Merkur, Nr. 189, November 1963
Eine psychoanalytische Konstruktion des Fortschritts
von Jürgen Habermas
In ihren Buchprospekten geben die Verlage häufig einen Verteilerschlüssel an, nach dem die Händler die Kreise potentieller Leser vorsortieren können: etwa Ärzte, Lehrer und Richter werden als Interessenten empfohlen. Ich könnte mir denken, daß im Falle des neuen sozialpsychologischen Werkes von Alexander Mitscherlich (Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Piper 1963) etwa so verfahren worden ist. Aber zum ersten Mal ist mir bei der Lektüre dieses Buches in aller Naivität der Wunsch aufgestiegen, daß unser imaginierter Verteilerschlüssel etwas von der magischen Kraft eines Zauberschlüssels haben möge.
Nicht zufällig bemächtigt sich des Lesers, der den Ernst der verhandelten Sache ermißt, ein Bedürfnis, das der Aufklärung des 18. Jahrhunderts ihren Impuls gegeben haben muß: wenn doch nur die diagnostische Schärfe dieser Einsichten durch massive Verbreitung und kritische Aneignung eine therapeutische Wirksamkeit erlangen könnte; wenn sie doch die Schranken wenigstens porös machen könnte, die dem Geist der Epoche den Zutritt zu sich selbst versperren! Diesen Geist, der weithin unsere Schulen verwaltet, unsere Gerichtshöfe beirrt, unsere Krankenhäuser beherrscht, nennt Mitscherlich den Geist des in Unsichtbarkeit fast schon zurückgetretenen Vaters. In den Machtphantasien kleiner Angestellter hat er sich so festgesetzt wie in der besinnungslosen Praxis der Politiker, die mit Megatoten rechnen, als spielten sie Räuber und Gendarm.
Er kehrt in der groben Idolatrie des starken Mannes ebenso wieder wie in den differenziertesten Rechtfertigungen der Gewalt – gleichviel ob die Wohltat der Zucht, die Unvermeidlichkeit des Krieges, die Notwendigkeit der Todesstrafe, überhaupt die Korrolarien vorenthaltener Mündigkeit aus einer Theologie der Erbsünde oder einer Anthropologie des Mängelwesens, wie waghalsig auch immer, extrapoliert werden. Zu Beginn der dreißiger Jahre konnten die groß angelegten Untersuchungen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung noch unter dem Titel »Autorität und Familie« zusammengefaßt werden; noch vor einer Generation also hatten sich die gesellschaftlichen Strukturen nicht grundsätzlich geändert im Vergleich zu den Verhältnissen um die Jahrhundertwende, unter denen die Patienten Sigmund Freuds aufgewachsen waren und ihre Konflikte ausgebildet und ausgetragen hatten.
Die Autorität des Vaters war bis dahin in den bürgerlichen Kleinfamilien nicht erschüttert; diese durften nach wie vor als Agenturen einer vorwiegend paternistischen Gesellschaft aufgefaßt werden. Sozialpsychologisch waren die Beziehungen von Befehl und Gehorsam auch in den außerfamilialen Bereichen, in der Berufssphäre und im politischen Leben, nach dem Vater-Sohn-Modell eingeübt. Heinrich Mann hat die spezifischen Züge der wilhelminischen Vatergesellschaft vor allem im Habitus der bürgerlichen Akademiker, im Schneid und in den Ängsten von Reserveoffizieren, Gymnasialprofessoren und Juristen festgehalten. Vom Konflikt der Söhne mit den Vätern lebte das ganze expressionistische Theater. Inzwischen muß gerade eine Sozialpsychologie, die von den Erfahrungen der Psychoanalyse belehrt ist, Wandlungen der Vater- Autorität, der gesellschaftlichen Autoritätsverhältnisse insgesamt feststellen. Mitscherlich faßt diesen Strukturwandel mit dem eigentümlich dialektischen Begriff der »Vaterlosigkeit«.
Er knüpft dabei an zwei Tatbestände an. Die Stellung des Vaters wird in demselben Maße, in dem der wachsenden Schicht der abhängig Arbeitenden ökonomische Selbständigkeit und freie Dispositionsbefugnisse versagt sind, auch innerhalb der Familie geschwächt. Zudem verschwindet der Vater, soweit er sich beruflich produziert und sein Können demonstriert, auch aus dem Gesichtskreis der Familie. Stattdessen wächst die Bedeutung anderer Mittelspersonen, etwa der Lehrer. Über das Schulsystem und die Massenmedien wirkt die Gesellschaft immer häufiger über den Kopf des Vaters hinweg auf die Heranwachsenden unmittelbar. An dieser Form der unvermittelten Sozialisierung der Einzelnen durch außerfamiliale Instanzen zeigt sich die Kehrseite des Abbaus väterlicher Autorität.
Einst hatte sie ja die Normen und Sanktionen der Gesellschaft nicht nur umgesetzt, sondern in der Familie als einem privaten Bereich auch gebrochen. Schon Herbert Marcuse hat darauf hingewiesen, daß die Familie, solange sie einen intakten Privatbereich sicherte, nicht nur das Realitätsprinzip verkörperte, sondern auch die Individuen in ihrer Fähigkeit zur Resistenz gegen die öffentliche Macht gestärkt hat. Die erschütterte Autorität innerhalb der Familie setzt deshalb nicht nur Möglichkeiten der Emanzipation frei; zugleich räumt sie auch einer ungebrochenen Sozialisierung der Kinder im Interesse der öffentlichen Macht das Feld erst ein. Mitscherlich macht diese ambivalenten Folgen an den Konfliktlagen der Kinder deutlich, deren Wachstumskrisen sich dadurch verschärfen und verlängern, daß ihr früher Identifikationshunger nicht mehr angemessen gestillt wird: sie erfahren den Vater in seinen Stimmungen, nicht aber in seinen Leistungen, und sind daher weithin vom identifizierenden Beobachten und Lernen ausgeschlossen.
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