von der baren Todesangst, dem ganz außerpersönlichen, verzweifelten Widerstreben biologischer Natur. Wir sind allemal vor dem Suizid das quäkende Ferkel, das man zur Schlachtbank zerrt. Gurgelndes Wasser, in dem wir ertrinken. Der Griff mit der Linken, die Kehle zu spannen, während die Rechte das Rasiermesser ansetzt. Aufschmettern des Kopfes auf dem Asphalt. Würgen des Stricks um unseren Hals. Brennen und Detonation des Schusses an unserer Schläfe. Was aber wieder nicht heißt, es könnte nicht zugleich, wenn wir Hand an uns legen, wenn unser Ich sich im Selbstauslöschen verliert und sich — vielleicht zum erstenmal — total verwirklicht, ein nie zuvor gekanntes Glücksgefühl da sein. Nicht länger müssen wir unser je und je versteinertes Sein »nichten«, indem wir aus uns treten und handelnd Welt werden. Der Ekel, bei Sartre Ekel vor dem Sein, das sich nicht zu »nichten« versteht, sich also nicht in Permanenz aufhebt, um ad infinitum aufzugehen in der Welt — dieser Ekel kann auch ganz gegenteilig verstanden werden, und zwar: als Widerwillen vor der Anstrengung des ex-sistere. Einfacher ausgedrückt: wenn erst der Abiturient sich sagt, es geht jetzt ohnehin alles schief, aber mich wird es nicht mehr betreffen, ich pfeife auf die Schule und auf das Leben, für das man angeblich sich in ihr abplackt, dann zieht ein gewisser Friede in sein Gemüt ein. Ein Friede freilich, in dem Angst steckt: biologische Angst, Angst vor dem äußersten Trennungsschmerz, Angst auch davor, niemals mehr Angst zu haben. Aber Friede nun wieder doch, die kontradiktorische Grundverfassung des Menschen, das ambivalente Sowohl-als-auch begleiten ihn bis ans Todeslager.

Man fragt und ich frage mich selber, ob über den Ekel vor dem Existieren hinaus es eine allgemeinere Hypothese geben könne, die Bereitschaft zum Freitod, der frei ist, ich wiederhole es, auch noch unter den unerträglichsten Zwängen zu erfassen.

Immer noch befinden wir uns hier außerhalb des Raumes der Psychologie, aber unvermeidlicherweise muß diese eindringen in die Beschreibung von Befindlichkeiten, die zwar phänomenaler, gleichwohl aber psychischer Natur sind, so wie die Phänomenologie meiner festen Überzeugung nach ihren Ursprung in den psychischen Verfassungen der Phänomenologen hat: Husserl, Sartre, Merleau-Ponty waren introspektiv gerichtete Geister, und was sie zutage förderten, war die durch Reflexionskanäle geleitete und dort geläuterte Erkenntnis eigenpsychischer Verfassung. Es ist, da doch nun einmal die Psychologie, auch wenn wir ihr nicht den kleinen Finger reichen wollen, sich eindrängt in diese Untersuchung, nur selbstverständlich, daß wir beim Nachdenken über Freitod und Tod schlechthin auf Freud stoßen und seine umstrittene Idee, auf die mit wenigen Ausnahmen seine Nachfahren sich nicht einließen, ja deren Hypothese seinerzeit etwelches Befremden im Lager der psychoanalytischen Orthodoxie ausgelöst hat: auf den Todestrieb.

Man weiß es weitum: der Todestrieb ist für Freud das, was den lebenserhaltenden Trieben zuwiderläuft, was auf Zerstörung, Selbst- und Fremdzerstörung hinausläuft. »Unsere Auffassung«, schreibt Freud in »Jenseits des Lustprinzips«, »war von Anfang an eine dualistische und sie ist es heute schärfer denn zuvor, seitdem wir die Gegensätze nicht mehr Ich- und Sexualtriebe, sondern Lebens- und Todestriebe benennen.« — Muß ich sagen, daß mir dies wohl erklingt im Ohr, daß dieser Dualismus ganz dem entspricht — fürs erste jedenfalls — was ich die Urkontradiktion des Lebens genannt habe; daß mir denn der Todestrieb, von dem die neuere Psychoanalyse kaum noch hören will, brauchbar erscheint als Oberbegriff, dem meine Spekulation über den Ekel vor dem ex-sistere unterzuordnen wäre? Mir scheint, man habe des bei der Niederschrift von »Jenseits des Lustprinzips« 67jährigen Freud erspekulierte Hypothese vernachlässigt: Schließlich gibt es den Freitod, der bündig Zeugnis abzulegen scheint für ihre Gültigkeit. Freilich, ich mache Vorbehalte, ich zweifle, versuche auch, auf eigene Hand zu ergänzen. So wird schon die Wortkoppelung Todes-Trieb mir zur schwierigen Frage. Ein Trieb treibt niemals ins Leere, stößt uns im Gegenteil in die tropisch wuchernde Fülle des Seins. Er ist grosso modo der Schopenhauersche ›Wille‹, Lebenswille, Wille, das Ich auszudehnen in die Welt hinein, Wille ganz einfach, zu sein. Im Falle des Freitodes aber und des ihm voraufgehenden, ja vielleicht ihn bedingenden Ekels wird eben das Sein, nach dem der Trieb uns treibt, negiert. Man hat — es war der Freud-Schüler Eduardo Weiss — den Todestrieb des Meisters auch »Destrudo« genannt, mit wohlgefunden latinisierendem Terminus. Aber noch destruktiver Furor und Aggression sind deutlich Elemente des Lebens. Wir aber haben es mit dem Tode zu tun: und dieser fegt noch die letzten Trümmerreste nach dem Zerstörungsakt hinweg in seiner todbleichen Nichtigkeit.

Ich stelle einen Begriff vor, der, wie ich glaube, dem Tatbestand gemäßer ist, widerspreche er möglicherweise einer jeden psychologischen Theorie: Todesneigung. Nehmen wir das Wort zunächst als Hieroglyphe. Neigung ist Hin-Neigung, Hinab-Neigung, da haben wir den Geotropismus, das Zeichen, das auf die Erde hindeutet, der wir gehören. Neigung ist auch Ab-Neigung, dem Leben und dem Sein gegenüber. Es ist eine Haltung oder richtiger: ein Aufgeben der Haltung und in diesem Sinne etwas Passives. Die Todesneigung wird nicht so sehr ausgeformt als vielmehr erlitten, auch wenn das Erleiden Flucht ist vor dem Leid des Lebens. Sie ist konkav, nicht konvex. Aber hat denn nicht die empirische Grundlage, auf der solche Spekulation sich aufbaut, eben im Freitod ihren äußersten Bezugspunkt, einem in hohem Maße aktiven Begebnis? Ich schneide mir die Gurgel durch. Ich springe von der obersten Plattform des Eiffelturms. Ich setze das kalte Revolverrohr an meine Schläfe. Ich horte Schlaftabletten, schreibe Abschiedsbriefe, starte meinen Wagen, um mit ihm an jene Stelle zu gelangen, an der ich durch eine winzige Abdrehung des Volants das Vehikel samt meiner Person in den felsigen Abgrund steuere. Ich knüpfe den Strick, stoße den Schemel mit dem Fuße weg, auf daß ich ins Leere zu hängen komme. Ich schraube gar, wie der Schmied, von dem Deshaies berichtet, mit der Rechten den Schraubstock zu, zwischen dessen Blökken mein Schädel liegt. Sind all diese unerhörten, gewalttätigen Aktionen des Hand-an-sich-Legens nicht unumstößliche Beweise für den Begriff des Triebs und gegen meine sanfte Vorstellung von Neigung?

Ich bin so wenig sicher wie einst wohl Freud es war, als er seine Spekulation zum Mißvergnügen seiner Anhänger öffentlich machte. Die Willensanstrengung zu leugnen, die der Freitod uns abfordert, wäre lächerlich. Nur weiß ich aus eigener Erfahrung und nach Kenntnisnahme einschlägiger Literatur, daß sie vielleicht und trotz des bis zum letzten Moment über unser Bewußtsein hinaus noch wirkenden Lebenstriebes geringer ist, als es der Unbetroffene, sich selber nicht Hinneigende vielleicht meint. Der Freitod ist ja viel mehr als der pure Akt der Selbstabschaffung. Er ist ein langer Prozeß des sich Hinneigens, der Annäherung an die Erde, ein Aufsummieren vieler Ziffern von Demütigungen, welche von der Dignität und Humanität des Suizidärs nicht angenommen werden, er ist — und ich verwende einmal mehr ein leider unübersetzbares französisches Wort — un cheminement, eine Art von Fortschreiten auf einem Wege, der geebnet ist, wer weiß vom Anbeginn her. Irre ich mich nicht, dann ist die Todesneigung eine Erfahrung, die jedermann in sich machen könnte, soferne er nur entschlossen wäre, zu suchen ohn‘ Unterlaß. Sie ist in jeder Art von Resignation enthalten, in jeder Faulheit, jedem Sichgehen-Lassen — denn wer sich gehen läßt, neigt sich bereits freiwillig dorthin, wo letzten Endes sein Platz ist. Dann wäre also der Freitod, entgegen all dem, was ich dreist behauptete, nicht frei? Wäre nur ein Neigen zur eingeborenen Neigung hin? Wäre nichts als die Aufsichnahme der ultimen Unfreiheit, die das Nichtsein ist, und in deren Fesseln wir uns schlagen lassen?

Nicht doch. Die Neigung, sage ich, ist da: aber der Lebenstrieb ist auch da, und wer den Freitod wählt, erkürt etwas, das dem Lebenstrieb gegenüber das Schwächere ist. Er sagt gleichsam: Dem Starken Trutz! — indem er gegen den Lebenstrieb der Todesneigung nachgibt. Und wenn ich sagte, es sei der Weg zum Freitod geebnet vom Anbeginn her, so kann und will das doch nicht heißen, daß nicht auch der Suizidant dem Seins- und Lebenswillen unterläge, von ihm bedingt werde. Einer ißt noch zu Abend, ehe er die gehorteten Tabletten nimmt. Er gibt der tumben biologischen Triebkraft, was sie fordert.

Droben aber, im Hotelzimmer, wo auf seinem Tisch die Abschiedsbriefe liegen samt dem Geld für die Hotelrechnung und den aufgesammelten Barbituraten, neigt er sich hin und läßt sich nicht mehr treiben. Die Erde wird ihn haben, nur anders, als es der Dichter meinte. Der Gedanke, Staub zu sein, ist ebenso schreckhaft wie wohltuend. Ist diese Wohltat des Sterbens Ausdruck eines nach Freud aus dem allgemeinen Wiederholungszwang von Kindern und Neurotikern erschlossenen Verlangens, »zurückzukehren«, zu folgen, wie es wörtlich heißt, »dem belebten Organischen innewohnenden Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustands«? Aber welch eines denn? Das Anorganische, aus dem wir dank eines »Zufallstreffers«, wie Jacques Monod sagt, zu Organismen wurden — dieses Anorganische war kein »Zustand«, den wir auf uns beziehen können. Die nichtbelebte Materie kennt und erfährt keinerlei Art von Zuständlichkeit. Unsere Todesneigung, sofern wir den spekulativen Begriff anwenden dürfen, ist also kein Zurück. Noch weniger ein Voraus. Sie geht nach der Unsituierbarkeit des nichtigen Nicht. — Womit wir wieder hart uns stoßen an den Grenzen der Sprache, die Ausdruck sind der Grenzen des Seins.

Und so viel Umstände werden gemacht, so viel Würde wird bemüht, so viel humaner Stolz geht ein in eine Handlung, die in ihrer Unbeschreiblichkeit auch als sinnlos erscheinen muß! Das Prinzip Nihil ist leer, kein Zweifel, entgegen dem Prinzip Hoffnung, das alle Möglichkeiten des Lebens, des großen, intensiven, reflektierend erlebten, umfaßt. Aber es ist nicht nur leer, sondern auch mächtig, da es doch unser aller eigentliche Finalität ist. Diese Macht, Macht der Leere, der Unsäglichkeit, leere Mächtigkeit, die durch kein Zeichen zu signalisieren, durch keine Spekulation erreichbar ist, mag es schließlich sein, die wir hier versuchsweise, wohl wissend um die Unzulänglichkeit des Wortes, die »Todesneigung« nennen. Ich weiß, es ist einfacher, bloß von einem taedium vitae zu sprechen und dieses aufzulösen in je empirisch feststellbare, dem »Selbstmord«, wie man sagt, voraufgehende Zustände. Konflikte, denen das Subjekt nicht glaubt gewachsen zu sein. »Anomie«, die nach Dürkheim zum Suizid führenden Bedingungen, unter denen das Handeln des Individuums gegenüber der Gesellschaft regellos wird. Alle diese psychologischen Approximationen sind, oft widersprüchlich unter sich, manchmal empirisch wohlgesichert, stets revidierbar und der Revision bedürftig, so daß, wer eine Anzahl suizidologischer Schriften liest, am Ende außer ein paar statistischen Fakten, die aber häufig von anderen dementiert werden, vom Freitod weniger weiß als zuvor. Dennoch ist es gewiß nötig, immer wieder suizidologische Begriffe zu bilden und sie mit dem Totale der Erfahrung zu konfrontieren: die Psychologie ist eine ernsthafte Wissenschaft, der wir beträchtliche Einsichten verdanken, wenn diese auch niemals definitiv und stets nur Sache der Gesellschaft, nicht des Subjekts sind.

Wer also lieber vom taedium vitae spricht als von einer Todesneigung, dem kann man schwer entgegentreten. Man kann keine überzeugenden Argumente dafür finden, daß der Freitod eine Neigung sei nach einem Nirgendwo. Wer aber aus dem Raum und Hause des unmittelbar Gelebten spricht, wer die Todesneigung als eine donnée immédiate de la conscience verspürt, der wird entgegen der Wissenschaftlichkeit auf seinem Standpunkt beharren. Noch weiß ich ja, wie es war, als ich erwachte nach einem, wie man mir später berichtete, 30stündigen Koma. Ein Gefesselter, von Röhren durchbohrt, schmerzende Geräte, mir angetan zum Zwecke meiner künstlichen Ernährung, an beiden Handgelenken.

Ausgeliefert, preisgegeben ein paar Krankenschwestern, die kamen und gingen, mich wuschen, mein Bett säuberten, mir Thermometer in den Mund einführten, und alles ganz sachlich, als wäre ich schon ein Ding, une chose. Die Erde hatte mich noch nicht: Die Welt hatte mich wieder, und ich hatte eine Welt, in die ich mich pro-jektieren sollte, um selber wieder ganz Welt zu sein. Eine tiefe Bitternis erfüllte mich gegen alle Gutmeinenden, die mir die Schmach angetan. Ich wurde aggressiv. Ich haßte. Und wußte, ich, der ich vordem intimen Umgang gehabt hatte mit Tod und dessen Sonderform, dem Freitod, besser als je zuvor, daß ich dem Tode zugeneigt war und daß die Rettung, deren der Arzt sich rühmte, zum Schlimmsten gehörte, das man mir je zugefügt — und das war nicht wenig. Genug. Ich werde durch ein privates Erlebnis so wenig zu überzeugen vermögen wie durch mein kreisendes Gespräch um den Tod. Übrigens will ich bezeugen eher denn überzeugen.

Dies in allgemeinerer eher als eigener Sache. In einem Leben, das sich schon auf ermüdende Weise lange hinzieht, hört und sieht man ja so vieles, da hat man schließlich die belegsamen case-histories, teuer der wissenschaftlichen Psychologie, nicht nötig: jeder einzelne Fall, der einen aufschauen und angstvoll ins Dunkel horchen ließ, steht für zahlreiche andere. Da war Else G., 38jährig, gerade doppelt so alt wie der, welcher sie liebte und ganz ohne Mütterlichkeit wieder geliebt wurde; den Leuten erschien das lächerlich bis abstoßend, den beiden so natürlich wie der Tod. Sie führte immer eine Menge Veronal-Tabletten mit sich, denn sie hatte sich einen Rezeptblock mit dem Namen eines nichtexistenten Arztes drucken lassen und stellte sich je nach Bedarf selber die Verschreibungen aus. Mehrere Suizid-Versuche wurden ihr nachgesagt, es war ein ihre Person mysteriös umgebendes Gerücht. Die Leute hielten sie für exaltiert und glaubten ihren theatralischen Schlafversenkungen nicht. Meist war die Dosis in der Tat so ungenügend, daß selbst der Laie, der sie keineswegs mehr war, wissen mußte, sie habe zu wenig von dem Zeug verschluckt. Der Freitod war Teil ihrer Lebensführung, sie selber sprach öfters ironisch darüber. Ich traute ihren immer neu durchprobierten Versuchen keine Ernsthaftigkeit zu. Man verlor einander und kam sich ganz aus den Augen.

 

 

Bis eines Tages die Kunde kam, es habe Else G. sich vergiftet: in einem Hotelzimmer in Amsterdam habe man sie tot aufgefunden. Amsterdam, zugig-neblige Wasser- und Totenstadt, zum Sterben als Kulisse wohlgewählt, besser als Venedig. — Einmal werde ich es tun, hatte die Frau stets gesagt, ungewissen Tonfalls mit schmalem, spöttischem Lächeln; nun hatte dies auf einmal den Hintergrund der Amsterdamer Wirklichkeit. Suizidologen sagen, es sei ein schwerer Irrtum, nicht ernst zu nehmen, was ein Suizidär unernst hinsagt. Der Freitod sei ein hartnäckiger Lebensbegleiter — ein Kavalier in Schwarz mit dem bleichen Antlitz des Hauffschen »Mann im Monde«. (Das sagen die Suizidologen nicht mehr, es wäre nicht seriös.) Da ich selber aber so unseriös bin, wie Else G. es bis zu dem Moment war, wo sie die Dosis der Tabletten entgegen ihrer Gewohnheit ums Dreifache erhöhte, rede ich zügellos vom schwarzangetanen totenbleichen Begleiter: er sei Sinnbild, sinnendes Bild, zum Sinnen verleitendes Bild der Todesneigung, von der ich als Hypothese nicht ablassen will, und belaufe sich immerhin die Ziffer der Voll-Suizidanten nur auf rund die schmächtige Eins zur majoritären Wucht der Zehntausend, die der Schnitter abmäht. Und nebenhin: die Ziffern sagen so gut wie nichts, denn erstens ist der nachmals »gerettete« Suizidär oft im Augenblick des Aktes todernster Suizidant, so daß also die Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen, die ich selbst im Gefolge der Suizidologen zu treffen mich genötigt sah, eine recht willkürliche; und zweitens gibt es die also benannten »Grauzonen«, in denen sich die verschämten Suizidäre tummeln, die, eingeschüchtert von der Logik des Lebens und der lebenserhaltenden Gesellschaft, so tun, als wären sie’s nicht gewesen.

Wer die Aura des arterhaltenden Selbstschutzes durchbricht und der Todesneigung nachgibt, sei es, daß der échec ihn brutal überwältigte und ihm gleichsam sagte: Du bist ein Nichts, so sei denn endlich nicht; sei es, daß er den ultimen échec jedweden Daseins erkannt hat und Hand an sich legen will, eigene, ehe Hand — Krebs-Hand, Infarkt-Hand, Diabetes-Hand etc. — an ihn gelegt wird. Wer also sich hingibt und abgibt, wird es auf je durch äußere Umstände bedingte Weise tun. Der Offizier, dem es an die Ehre ging am Spieltisch oder bei einem blöden Wortwechsel, wird zur Schußwaffe greifen. Sie ist seine Sache, er kennt ihre Mechanismen, ihr Klicken ist ihm vertraut, wie der Leib einer Geliebten. Wer nahe der Nordseeküste wohnt, wird vielleicht aufrecht in die Wasser schreiten, er weiß, daß zur Flut-Zeit seine Schwimmkunst ohnehin nicht aufkommen kann gegen die Gewalt des sich bäumenden Meereskörpers. Arzt und Apotheker werden Gift nehmen. Wer im 16. Stock eines Hochhauses wohnt, muß in Versuchung kommen: die Absturztiefe, die er vordem kaum wahrnahm, denn sein Blick war weit hinausgegangen ins Land, wird nun als Magnet seines Beugens und Neigens und nun Hinabneigens zu seinem sinnlosen Eigen. Sogar die schreckliche Todesart des Schmieds mit seinem Schädel zwischen pressenden Eisenblöcken wird nun verständlich: er hat immer an diesem Werkzeug gearbeitet, so sei es Zeug des letzten Werkes. Entscheidend ist für sie alle, die sich Erhängenden, Erschießenden, Giftschluckenden, Abspringenden, Wasserschreitenden, Pulsadern sich öffnenden, die Todesneigung, die logisch dem empörten Lebensekel wie dem nachgebenden taedium vitae übergeordnet ist.

Bleiben jene, welche überhaupt nicht verzeichnet sind, ja nicht einmal hypothetisch in den Grauzonen angesiedelt werden dürfen: sie lassen sich sterben, ohne Widerspruch, wie einst die wankenden »Muselmänner« der KZ’s, die viel zu schwach waren, als daß sie noch an den elektrisch geladenen Draht zu laufen die Kraft gehabt hätten, oder sie leben so, daß sie ihr Zum-Tode-Sein akzelerieren. Bei diesem Arbeitstempo müssen Sie zugrunde gehen, sagt der Arzt, ich warne Sie, es ist Zeit, auszuspannen. Davon aber ist keine Bede, im Gegenteil, die Zügel, die das Leben des Mannes abwürgen, werden noch strenger angezogen. Und was dachte Sartre, als er während der Niederschrift der »Kritik der dialektischen Vernunft« bis zu 25 Corydran-Tabletten am Tage nahm? Oh nein, nicht an den Tod, es wäre ja der Widerspruch zu seiner Lehre gewesen. Er dachte an sein Werk, mit dem er hinausschritt in die Welt, Welt einsammelte, Welt schuf. Aber vielleicht dachte es in ihm an den Tod, vielleicht neigte er sich, während er auszuschreiten meinte. Wer weiß. Wer weiß von den vielen, die entgegen ärztlichem Rat, ja wider jedwede einfache Lebensvernunft so leben, daß sie die Stunden raffen, um schneller dahingerafft zu werden? Der Kaufmann, der die Nächte verkürzt und tags die Erregungen, die er zu vermeiden hätte, gerade sucht, arbeitet sich zu Tode, »für sein Geschäft«, »für seine Familie«, wie es heißt. Der Schriftsteller, der sein Denkwerkzeug, den Kopf zerstört, indem er zur Arbeit mit Alkohol und stimulierenden Tabletten sich peitscht, sein Herz kettenrauchend vernichtet, vollzieht das lebenslogisch Widersinnige »für sein Werk« — ein paar Kollegen sagen nach seinem Tode achtungsvoll, er sei auf dem Felde der Schriftsteller-Ehre gestorben, »für sein Werk«. Unmöglich, es ist klar, sie alle unter die Suizidanten zu zählen. Nicht einmal als Suizidäre möchte ich sie bezeichnen. Nur glaube ich, daß es nicht seine volle Richtigkeit hat mit der Aufopferung »fürs Werk«, »für die Familie«, so wie es vielleicht nicht stimmig ist, wenn wir die Märtyrer (»der Freiheit«, »des Glaubens«, »des Vaterlandes«, »der guten Sache«) so einfach hinnehmen, wie die Geschichte sie uns darreicht. Eher votiere ich dafür, daß wir auch in obskuren Fällen die Hypothese der Todesneigung heranziehen, der sie nachgaben, während sie für die Welt Helden waren oder auch die berühmten »an beiden Enden brennenden Kerzen«.

Eines allerdings unterscheidet mit der Schärfe des Rasiermessers die schweigenden Quasi-Suizidäre, die sich »zu Tode rackern«, wie auch die Helden und Märtyrer vom echten Suizidär und dem Suizidanten: sie kennen alle den Moment vor dem Ansprung nicht in seiner vollen Dichtigkeit und die Freiwilligkeit ihres Todes ist stets nur eine halbe. Der kettenrauchende Schriftsteller ist nicht sicher, daß tatsächlich in kürzester Frist der Tod ihn antreten wird — und außerdem ist die Kürze dieser Frist, selbst bei Annahme, daß man sie zeitlich erfasse (»Es kann nicht länger dauern als noch ein Jahr, sechs, drei Monate«), nicht im voraus erlebbar. Der Held muß nicht unbedingt von der feindlichen Kugel getroffen werden, wenn er im Angriff auf einen Panzer offensichtlich dem Tod in die Arme läuft. Der Märtyrer kann aufgespart werden — der Suizidant aber stirbt aus eigenem Entschluß. Gnade könnte er nur selbst sich gewähren, und sobald er sie abweist, ist keine Instanz mehr da, die ihn unfrei sprechen kann: zum Leben hin.

Nun gibt es, wie vielfältige Lebenserfahrungen und die Suizidologie uns lehren, sehr wohl den »Ordal-Selbstmord«, jenen Freitod also, in dem gleichsam ein Gottesurteil angerufen wird: der Suizidär wählt eine Todesart — vorzüglich Einnahme von Schlaftabletten — bei welcher ihm ein Türspalt offen steht, so daß die anderen dann die Tür aufreißen können, ihn zurückzuholen ins Leben. Else G. nahm häufig Veronal-Tabletten zu sich, deren Menge so dosiert war, daß die Wahrscheinlichkeit des exitus mit Variablen quantitativ bestimmbar war. Sie gönnte dem Leben bis zu 70 % Chance, ihr Akt war ein Spiel mit dem Geschick, bis zum Augenblick, wo sie beschloß, die Sache definitiv abzumachen. Mir scheint nur, daß selbst der Ordal-Suizid, sofern es sich nicht um eine deutlich erkennbare theatralische Inszenierung zu Erpressungszwecken handelt, so daß also der Begriff des Suizids, beziehungsweise des Suizid-Versuches überhaupt jegliche Berechtigung verliert und zurückgenommen werden muß, in seiner Freiwilligkeit und Dignität sich abhebt vom schweigenden Suizid, dem Sich-dahin-gehen-Lassen, sowie auch vom Märtyrertod.

Wer Hand an sich legt, ist grundsätzlich ein anderer als der, welcher sich dem Willen der anderen preisgibt: mit diesem geschieht etwas, jener handelt von sich aus. Er ist es, der die Frist setzt, er kann nicht auf rettende Schickungen vertrauen. Nach den letzten Selbstgesprächen, die vielleicht vor dem Spiegel stattfinden, wo er seinem schon abgeurteilten Ich nachjagt, ohne es einzufangen, nur um es noch zu erlegen, kommt unerbittlich der Augenblick, der frei gewählte, an dem er Hand an sich legt.

Etwas noch Unheimlicheres als die Hatz nach dem Ich tritt hier in vielerlei Gestalt ihn an: die Zeit. Um neun Uhr abends soll es geschehen — (die meisten Suizide ereignen sich nach der Statistik in den Abend- und frühen Nachtstunden). Um neun Uhr, jetzt ist es sieben, zweimal sechzig Minuten zu je sechzig Sekunden also, der Sekundenzeiger trottet unermüdlich, schon ist eine Minute vergangen, zwei, drei, fünf, fünfzehn gingen dahin, man kann die Uhr zerschlagen, nicht aber das leise Ticken der reinen Zeit abstellen. Und in der Zeit, die noch verbleibt — es kann sich um Stunden handeln, aber auch nur um Minuten, die einer sich noch gönnt —, wird die Zeit als solche verspürt.

Man trägt sie in sich, es ist ja nur bedingt wahr, was Freud sagt, es kenne das Unbewußte keine Zeit, reihe Ereignisse auf ohne chronologische Ordnung, mische sie, kehre sie um. Das Zeitvergehen ist immer präsent: im Bewußtsein ohnedies, in einem metaphorischen Innenraum, der tiefer gelagert ist als alles Unbewußte, tickt sie gleichfalls. Denn wenn es wahr ist, daß das Ich Welt ist und Raum, in die es sich wirft und entwirft, so ist nicht weniger wahr, daß es auch Zeit ist: diese ist unablöslicher verklammert mit dem Subjekt als der Raum, in den es schreitet, um zugleich Ich und Welt zu werden. Es ist der Körper, der sie verspürt. Sie war, diese Körper-Zeit, stets zugleich relativ und absolut irreversibel. Relativ: der Herzschlag wiederholte sich unermüdlich, ein Atemzug folgte auf den anderen, Schlaf und Erwachen lösten einander ab, immer wieder — da konnte man meinen, es würde in alle Ewigkeit so weitergehen.

Durch Jahre hindurch ging jemand sommers an den gleichen Kurort, ein Juli glich dem anderen, ein September sah aus wie derselbe Monat im Vorjahr, das Hotelzimmer, vorsorglich gebucht zur rechten Zeit, war das nämliche. Die relativ irreversible Zeit stellte sich hin, als sei sie keine, als sei sie umkehrbar: 1966 besuchte ich den gleichen Ort an der Nordseeküste wie 1972, die Daten besagen nichts. Und 1978, wenn ich über die gleiche Autobahn nach dem gleichen Ort fahre, wird gewesen sein wie 1966.

Ich wiederhole, es weiß der Körper es besser. Er verzeichnet, ein böse verläßlicher Registrierapparat, nicht nur die Jahre, die Monate und Tage, sondern jeden Herzschlag, keiner ist identisch mit dem vorauf gegangenen. Das Herz nützt mit jedem Pumpenzug sich ab, die Adern, Nieren, Augen verbrauchen sich. In Momenten jähen, unerwarteten Gewahrwerdens der Hin-Fälligkeit, wie jedermann sie erlebt, weiß der Mensch, daß er ein Geschöpf der Zeit ist — da braucht er gar nichts zu kennen von der Entropie. Irgendwann einmal wird die relativ irreversible Zeit, die wir aus dem Alltag kennen, vom Sterbenden als absolut unumkehrbar erfahren. Zeit: Anschauungsform des tief inneren Sinnes! Aber nun ist das Tief innerliche heraufgetaucht, an die Höhe meines Ich. Noch eineinhalb Stunden, eine kleine Ewigkeit. Ein Nichts. Es reden jetzt der Leib und der Geist zugleich, ihr Stimmenrauschen ist hörbar im Räume. Der Körper weiß, er wird in 90 Minuten, Zeit, in der ein Spielfilm normalerweise abrollt, nicht mehr er selber sein. Er wird aufschmettern auf dem Asphalt, wird ausbluten, sein Respirationszentrum wird jählings gelähmt sein oder er wird in einen unruhigen Schlaf fallen, der ihn verwandelt für immerdar. Der Leib begehrt auf, schon jetzt, und wird noch wilder revoltieren, sobald sein Sein ihm entzogen wird. Der Geist — man lasse mir die vereinfachenden Allerweltsbegriffe hingehen, sie drängen sich auf, sobald das Denken an seine Grenzen gerät — der Geist befiehlt. Und bäumt sich seinerseits auf dagegen, daß er aus der Zeit genommen wird, und damit alle Zeit, die in ihm aufgeschichtet ist, verschwindet. Er erinnert so viel, es hat alles zeitlichen Charakter, da doch der Raum, der nicht nur des Körpers Sache, sondern auch seine, des Geistes war, verriegelt werden soll. Es ist der Freitod, der ihm ein Ende setzt, da gibt es kein Entrinnen und keine Hoffnung, denn im Namen der Dignität und als Antwort auf den échec gebietet die geistige Instanz sich selbst ihr Erlöschen. Die absolute Zeit: absolut, da Körper und Geist nun wissen, es würden keine trügerischen Wiederholungen mehr veranstaltet, komprimiert sich auf zwei Ebenen. Das zeitverhaftete Erinnern, Erinnern vergangener Zeiten in gegenwärtiger, rafft seine Fülle immer enger, bis es nur noch ein winziger, sehr schwerer Kern wird, Kern des Ich. So viel geschah ja, und auch im äußerlich banalsten Leben. Ein Schluck Bier, das Brennen der ausgetrockneten Kehle zu löschen nach einer Bergtour. Rei feuchtem Wetter startete der Wagen so schlecht, welcher war es? Der kleine, rote, Modell Anglia, Raujahr 1967. Und nun der dringende Wunsch, zurückzuspringen nach eben diesem Jahr. Es sind gerade die kleinen Ereignisse, die, ganz wie im Traum, ein unbegreifliches Gewicht und zeitliche Ordnung annehmen, jetzt, wo der Prozeß der temporalen Kompression als Last, Geisteslast, Körperlast von Sekunde zu Sekunde unerträglicher wird.

Le temps vécu: noch ist sie da, die gelebte Zeit, wenn auch involviert zur Winzigkeit. Wird aber nicht mehr da sein, denn ihre Irreversibilität wird aktualisiert und konkretisiert, da doch nicht der Tod den Suizidär erjagt, vielmehr von diesem an die Brust gerissen wird, so daß alle Türen verschlossen sind, durch die das Helfende eintreten könnte: wo aber diese Gefahr ist, schrumpft das Rettende ein. Hölderlin. Wann gelesen? Frühe in der Zeit, das präzise Datum wird unwesentlich, das Gefühl, es sei frühe gewesen, sagt genug. Le temps vécu, par Eugene Minkowski. Wann gelesen? Spät. So um 1967. Und das Spät spricht deutlicher, als jegliche Zeitangabe es zu tun vermöchte. So spät ist es, so späte, was werden wird, ich weiß es wohl. Noch eine Stunde? Keine Ewigkeit mehr. Man könnte alles absagen, die schon vorbereiteten Abschiedsbriefe und Anordnungen für die Feuerbestattung vernichten, vor dem Hotel den Wagen starten und es wieder aufnehmen mit dem Raume Welt, sich hinauswerfen. Um neuen échec zu erleiden und noch und noch wieder einen anderen. Nein: hier wird die hochprivate Entropie vollzogen und ins Wahnwitzige beschleunigt. Noch eine Dreiviertelstunde. Die Zeit tickt auf zweierlei Ebenen in zweierlei Klang. Sie ist nun völlig absolut, und aus ihrer Absolutheit wird sie gerissen und zur Nichtzeit gemacht.

Für Heidegger ist die Zeit Sorge, beziehungsweise es enthält das zeitliche »Zu« den Sorge-Charakter des Daseins, Besorgen, Fürsorgen. Wer Hand an sich legt, hat denn, so müßte es wohl sein, »keine Sorge mehr« und damit auch keine Zeit. Demgegenüber aber erfährt er, daß ihm, gerade weil er »keine Zeit hat« — deren Grenzen sind ja schon gesetzt durch den Willen, ein Ende zu machen —, mehr Zeit eignet als je. Mit jedem Vorrücken des Sekundenzeigers wird die Zeit dichter und gewichtiger. Er hat mehr und mehr Zeit, je weniger Zeit ihm das eigene Gebot noch läßt — und hat damit mehr und mehr Ich, dieses aber als ein immer unauflösliches Rätsel; denn, blind und verwildert in des Haschens Hast, weiß er, je enger er es an sich zu pressen sucht, desto weniger damit zu beginnen. Die Zeit lagert im Ich, füllt es aus mit Angst vor des Uhrzeigers Traben, lastet im Körper, der sich ihrer erwehren will, der unbedingt zu sein verlangt, was ihm aber verwehrt wird von eben jenem Geist, der selber dauern möchte und es sich verbot.

Vielleicht ist auch das Keine-Sorge-Haben nur Illusion. Noch zwanzig Minuten. Die Welt ist schließlich auch noch immer da, dürfe sie auch nicht mehr sein. Die Angst ist groß. Schmettern und Krachen. Flutensturz über den Kopf, dessen Mund entgegen des Geistes Gebot vielleicht nach Hilfe schreien wird. Wirkung der Schlaftabletten. Taumeln vom Tisch, auf dem das Besorgte säuberlich angeordnet liegt, zum Bette hin. Man könnte hinfallen, dabei den Telephonhörer vom Apparat reißen, man verfängt sich so leicht in der Schnur.

Und der Nachtportier würde nach dem Rechten sehen. Sirenen, eine Ambulanz, man muß vorsorglich all dem wehren. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der theoretischen Physik haben über das objektive Raum-Zeit-Kontinuum hinaus, sogar jenseits der Thermodynamik, einen Zeitbegriff definiert, nach welchem die Zeit einmal begann — ein Ding, das keiner voll aussinnt. Und viel zu fremd, als daß man klage und sage. Wer Hand an sich legt, ist auf mörderische Weise — »Selbstmord« gut, es komme das widrige Wort für einmal hier zu stehen — Herr sowohl wie Knecht der Zeit, seiner, der einzigen, von der er noch wissen will, denn jetzt befindet er sich schon im Zustand totaler Ipseität. Was schert mich Weib, was schert mich Kind; was scheren mich Physik und objektive Erkenntnis, was schert mich das Geschick einer Welt, die mit mir versinken wird. Die Zeit drängt und preßt sich zusammen in einem Ich, das sich nicht hat. Die Welt als Zeitlichkeit stößt die Welt des Raumes aus der Grube, in der das Ich verborgen ist. Der Hand an sich legt, hat keine Chance mehr, noch anderes zu ergreifen als gestorbene Zeit, anderswo hinzugelangen als zum Trümmerfeld der Eigengeschichtlichkeit, die desto gegenstandsloser ist, je mehr Gegenstände, Ruinen von Gegenständen, sich anhäufen. Diese bilden keinen Widerstand mehr für das Subjekt; es ist nicht mehr gedrängt, sie zu bewältigen. — Und wieviele Minuten noch?

Aber die Würfel sind ja noch nicht gefallen. Vielleicht noch zehn Minuten, die man sich zumißt. Noch ließen sie sich ausdehnen in eine täuschende Ewigkeit hinein. Die süße Lockung des Lebens und seiner Logik umbrandet den schon zum Freitod Entschlossenen bis zur allerletzten Sekunde. Die nekrophile Zärtlichkeit zum Todeskörper läßt leicht sich konvertieren in den erlösenden Entschluß, das Unternehmen abzusagen, so daß Weltzärtlichkeit werde, wo Ekel war und Todesneigung. Noch könnte die absolute Irreversibilität der Zeit relativiert werden: heute wie gestern und vorgestern, morgen wie übermorgen, das Herz würde schlagen, ein Schlag wäre dem anderen trügerisch gleich, ein Erwachen erschiene wie so viele vergangene und ewig künftige. Trick eines Prestidigitateurs, dessen stupende Handfertigkeit vor unseren blöde starrenden Augen das Unmögliche zu vollbringen scheint.

Mais déjà le couperet va tomber, d’un instant á l‘autre, der Henker feiert nicht. Es geht jetzt nur noch um das, was wir Dignität nennen: der Suizidär ist entschlossen, Suizidant zu sein, und nicht höchst lächerlicherweise sich noch einmal anheimzugeben dem entfremdenden Alltag oder der Weisheit der Psychologen oder der Angehörigen, die zwar erleichtert aufatmen, ein verzeihendes Lächeln kaum werden unterdrücken können. Und so geschehe und geschieht es, auf welche Weise immer. Die Dignität setzt die Leuchtbojen. Versagen wäre die unverzeihlichste und unverlierbarste Schmach, ein weiterer échec, der eine Reihe noch anderer einleiten müßte. Der Sekundenzeiger trottet unermüdlich der Minute der Wahrheit zu. Der Akt wird ins Werk gesetzt. Es wird kein anderer außerhalb des in sich eingeschlossenen, seinen Kern vielleicht zum Ende findenden Ich ihn zu ermessen vermögen. Weltliche Objektivität wird zu sezieren versuchen: es wird nur totes Gewebe sein, das geübte Hände und Hirne so emsig wie müßig zerfasern.